„Ich wachse da immer noch rein“
Von
Interview: Hengameh Yaghoobifarah
Transkription und Übersetzung: Marie Serah Ebcinoglu
Identifiziert ihr euch als alt?
Peggy Piesche: Ich identifiziere mich als älter. Meine Berliner Community ist intergenerational, ich fühle mich der Kategorie eher zugehörig als noch vor fünf Jahren. Ich bin 51.
Deborah Moses Sanks: Ich fühle mich auch älter. Ich bin fast siebzig Jahre alt.
Als ihr jünger wart, sagen wir in euren Zwanzigern, habt ihr da über queeres Altern nachgedacht?
DMS: Ich hatte mein Coming-out erst später, in meinen Vierzigern. In meinen Zwanzigern habe ich gar nicht über das Altern nachgedacht. Ich dachte, ich habe so viel Zeit. Ich habe gearbeitet, hatte eine Tochter und wollte meinen Abschluss machen, war also gut beschäftigt. Ich dachte nie, dass ich älter werde – ich dachte, nur meine Tochter wird älter, aber das hat nichts mit mir zu tun. Ich war trotzdem auf Partys und so.

PP: Ich war schon immer eine alte Seele. Ich bin in einem weißen Umfeld aufgewachsen. Als ich zum Verein Adefra (Schwarze Frauen in Deutschland) kam und ältere Schwestern kennenlernte, bekam ich plötzlich eine Vorstellung davon, wie die Zukunft aussehen
könnte. Altern war dann etwas Schönes. Ich bin mit meiner Mutter, meiner Oma und meinen Tanten aufgewachsen, die allesamt diese Angst vor dem Altern hatten. Ich glaube, das ist so ein Ding unter heterosexuellen Frauen. Ab dreißig gilt man als alt.
Deborah, kennst du viele Gleichaltrige?
DMS: In Deutschland bin ich unter meinen Peers altersmäßig ein bisschen einsam.
PP: Ich habe eine Freund*innengruppe, in der wir alle gleichaltrig sind. Meine Wahlfamilie. Wenn wir in intergenerationalen Räumen sind, ist es schön, gemeinsam darüber lachen zu können, dass wir nicht auf dem Boden sitzen wollen, weil wir nicht mehr so leicht aufstehen können. Mit diesen Freund*innen organisiere ich mein Leben, wir unterstützen uns, teilen Ressourcen. Außer Deborah hat keine von uns Kinder.
Sprecht ihr über Themen wie Pflege ohne Kleinfamilie in der Wahlfamilie?
PP: Definitiv. Gerade darüber sprechen wir: Was sind unsere nächsten Schritte? Wo wollen wir in Rente gehen? Wir leben in einer weißen, heteronormativen Gesellschaft. Der Gedanke daran, hier in eine Pflegeeinrichtung zu kommen, fühlt sich schrecklich an. Momentan sehe ich optimistisch in die Zukunft, denn ich stelle sie mir mit meiner Wahlfamilie vor. Wir passen aufeinander auf.
DMS: Wenn Peggy und die anderen in Rente gehen, werde ich in meinen Achtzigern sein. Ich will in keinem Pflegeheim mit weißen Leuten sein. Ich will den Rest meines Lebens in Ruhe leben können. Dort, wo ich einfach Schwarz und queer sein kann. Was mich in Deutschland hält, ist die gute Krankenversicherung. Auf einer einsamen Insel hätte ich sie nicht, da kann ich nicht einfach so zum Arzt gehen.
Katja Kinder: Ja, die Versicherung. Wir müssen über Altenheime reden, ich würde da verrückt werden. Alles ist heteronormativ. Wir haben unser ganzes Leben damit verbracht, Communitys aufzubauen, und dabei nie daran gedacht, wie es wird zu altern. In Berlin wird es immer schwerer, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Unsere Community, die QTBIPOC, hat wahrscheinlich die geringsten finanziellen Mittel. Man muss überlegen, wie man damit umgeht.
Ich habe von einem lesbischen Altenheim in Berlin gehört.
PP: Ich meine, warum sollte ich dort mit alten weißen Lesben einziehen wollen, wenn ich schon jetzt nicht mit jungen weißen Lesben leben will?
KK: Wenn ich einen Wunsch frei hätte, wäre es, ein Haus oder Landstück zu kaufen, wo wir leben können. Wo wir noch aktiv sein können, Seminare veranstalten oder einen Garten bepflanzen können. Um nicht mehr so stark von der Außenwelt beeinflusst zu sein.
Die Frauen, die sich im Alter keine Sorgen um ihre finanzielle Situation machen müssen, sind oft die, die mit Männern verheiratet sind. Die Frage nach Sugar Dykes erübrigt sich, es gibt kaum wohlhabende alte Lesben. Wie macht ihr das?
PP: Ich sehe uns in unserer Wahlfamilie. Wir altern zusammen und sorgen füreinander, wenn wir älter werden. Wir schauen, wo wir leben können. Ich fühle mich nicht von Armut bedroht, aber es war ein hartes Stück Arbeit, um an diesen Punkt zu gelangen. Im Hinterkopf hatte ich schon immer das Gefühl, aufpassen zu müssen, nicht unter der Brücke zu landen. Auf Sugar Dykes können wir uns nicht verlassen, wir sind altersmäßig eher auf der anderen Seite.
KK: Ein interessantes Konzept wäre auch, sich generationsübergreifend zu unterstützen. Ältere Menschen haben tendenziell etwas mehr Ressourcen, jüngere etwas mehr Kraft, um Dinge anzupacken.
Ein weiterer Aspekt von Queerness und Altern ist, dass „Erwachsensein“ als Konzept sehr heteronormativ ist. Wenn du eine Partnerschaft, ein Haus, Kinder und eine Karriere hast, dann bist du erwachsen. Viele queere Menschen erfüllen diese Kriterien nicht und altern trotzdem. Wie würdet ihr „Erwachsensein“ definieren?
PP: Ich wachse da immer noch rein. Ich habe diesen heteronormativen Umgang wirklich seit frühester Zeit gehasst. Es hat sich nicht normal für mich angefühlt. Warum sollte ich nach so etwas streben? Und dennoch ist es so tief in mir selbst verankert. Es hat ewig gedauert zu verarbeiten, wie mein sterbender Großvater mich abgetan hat. Ich war in meinen Vierzigern in den USA, habe an einem College gelehrt, hatte viele Referenzen. Und es hat mich wirklich getroffen. Ich habe mich gefragt, wer ich bin, ohne Familie, ohne Kinder. Ich habe später festgestellt, dass ich mich darüber nicht definieren sollte. Er- wachsen zu sein bedeutet nicht, eine Familie zu gründen. Ich glaube, ich bin nicht hundert Prozent im Reinen damit, aber ich fühle mich sicher in meiner Wahlfamilie und habe weniger das Gefühl, dass es eine Leere in mir gibt und mir etwas fehlt. Mir gefällt der Gedanke an unser kollektives Altern. Aber es lastet schwer auf mir, dass wir keine Rückfall- ebene oder Vorbilder haben. Ich mag den Gedanken, aufs Land zu ziehen, aber da fällt mir auch auf: Dann wären wir ja in Brandenburg. Und du willst wirklich kein Schwarzes, lesbisches, alterndes Kollektiv in Brandenburg sein.
KK: Wer weiß, vielleicht verändern wir die Welt.
DMS: Eher nicht.
PP: Es gibt noch viel zu tun in der Hinsicht. Eine BIPOC-Zukunft zu haben und alt zu werden, bedeutet auch, neue Wege zu bestreiten.
Queerness wird, gerade in Berlin, oft mit Partys, Sex und Drogen verbunden. Was passiert, wenn man nie damit aufhört, erreicht man dann die ewige Jugend?
PP: Ich fange erst jetzt an, auf Partys zu gehen.
Findest du der Lifestyle ist inklusiv für Menschen, die nicht Anfang zwanzig sind?
PP: Ich kann diese Frage nicht wirklich beantworten. Ich gehe nicht auf Partys, wo die Leute unter dreißig Jahre alt sind.
KK: Es ist eine legitime Frage, auch hier nach Alter zu fragen. Wir denken, wenn man jung ist, führt man ein Partyleben, kann man auf Sexpartys gehen und so. Du tust das Gegenteil: Du bist nicht in der Jugend auf diese Partys gegangen, du tust es jetzt. Das ist nicht die Norm. Aber die Normativität ermöglicht es dir nicht einfach, Räume zu finden. Manche Dinge hören nicht einfach ab irgendeinem Alter auf. Aber nicht alle fangen mit 35 Jahren mit Drugs, Sex und Rock ’n’ Roll an, und das lässt doch stark auf heteronormative Vorstellungen vom Partyleben schließen.
Wie war es mit dir, Deborah? Hast du je aufgehört, Teil der Partykultur zu sein?
DMS: Ich habe früher gefeiert und Sex gehabt. Ich habe das alles gemacht, aber jetzt bin ich an einem anderen Punkt in meinem Leben. Ich habe immer noch gern Sex, so ist es nicht. Aber ich war nie auf einer Sexparty. Mir geht es gut mit den Dingen, die ich tue. Ich brauche es nicht, zu feiern, ich brauche es nicht, Drogen zu nehmen. Damit habe ich abgeschlossen. Ich gehe gerne mit meinen Hunden spazieren, höre Musik und habe etwas Zeit für mich. Das reicht mir.
Queere Menschen werden oft falsch eingeschätzt, was ihr Alter angeht. Auch hier greifen die heteronormativen Maßstäbe des „Erwachsenseins“. Passiert euch das auch oft?
DMS: Ja, hier in Deutschland. In den USA nicht. Menschen sehen meine grauen Locks und denken, ich sei in meinen Fünfzigern, was ein Kompliment ist. Aber es geht darum, wie Älterwerden hier für Weiße aussieht.
KK: Es hat auch mit Race zu tun. Mir wurde auch oft gesagt, ich würde jünger aussehen. Gerade als ich gelehrt habe. Menschen sind immer überrascht, wenn ich sage, ich bin 53 Jahre alt. Die Frage nach Alter und Aussehen hat etwas mit Heteronormativität zu tun. Die Leute haben immer gedacht, ich sei ein Mann, wenn ich kurze Haare getragen habe. Ich bewege mich auch anders, nehme mir Raum, das wirkt auf viele ungewöhnlich. Das hängt mit Erwartungen an Alter, Race und Sexualität zusammen.
DMS: Alle denken immer, ich sei ein Mann.
PP: Diese „Komplimente“, über die wir gesprochen haben, sind oft keine. Die Leute duzen mich, auch wenn wir nicht auf einer Ebene sind, dies zu tun. Dieses „Rumkumpeln“ ist nicht unschuldig. Mit meinen kurzen Haaren werde ich immer als Mann angesprochen. Und wenn ich mit jungen Frauen unterwegs bin, wurde ich auch früher schon immer als ihre Mutter angesprochen, das hat mich wirklich getroffen. Gleichzeitig werden junge BIPOC oft nicht als Kinder gesehen. Ihnen wird nicht die gleiche Empathie entge- gengebracht wie anderen.
KK: Rassismus beruht auf einem Mangel an Empathie. Dasselbe trifft auf das Alter zu. Weiße alte Menschen kriegen im Gegenteil zu uns oft mehr Empathie zu spüren. Und ich denke mir dann: „Wieso, du könntest ein Nazi sein.“ Ich stehe auf für ältere Personen, viele BIPOC stehen mittlerweile auf für mich. Ich denke, ich bin jetzt in einem solchen Alter angekommen. Ich sehe das aber nicht als Privileg, sondern als Empathie, die wir in unserer Community füreinander haben. Wir wissen, wie es sich anfühlt, den ganzen Tag auf den Beinen zu sein und nicht ein Lächeln abzubekommen, denn uns wird nicht die gleiche Empathie entgegengebracht. Das extra bisschen Freundlichkeit, das wir füreinander haben, ist Empowerment – fast wie eine Strategie gegen Normativität.
Katja Kinder ist eine Schwarze deutsche Erziehungswissenschaftlerin*. Sie arbeitet als stellvertretende Geschäftsführerin der RAA Berlin und ist Mitbegründerin von Adefra e.V.
Peggy Piesche, 1968 geboren und aufgewachsen in der DDR, ist eine Schwarze deutsche Literaturwissenschaftlerin und transkulturelle Trainerin für kritische Weißseinsreflexion, Intersektionalität, Diversität und Rassismus- und Machtkritik in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Bei Adefra e.V. ist sie seit 1990 aktiv.
Deborah Moses Sanks (*1949 in Washington, D.C.) ist Fotojournalistin. Ihr Interesse an der Dokumentation Schwarzer Akteur*innen ist geprägt von ihren transnationalen Lebens- und Erfahrungsräumen als gender-nonconforming Schwarze Aktivistin.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 05/19.
