Explosive Nostalgie
Von
Von Sonja Eismann
Mit einer Isetta fährt Ulrike Ottinger 1962 zwanzigjährig alleine aus ihrer Heimatstadt Konstanz los. Ihr Ziel: Paris – und die große Kunst. Als das winzige Auto unterwegs seinen Geist aufgibt, lässt sie es kurzerhand am Straßenrand stehen, streckt den Daumen raus und steigt in einen Wagen mit fünf gangstermäßig aussehenden Männern ein. Diese Furchtlosigkeit und Neugierde prägen auch die nächsten sieben Jahre, in denen Paris ihre Heimatstadt und ihr intellektuelles Zentrum werden soll.
In der deutschen ExilBuchhandlung Calligrammes in Paris, in der vor den Nazi Bücherverbrennungen gerettete
deutsche Raritäten von Goethe bis 1933 verkauft wurden, trifft Ottinger berühmte Surrealisten und Dadaisten. Mit französischen Soldaten, die sie bereits während ihrer Stationierung in Konstanz kennengelernt hat, tauscht sie sich über die Grausamkeiten des Algerienkriegs aus. Sie malt Pop-Art-Bilder, schwärmt von Ethnologen wie Claude LéviStrauss und Michel Leiris und erinnert sich an augenöffnende Filmmomente in der Cinémathèque française. Der Horror der französischen Kolonialherrschaft und das „Massaker von Paris“, die blutig niedergeschlagene friedliche Demonstration von FLNAnhänger*innen am 17. Oktober 1961, finden in Ottingers neuem Film „Paris Calligrammes“ ebenso Platz wie das bis heute stattfindende tägliche Ballett der Straßenkehrer*innen oder lokale Originale wie der stets in eine Toga gekleidete Bruder von Isadora Duncan, Raymond. Über eine assoziativ fließende Montage von historischen Film-, Fernseh- und Radioausschnitten sowie Fotos, Gemälden, Texten und heutigen Straßenszen…