Okay Leute, Hand aufs Herz: Wie wichtig ist euch Sex? Und jenen unter euch, die sagen, nicht sooo wichtig, was heißt das in der Realität? Z. B. in Beziehungen? Ist kein Sex haben oder wenig Sex haben okay, solange ihr euch begehrt fühlt? Könnt ihr euch begehrt fühlen, wenn die andere*n Person*en generell/in der Regel keinen Sex will/wollen/hat/haben? Ich frage das, weil ich oft von Leuten höre, dass für sie Sex keine so große Rolle spielt und es dann am Ende irgendwie doch ein Problem ist, wenn er fehlt. Und ich frage das, weil Sex für mich WIRKLICH keine große Rolle spielt, was jetzt viele Menschen, vor allem einige, mit denen ich geschlafen habe, womöglich überrascht. Leute glauben, wenn sie mich sehen – okay GLAUBTEN, weil jetzt bin ich im Rollstuhl und hab eh keinen Anspruch auf Libido mehr –, also Menschen glaubten, wenn sie mich sahen, dass Sex ein zentrales Thema für mich ist und ich viel davon habe oder zumindest viel davon will. Weil Leute oft Sexy-Sein mit Sex-Wollen verwechseln. Ich muss an dieser Stelle einen kurzen Überblick von der (On-Off-Beziehung) von mir und meinem Körper einfügen, damit das irgendwie Sinn macht.

©Tine Fetz

Nachdem wir (mein Körper und ich) die Pubertät überstanden haben (großes Off!), hatten mein Körper und ich einige Jahre eine ziemlich leidenschaftliche Romanze miteinander. Eine erotische Beziehung (übrigens nicht unbedingt eine sexuelle), phasenweise aber nicht immer eine Liebesbeziehung. Ich hab mich mit meinem Körper nie eins gefühlt – ich weiß gar nicht, ob das überhaupt jemand tut oder ob das nicht auch nur so neoliberales Marketinggewäsch ist –, aber mich dann irgendwann wunderschön in meinem Körper gefühlt. Ich könnte es heute nicht besser in Worte fassen als 2013 in diesem Text, der bis heute mein absoluter Liebling ist.

Das Ding ist, wenn du eine sinnliche Beziehung zu deinem Körper hast, muss das irgendwie anscheinend auch bedeuten, dass du a) eine sexuelle Beziehung mit deinem Körper hast = Masturbation, b) eine sexuelle Beziehungen zu anderen möchtest, c) Sex für dich essenziell ist. Das Absurde ist, dass A phasenweise manchmal vielleicht sogar stimmt, aber selten mit Masturbation zusammenfiel, B für mich schon immer und selbst noch mit 30 unfassbarerer Pressure ist und ich das 296 Tage im Jahr lieber nicht möchte und C einfach falsch ist. In den meisten Phasen meines Lebens hätte ich gut auf Sex verzichten können, wäre es mir sogar lieber gewesen. Aber ich dachte, so ein heißes sinnliches Exemplar von Lesbe wie ich hat Sex zu lieben und zu wollen und zu leben. Und das tat ich. Es machte auch meine Beziehungen einfacher, bis zu dem Punkt, wo der Sex weniger wurde, weil es mir zunehmend schwerer fiel, meinen eigenen inneren Widerstand zu übergehen. Da wurde es dann komplexer, die Situation mit meinen Partner*innen komplizierter. Und das verstehe ich auch, denn damals hätte ich all dies hier keiner Person auf diesem Planten kommunizieren können und bis es die Möglichkeit gibt, dass mein 30-jähriges Ich, das gerade diesen Text schreibt, meinem jüngeren Ich diesen lesen lassen kann, vergehen vermutlich noch ein paar Sci-Fi-Jahre …

Ich hatte also Sex, viel Sex und versteht mich nicht falsch, ich habe nicht gelitten, mich nicht kasteit, alles war konsensual (!!!!!!!x10000) und ich habe auch die Nähe genossen, aber wenn ich damals den Mut gehabt hätte zu wählen, zwischen jemanden im Arm halten/im Arm gehalten werden und Sex, hätte ich in 87 Prozent der Fälle die Arme gewählt. Ich hoffe, alle Menschen meiner Vergangenheit sind jetzt nicht total geschockt oder fühlen sich irgendwie furchtbar. Für fast alle von euch: just warm feelings, I promise! Ich erzähle das alles so daher, übernehme sehr viel Verantwortung. Vielleicht auch, weil die Wahrheit mich traurig macht. Aber ich habe beschlossen, diesen Text an der Beziehungsgeschichte mit meinem Körper entlang zu erzählen, also bisher Sexy Lesbian hat viel Sex weil heiße selbstbewusste Lesben das so machen. Mein Körper und ich – ein sexy Team! Und es hat sich gut verkauft. Glaubt mir! In und außerhalb von Beziehungen.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Und dann kam es 2016 zur ersten großen Trennung zwischen uns beiden. Nach mehreren kleinen Struggles in den Jahren davor mit meinem Körper, fühlte ich mich so verraten wie selten zuvor. Das Vertrauen, die Liebe zwischen meinem Körper und mir, alles war in Trümmern. Nach einer Wirbelsäulen-OP wachte ich auf und mein linker Fuß war komplett, das Bein teilweise gelähmt. Von Sinnlichkeit zu Ohnmacht. Die Texte über meinen Körper waren definitiv über einen anderen Körper als noch wenige Jahre vorher. Zu Anfang war vor allem Frust, Wut, Trauer. Ein Rosenkrieg. An Sex war nicht zu denken. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich vielleicht Rachesex mit einem anderen Körper gehabt. Aber tauschen geht ja nicht. Ich war so unendlich enttäuscht. Und ich bin übrigens bis heute oft wütend. Vielleicht nicht mehr nur auf ihn, aber auf uns.

Später kehrte etwas Ruhe ein. Aber wir waren kein sexy Team mehr. Mein Körper fühlte sich eher an wie meine nervige kleine Schwester, die ich überall mit hinschleppen musste. Ich brauchte doppelt so viel Aufmerksamkeit, um mich und dieses Bein durch Räume zu navigieren, musste früher gehen, weil dieses Bein ins Bett wollte und wenn mich jemand interessiert anlächelte und ich dann irgendwann aufstand, dann war da dieses Bein, das mich blamierte, weil es Faxen machte. Es nervte mich. Ich wollte, dass es weg ging. Wer hat schon Sex mit seiner kleinen Schwester im Raum?

Und dann kam die Versöhnung. Eine freundschaftliche. Aus einer leidenschaftlichen, wilden, erotischen Beziehung ist eine zwar sehr liebevolle, aber platonische geworden. Mein Körper und ich wurden Freunde. Verbündete, die sich manchmal uneinig waren, aber versuchten, am selben Strang zu ziehen. Wir fühlten uns wieder wohler miteinander. Miteinander ist das richtige Wort. Nicht mehr gegeneinander. Was das für Sex bedeutet? Tja … Mit dem, nennen wir ihn der Einfachheit halber mal „neuen Körper“ fiel es mir schwerer, meine Widerstände im Bezug auf Sex zu übersehen oder sehend zu übergehen. Ich hatte mich ja ausgiebig mit seinen Bedürfnissen beschäftigen müssen. Dazu kamen Schmerzen und der Punkt, dass ich das Gefühl hatte, dass ich noch keinen so richtigen Plan habe, wie Sex funktioniert mit nur einem voll funktionstüchtigen Bein. Und dann war da noch was: Mir wurde zum ersten Mal klar, wie viel Druck da ist. Wie viel Druck ich in meinem Beziehung verspürt habe oder mir gemacht habe, Sex zu haben, damit die Beziehung harmonisch und flauschig bleibt, sich mein Gegenüber begehrt und schön fühlt, das Gefühl aufrechtbleibt, dass in der Beziehung alles okay ist, auch wenn andere Sachen schieflagen, ich meinem Bild als sexy, selbstbewusste Lesbe gerecht werde. Und wieder übernehme ich die Verantwortung, weil ich glauben möchte, dass die Wahrheit ist, dass wenn ich gesagt hätte, dass ich vielleicht eigentlich (gerade?) keinen Sex in meinem Leben möchte, dann alles okay gewesen wäre. Aber wir wissen alle, dass das nicht die Wahrheit ist. Gesellschaft lehrt uns, dass Beziehung und Sex zusammengehören und schon allein, dass es jedes Mal ein großes Thema war, wenn Sex weniger in meinen Beziehungen wurde, sagt einiges.

Und dann kam sie, die Beziehung, in der ich mich so safe, so sicher gefühlt habe, dass ich das alles das erste Mal geäußert habe. Es auch mir gegenüber das erste Mal ausgesprochen habe: dass das mit mir und Sex so ne Sache ist, dass ich es einfach brauch, dass es auch okay wäre, wenn ich keinen Sex mehr hätte, dass ich keinen Sex haben muss, damit meine Beziehung harmonisch bleibt oder überhaupt eine Beziehung bleibt, dass es sich zusätzlich super absurd anfühlt mit einem Körper Sex zu haben, mit dem man (aktuell?) eine platonische Beziehung führt (also mein eigener), dass ich (gerade?) in meinem Leben keinen Sex will …
Und ich war so sicher, es wäre einfach okay, und ich weiß, das hätte es auch sein müssen. Und ich würde euch gerne erzählen, wir leben jetzt glücklich bis ans Ende unserer Tage. Aber wir alle sind Kinder dieser Gesellschaft und so läuft es leider nicht. Sex ist ein heikles Thema und kein Sex eben auch. Also gibt es diese Beziehung nicht mehr. Und als wäre das nicht tragisch genug, haben auch mein Körper und ich schon wieder Schluss gemacht. Dieses Mal hatte er recht. Dieses Mal hab ich Scheiße gebaut. Jetzt sitze ich im Rollstuhl und wir sind voll im Drama-Mode. Ich schrei ihn an, er schweigt … Sextechnisch hat das den Vorteil, dass Leute im Rollstuhl offiziell ja sowieso keinen Sex haben. Aber die werden halt auch nicht begehrt. Das ist jetzt auch nicht so geil.

Übrigens Begehren und Sex sind für mich nicht nur zwei unterschiedliche Paar Schuhe sondern wie High Heels und Knäckebrot. Dass ich Menschen begehre, heißt nicht, dass ich Sex will. Dass ich keinen Sex will, heißt nicht, dass ich Menschen nicht begehre …
Ich habe damit begonnen zu sagen, Sex sei für mich nicht so wichtig. Das ist offensichtlich nicht wahr. Sex kann mir sehr wichtig sein, wenn ich möchte, dass er kein Teil meines Lebens ist. Aber in einer Gesellschaft, in der Sex sells, besonders in Beziehungen, fällt das wohl unter das Rückgaberecht und mit der beschädigten Verpackung bin ich vermutlich ohnehin jederzeit ein Garantiefall.

Eure double heart-broken Love-Sex-Drama-Kolumnistin