Von Sonja Eismann

Mit einer Isetta fährt Ulrike Ottinger 1962 zwanzigjährig alleine aus ihrer Hei­matstadt Konstanz los. Ihr Ziel: Paris – und die große Kunst. Als das winzige Auto unterwegs seinen Geist aufgibt, lässt sie es kurzerhand am Straßenrand stehen, streckt den Daumen raus und steigt in einen Wagen mit fünf gangstermäßig aussehenden Männern ein. Diese Furchtlosigkeit und Neugierde prägen auch die nächsten sie­ben Jahre, in denen Paris ihre Heimatstadt und ihr intellektuelles Zentrum werden soll.

©Ulrike Ottinger: Allen Ginsberg. 1966, Puzzle, Acryl auf Pressspan, 85 × 115 cm, Foto: Francis von Stechow

In der deutschen Exil­Buchhandlung Calligrammes in Paris, in der vor den Nazi ­Bücherverbrennungen gerettete

deutsche Raritäten von Goethe bis 1933 verkauft wurden, trifft Ottinger berühmte Surrea­listen und Dadaisten. Mit französischen Soldaten, die sie bereits während ihrer Stationierung in Konstanz kennengelernt hat, tauscht sie sich über die Grausamkeiten des Algerienkriegs aus. Sie malt Pop-Art­-Bilder, schwärmt von Ethnologen wie Claude Lévi­Strauss und Michel Leiris und erinnert sich an augenöffnende Filmmomente in der Cinémathèque française. Der Horror der französischen Kolonialherrschaft und das „Massaker von Paris“, die blutig niedergeschlagene friedliche Demonstration von FLN­Anhänger*innen am 17. Oktober 1961, finden in Ottingers neuem Film „Paris Calligrammes“ ebenso Platz wie das bis heute stattfindende tägliche Ballett der Straßen­kehrer*innen oder lokale Originale wie der stets in eine Toga gekleidete Bruder von Isadora Duncan, Raymond. Über eine assoziativ fließende Mon­tage von historischen Film­-, Fernseh-­ und Radio­ausschnitten sowie Fotos, Gemälden, Texten und heutigen Straßenszen…