Von Juri Wasenmüller

Nur ein kleines Schild hinter einem Eisengittertor weist darauf hin, dass sich in dem grauen Hochhaus eine Schule befindet. Ansonsten könnte man das sechsstöckige Gebäude auch für eine Bauruine halten. Hier, am Bahnhof Chacarita in Buenos Aires, fühlt sich jede Tageszeit nach Rushhour an: Menschen hetzen zur U-Bahn, Straßenverkäufer*innen bieten Zeitungen oder Empanadas aus bunten Kühlboxen an.

Reportage
Aus dem Klassenzimmer fällt der Blick auf die Hochhäuser von Buenos Aires. © Ines-Ripari

Früher befand sich in dem Hochhaus am Bahnhof das administrative Zentrum der argentinischen Eisenbahngesellschaft. Als diese 2011 den Langstreckenverkehr einstellte, wurde das Gebäude besetzt. Noch im gleichen Jahr zog die „Mocha Celis“ ein, eine selbstorganisierte Schule für Erwachsenenbildung, gegründet von und für trans Personen und Travestis. Travesti ist ein selbst gewählter politischer Kampfbegriff, der nicht nur Geschlechts-, sondern auch Klassenidentität miteinbezieht. In Argentinien werden meist beide Begriffe zusammen benutzt.

Alte Fabrikgebäude zu besetzen und daraus Klassenzimmer zu machen, das kommt seit der Wirtschaftskrise von 2001 in Argentinien immer öfter vor. Nachdem staatliche Strukturen zusammengebrochen waren, begannen sich Menschen in ihren Vierteln zu organisieren und alternative Bildungsangebote zu entwickeln. So entstand auch die Schule im Stadtviertel Chacarita, in der Menschen ab 16 innerhalb von drei Jahren ihren Sekundarschulabschluss, das Bachillerato, nachholen können. Der Name der Schule erinnert an die Travesti-Aktivistin Mocha Celis aus der argentinischen Provinz Tucumán. 1996 wurde sie mit drei Schüssen in den Rücken von einem Polizisten ermordet. Sie hatte nie lesen und schreiben gelernt.

Ein enger Fahrstuhl voller Graffitis bringt mich in den fünften Stock.

Die Tür des Aufzugs klemmt beim Öffnen. Dann stehe ich in einem großen, lichtdurchfluteten Raum, der Aula der Schule, die alle nur „die Mocha“ nennen. Es ist Samstagnachmittag, in der Aula sitzen Schüler*innen im Alter von 16 bis vierzig zusammen an den Hausaufgaben. Auch außerhalb der regulären Schulzeiten dient die Mocha als Treffpunkt zum Lernen und Sein. Chaos und Lärm der Stadt bleiben draußen. Aus einem der Klassenzimmer hört man Tritte gegen Boxpratzen, aus einem anderen Stimmübungen und Tonleitern. Im dritten Raum empfängt der Direktor Francisco Quiñones, der sich Pancho nennt, zur Pressekonferenz.

Seit es so viele Medienanfragen gibt, finden diese Treffen regelmäßig am Wochenende statt. Ein Matebecher wird herumgereicht. Quiñones ist 35 Jahre alt und seit der Grün- dung Teil der Mocha. Er beginnt: „Warum habe ich euch alle eingeladen? Erstens, weil immer die gleichen Fragen gestellt werden. Zweitens, weil wir die Dynamiken des akademischen Extraktivismus satthaben. Damit meine ich, dass Leute …