Von Bahar Sheikh

Zum dritten Mal lädt die Bergen Assembly in die zweitgrößte Stadt in Norwegen, nämlich nach Bergen. Hier bietet ein größtenteils wechselndes Team von Organisator*innen und Kurator*innen im Dreijahresrhythmus für ca. zwei Monate Künstler*innen aus aller Welt eine Plattform. Mit Ausstellungsführungen, Performances, Workshops und Podiumsdiskussion boten die Eröffnungstage vom 05. bis 08. September ein dichtes Rahmenprogramm. Wie die Kurator*innen und Core Group Members betonen, ist das Programm und die Ausstellungen, die auf verschiedene Museen der Stadt verteilt sind, Resultat eines kollektiven Prozesses. FOMO war vorprogrammiert: Um die Angst, etwas zu verpassen und die Überproduktion in der Kultur- und Kunstbranche, ging es auch in diversen Veranstaltungen.

©Bergen Assembly

Das Motto der diesjährigen Ausgabe der Bergen Assembly „Actually, the Dead are not Dead“ bestimmte naturgemäß auch einen Großteil der ausgestellten Kunst und das Rahmenprogramm. Die diesjährige Assembly sei „dem Leben gewidmet“ erklärte Kuratorin Iris Dressler in ihrer Eröffnungsansprache. Das bedeute „Allianzen mit den Toten und denjenigen, die noch nicht leben“, also „Verantwortung zu übernehmen für die Vergangenheit und Zukunft“.
Mit Kämpfen für das Leben sind hier auch Arbeitskämpfe gemeint – z. B. in Südkorea. Eine Fotoreihe von Suntag Noh dokumentiert die Kämpfe von Arbeiter*innen in Südkorea, die zu extrem langen Arbeitszeiten und in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Die Fotografien zeigen die von den Arbeiter*innen gewählten Protestaktionen auf hohen, teilweise gefährlichen Konstruktionen wie Mästen oder Dächern, wo die Protestierenden in einigen Fällen monatelang ausharren. Gegen Arbeitsbedingungen, die auch tödlich sind, wehrt sich auch die Gruppe „Workers’ Families Seeking Justice“ aus der Türkei, die Gerechtigkeit für die Tode ihrer Familienangehörigen fordert, die während der Arbeit ums Leben kamen. Allein im Jahr 2018 verzeichnet die Gruppe rund 1872 arbeitsbedingte Todesfälle. Einige dieser Fälle und den Kampf dafür, dass es für die verantwortlichen Unternehmen juristische Konsequenzen gibt und die Arbeitsbedingungen sich für die lebenden Arbeiter*innen verbessern, dokumentiert der Film „Murder Not Accident“. Der Film zeigt, dass die Morde ein branchenübergreifendes Problem sind: Unter den Toten sind Minen- und Bauarbeiter, Arbeiter*innen in Fabriken, aber auch Mitarbeiter*innen von Serienproduktionen fürs Fernsehen. Während der Eröffnungstage ist nach dem gemeinsamen Filmscreening ein Teil der Gruppe anwesend. Gemeinsam mit der Unterstützer*innengruppe sprechen sie über die Wichtigkeit des Trauerns auf monatlichen Mahnwachen, über nötige Sicherheitsmaßnahmen und verbesserte Arbeitsbedingungen und darüber, dass der sich im Bau befindende Flughafen in Istanbul ein Friedhof ist. Was besonders klar wird in dem Film: Durch das kollektive Trauern, durch die Sichtbarkeit der Trauernden auf Mahnwachen und den Kampf um Gerechtigkeit werden die Toten für die Zuschauer*innen zu mehr als Zahlen.

©Bergen Assembly

Neben dem Nicht-Tod stand auch der nicht normative „rebellische Körper“ im Fokus: mit Künstler*innen wie Lorenza Böttner, die zwar als be_hindert und trans pathologisiert wurde, deren Kunst aber den nicht normativen Körper in den Vordergrund stellt. Neben Fotografien malte die Künstlerin mit ihrem Mund und ihren Füßen nicht normative Körper, die sie, in den Worten des Philosophen und Kurators der Ausstellung Paul B. Preciado nicht nur als begehrenswert darstellt, sondern auch als „begehrend“ oder „voller Begehren“. Ein Werk zeigt etwa den be_hinderten Körper als einen fürsorglichen Körper, der sich um einen Säugling kümmert, also in der Lage zur Reproduktion ist.

Die Veranstaltung „The Parliament of Bodies“ war ebenso dem rebellischen Körper gewidmet, in dem be_hinderte („functionally diverse“) Körper im Mittelpunkt standen. Im brechend vollen Veranstaltungssaal stellten sich verschiedene Künstler*innen/Aktivist*innen nicht die Frage nach „Inklusion“ dieser Körper in die Gesellschaft, sondern eher danach, wie sehr sich die Gesellschaft wegen als abweichend wahrgenommener Realitäten verändern muss. Eva Egermann, Begründerin des „Crip Magazine“, erzählt an diesem Abend vom Zwang im Neoliberalismus, Dinge einfach zu „bewältigen“. Der Chef brauche einem nicht mehr zu sagen, was zu tun sei, denn dieser sei längst internalisiert. „Crip“-sein bedeute hingegen Nichtkonformität, eine Befreiung vom Druck, als „normal“ gelten zu wollen. „Crip“ sei nicht assimilierend – und stolz darauf. Auch in dem Workshop der Feminist Health Care Research Group stellte Inga Zimprich einen Tag zuvor Strategien der feministischen Gesundheitsbewegung in Westberlin der 1970er und 1980er vor und hielt die Teilnehmer*innen dazu an, über ihre eigene Gesundheit, Beschwerden, aber auch kollektive Strategien zu reflektieren. Wieso nicht gemeinsam belastende Dinge angehen, radikale Therapieansätze probieren, feministische Gesundheitschecks machen? Wieso nicht sich umeinander kümmern? Gerade der Kunstbetrieb ist von eigenverantwortlicher Projektarbeit, Hyperflexibilität und prekären Arbeitsverhältnissen geprägt, das zeigte sich auch an den Gesprächen, die im Workshop, aber auch um das „Parliament of Bodies“ herum entstanden.

Neben diesen Themen wurde auch dem europäischen Grenzregime, Kolonialismus in Bezug auf Norwegen, der politischen Geschichte des Flamenco, Suizid, dem „Kapital“ von Karl Marx und vielen weiteren Platz eingeräumt und die Besucher*innen wurden ermutigt, Bezüge zwischen den Exponaten herzustellen. Die Bergen Assembly stellt und beantwortet Fragen zu betrauernswerten Toden und lebenswertem Leben – und ist mit der Auswahl der Themen hochaktuell und positioniert sich ziemlich konsequent an der Schnittstelle von Kunst und Politik.

Die Bergen Assembly läuft noch bis zum 10. November.