Marta sitzt auf der Rückbank des Autos und kann die Augen nicht von ihrer Tochter neben ihr abwenden. Clara ist gerade geboren, sie sind auf dem Weg nach Hause. Ein kleines Wunder liegt da in der Babyschale. Bald wird Martas Partner Pedro die Tür zu ihrer Wohnung in Lissabon aufschließen, Clara wird zu Hause sein. „Ordinary Time“ heißt der Film von Susana Nobre über die ersten Wochen dieser kleinen Familie und tatsächlich passiert nichts Außergewöhnliches. Marta, Pedro und Clara sind alle drei sie selbst, aber auch Figuren in diesem ersten fiktionalen Werk von Nobre. Die portugiesische Regisseurin hat zuvor Dokumentarfilme gedreht, das merkt man „Ordinary Time“ an. Die Kamera ist stets dabei, wenn die drei im Bett liegen, wenn Marta das Baby stillt oder noch mit den Putzhandschuhen an den Händen auf der Couch schläft. Auch das Problem, sich die Sorge um das Kind gerecht aufzuteilen, ist ein Thema. Unterbrochen wird das Leben zu dritt von Besuchen von Freund*innen und Familienmitgliedern oder einem Ausflug aufs Land. Die Gespräche, die dann gezeigt werden, sind interessant, wirken aber teils unnatürlich. Man wird so daran erinnert, dass es sich hier nicht um einen Dokumentarfilm handelt. Die Stärke von „Ordinary Time“ liegt in seiner meditativen Ruhe, die Nobres Drehbuch möglich macht. Auch deshalb können die kleinen Momente, aus denen das Glück nur so hervorsprudelt, so intensiv wirken. Ana Maria Michel

Ordinary Time PT 2018. Regie: Susana Nobre. Mit: Marta Lança, Clara Castanheira, Pedro Castanheira u. a., 64 Min., Start: 05.12.

 

Angela Merkel hat Eier. Mit Verwunderung darüber, dass Anerkennung im Feld der Macht mit männlichen Attributen verbunden ist, beginnt der dritte autobiografische Dokumentarfilm von Gustav Hofer und Luca Ragazzi. Ein Gespräch am Frühstückstisch, ein persönlicher Disput, den jede so oder so ähnlich tausendmal geführt hat, diesmal zwischen Mann und Mann: Gustav hält Männer für privilegiert, Luca glaubt nicht daran. Lucas Heiratsantrag liefert die ironisch grundierte Rahmenhandlung einer Bildungsreise durch Italien. Gustav sucht die geeigneten Gesprächspartner*innen und Szenerien aus. Die beiden schwulen Journalisten treffen also Psycholog*innen, Politiker*innen und einen Pornostar. Sie lesen Zeitung an einem Bergbach und stellen fest, dass Zeitung – ausgenommen Feuilleton – von Männern gemacht wird. Bilder von balzenden Hähnen ergänzen das Thema vom Tierreich aus, markante Diskriminierungsszenen aus dem TV (Berlusconi!) werden als Bonusmaterial ins Kaleidoskop eingespeist. Zunächst wirkt die Auswahl der Gesprächspartner*innen beliebig, nach und nach ergibt sich aus den versammelten Positionen und Erfahrungen ein differenzierteres Bild. Frauen und Männer haben unterschiedlichen Zugang zu Macht. In Venedig treffen die beiden den Soziologen Michael Kimmel, der die Metapher vom Langstreckenlauf einführt: Weiße Männer laufen mit Rückenwind und wissen es nicht mal. Frauen und POC rennen hingegen beständig gegen den Wind. Kimmel erklärt anhand eines Versuchs mit Affen den Zusammenhang zwischen Dominanzverhalten und Testosteron. Die Erkenntnis, dass enge Gendernormen für alle Geschlechter Stress und Enge bedeuten, ist nicht neu. Sie kann aber immer wieder zum Besten gegeben werden. Vor allem, wenn es so wortreich und unterhaltsam passiert wie in diesem unkonventionellen Dokumentarfilm. „Dicktatorship“ leistet eine lockere, gut gelaunte „Tour de Gender“, in der Italien für den Rest der westlichen Welt steht. Ob die Autoren sich an den Aufklärungsfilmen der 1970er-Jahre orientiert haben, ist nicht bekannt. Anna Opel

Dicktatorship IT 2019. Regie: Gustav Hofer, Luca Ragazzi.
90 Min., Start: 28.11.

 

Da ist dieser Kloß in ihrem Hals, diese Angst, die ihr nachts die Kehle zuschnürt und sie nicht schlafen lässt. Bernadette Fox (Cate Blanchett) war einst eine vielversprechende Architektin, verwandelt aber mittlerweile nur noch das alte Haus, in das sie vor zwanzig Jahren mit ihrem Mann Elgie (Billy Crudup) gezogen ist, in ein lebendes Kunstwerk. Sie ist rastlos, hasst Menschen, besonders ihre Nachbarschaft, und spricht, wenn nicht mit ihrer Tochter Bee (Emma Nelson), eigentlich nur mit ihrer virtuellen Assistentin in Indien. Besonders, da sie als Familie einen Trip in die Antarktis planen und Bernadette in Panik das halbe Internet leer kauft. Bis eines Tages ein Teil ihres Grundstücks in den Garten ihrer Nachbarin (Kristen Wiig) rutscht, ihr Mann eine Therapeutin (Judy Greer) anheuert und das FBI vor der Tür steht. Kurzentschlossen steigt Bernadette aus dem Fenster und verschwindet. „Bernadette“, auch „Wo steckst du, Bernadette?“, ist eine liebenswürdige Tragikomödie, in der Cate Blanchetts Abscheu geradezu aus der Leinwand springt. Dabei schafft sie es, nicht das Klischee der verbitterten Ehefrau zu geben, sondern eine stolze Künstlerin, die wieder etwas erschaffen muss. Den ein oder anderen rassistischen Kommentar hätte man sich sparen können und ein wenig mehr Abenteuer hätten ebenfalls nicht geschadet. Darüber hinaus ist der Film ein guter Anfang für mehr zynische und angenervte Frauenfiguren und positive Mutter-Tochter-Beziehungen im Film. Ava Weis

Bernadette USA 2019. Regie: Richard Linklater. Mit: Cate Blanchett, Billy Crudup, Kristen Wiig u. a., 111 Min., Start: 21.11.

 

1972 beschloss die Queen of Soul, Aretha Franklin, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs zu ihren Wurzeln zurückzukehren und das Gospelalbum „Amazing Grace“ aufzunehmen. Sydney Pollack wurde beauftragt, die Aufnahmen in einer Baptistenkirche in L.A. mitzuschneiden. Leider scheiterte der Starregisseur an der Aufgabe, Ton und Bild synchron aufzunehmen. Der Film verschwand in den Archiven, bis ihn Produzent Alan Elliott und Pollack 35 Jahre später hervorkramten, um ihn mit neusten technischen Möglichkeiten fertigzustellen. Franklin selbst wollte nie, dass der Live-Mitschnitt in die Kinos gelangte. Erst ihr Tod 2018 ermöglichte es, ihren Wunsch zu umgehen. Mit diesem Vorwissen erlebt frau den Film zwiespältig. Einerseits ist es ein tränentreibendes Erlebnis, diese unglaubliche Frau live performen zu sehen, andererseits nervt zuweilen die Stümperhaftigkeit der Aufnahmen und auch der eitle Reverend Cleveland, der den Abend und Franklin auf dem Klavier begleiten soll, jedoch mit größter Selbstverständlichkeit immer wieder versucht, ihr die Show zu stehlen. Während ihr Vater eine Rede schwingen darf, kommt seine Tochter nicht zu Wort. Auch Gospelsängerin Clara Ward, die Franklin inspiriert hat, wird von den Herren der Schöpfung nicht ans Rednerpult gebeten. Dennoch freut frau sich über dieses bewegende Zeitdokument, dem männliche Unzulänglichkeiten letztlich nichts anhaben konnten. Als am zweiten Aufzeichnungsabend Mick Jagger im Publikum auftaucht und die Kameramänner ihn begierig ins Visier nehmen, schließt frau die Augen und lächelt still in sich hinein, im Ohr diese Soul-Stimme, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. Das Geheimnis aber, warum Franklin die Aufführung dieses Films stets verhindern wollte, hat sie mit ins Grab genommen. Gabriele Summen

Aretha Franklin – Amazing Grace USA 2019. Regie: Alan Elliott. Mit: Aretha Franklin, James Cleveland, Southern California Community Choir, C. L. Franklin u. a., 87 Min., Start: 28.11.

 

Die beste Zeit des Lebens – wann war die, aus der Warte des dreißigjährigen Marius und seines Freundes Lucas? Und was wird in zwanzig Jahren sein, vom Standpunkt eines Zehnjährigen aus vermutet? Was ist wichtig, was bleibt? In einer Mischung aus Dokumentation und Spielfilm stellt das Regieteam den Verlauf von Freundschaften und die Entwicklung der Lebenswege dreier Kinder vor: der beiden Feuerwehrjungs Marius und Lucas und von Renée, Lucas’ Freundin seit der Kleinkindzeit. Sie wollen heiraten. Ver- gangenheit und Gegenwart zeigen reale Aufnahmen seit 2013, die Zukunft stellen Schauspieler*innen dar, immer mit komödiantisch-grotesker Note. Gezeigt werden stets die gleichen Orte und Tätigkeiten: Riesenradfahrten am Alexanderplatz in Berlin, Warten in der Halle eines Flughafens, Angeln und Feuerwehrübungen in Heiligensee und die Stuttgarter Landregion, wo Renée lebt. Die Kinder äußern sich zu wiederkehrenden Themen wie Freundschaft, Liebe, Zukunftsplänen, mal spontan, mal reflektiert. Zunächst gibt es nichts Cooleres, als ein Feuerwehrheld zu werden, Mädchen sind „die bösen Kreaturen“, Frauen sind zum Kochen und zur Reproduktion gut und brauchen auch mal was Schönes. Während Marius sich als konservativ und heimatverbunden herausstellt, ändert der eloquente Lucas seine Vorlieben – die Beziehung mit Renée steht auf der Probe. Die wiederum verteidigt ihre Ansprüche und sieht sich als künftige Hauptverantwortliche des Flughafens BER, der als Running Gag den ganzen Film überdauert. Imke Staats

Als ich mal groß war DE 2019. Regie: Lilly Engel, Philipp Fleisch- mann. Mit: Constantin von Jascheroff, Isabell Polak, Sebastian Schwarz u. a., 82 Min., Start: 28.11.

 

Auf dem flachen Dach eines Hochhauses in New York bewegen sich wie in Zeitlupe Tänzer*innen. Ein hypnotisierendes Bild und eine beeindruckende Kamerafahrt, die in schwindelnder Höhe die unterschiedlich einfarbig gekleideten Figuren in einer der Schwerkraft trotzenden Bewegung zeigt. Alla Kovgans Dokumentarfilm „Cunningham“ beschreibt das Leben und Wirken des Tänzers und Choreografen Merce Cunningham zwischen 1944 und 1972, dem Anfang und Durchbruch seiner Schaffenszeit. Angereichert werden die biografischen Puzzleteile, Interviewfetzen und O-Töne mit einigen seiner zeitlosen Choreografien, an ungewöhnlichen Orten getanzt von seinem letzten Ensemble, das nach seinem Tod 2009 aufgelöst wurde. Cunningham war Macher durch und durch: Altes Filmmaterial zeigt ihn im selbst gehäkelten hautengen Ballettanzug mit Häubchen eigenartige Sprünge performen. In die Avantgardeschublade gesteckt zu werden lehnte er ab, doch die enge Zusammenarbeit mit Zeitgenossen wie u. a. dem Maler Robert Rauschenberg und dem Musiker John Cage – auch Lebenspartner Cunninghams – spricht Bände. Eine Choreografie mit dem Bühnendesign Andy Warhols, eine schwarze Bühne voller silberner heliumgefüllter Kissen, sticht im Film besonders heraus. Das fällt schwer, denn so weit bei „Cunningham“ das Auge reicht, finden sich hier virtuose Tänzer, ästhetische Schauplätze und Choreografien, die gekommen sind, um zu bleiben. Amelie Persson

Cunningham DE/FR 2019. Regie: Alla Kovgan. 87 Min., Start: 19.12.

 

Wow. Spätestens bei „Ohne dich“ von der Münchner Freiheit hatte er mich. Klingt kitschig? Ist es aber nicht. Versprochen. Worum geht es? Es geht um Zeit. Um Begegnungen. Um Zufälle (oder gibt es die nicht?). Darum, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Um Koinzidenzen. Um Wut und Trauer. Um Leben und Tod. Mittendrin Nora (stark: Saskia Rosendahl), Aron (Julius Feldmeier) und Natan (Edin Hasanović). Nora und Aron sind seit zwei Jahren ein Paar, hatten sich in der U-Bahn kennengelernt. Sie arbeitet in einem Supermarkt, er promoviert gerade in Physik. Als Aron bei einem Banküberfall erschossen wird, ist für Nora nichts mehr, wie es einmal war. Da erscheint Natan, der um das Leben seiner leukämiekranken Tochter Ava bangt, wie zufällig in ihrem Leben und füllt ihre Leere. Regisseurin Mariko Minoguchi gelingt mit ihrem Debütfilm „Mein Ende. Dein Anfang.“ ein wunderschön-trauriger, filmisch-philosophischer Kommentar über Zufall und Determinismus in unserem Leben. Der Film beginnt mit einer Vorlesung von Aron, in der er seine Theorie der Relativität in Hinblick auf Zukunft und Vergangenheit darlegt und beschreibt, warum wir uns an das eine erinnern und an das andere nicht. Hängt nicht alles irgendwie miteinander zusammen? Über drei Zeit- und Erzählstränge entwickelt Minoguchi die Geschichte, die sich wie ein Puzzle zusammenfügt und uns mit einem „falschen“ Happy End entlässt (ich denke an „5×2“ von François Ozon oder „Irreversible“ von Gaspar Noé) – oder ist es doch eins? Hatte nicht jedes Ende einen Anfang und steckt nicht in jedem Anfang schon sein Ende? QED. Indra Runge

Mein Ende. Dein Anfang. DE 2019. Regie: Mariko Minoguchi. Mit: Saskia Rosendahl, Julius Feldmeier, Edin Hasanović u. a.,
111 Min., Start: 28.11.

 

Eine junge Mutter flieht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit ihren zwei kleinen Söhnen vor dem gewalttätigen Vater. In naiver Hoffnung glaubt die von Zoe Kazan dargestellte Clara, mit ihren Kindern in der Anonymität New Yorks abtauchen zu können. Sie spielen „Urlaub“, doch kommen ohne Geld und Unterkunft nicht weit. Offizielle Hilfe bleibt ihnen verwehrt, solange sie anonym bleiben wollen, schließlich darf der als Polizist arbeitende Vater sie nicht finden. Fast wie in einem Episodenfilm erzählt die dänische Regisseurin Lone Scherfig in „The Kindness of Strangers“ mehrere Schicksale parallel, deren Wege sich schließlich im ebenso erbarmungslos kalten wie romantisch verschneiten New York auf magische Weise kreuzen: Krankenschwester Alice (Andrea Riseborough) arbeitet in der Notaufnahme, nach Feierabend betreibt sie eine Selbsthilfegruppe und teilt anschließend noch Essen an Obdachlose aus. Sie selbst ist Stammgast im russischen Restaurant von Timofey (wunderbar komisch gespielt von Bill Nighy), wo schließlich alle Fäden zusammenlaufen. New York bietet schöne Schauplätze (wie die Public Library), die Besetzung ist gut, doch die Geschichte liefert schlicht zu viel des Guten. Wirklich berührende Momente verlieren an Kraft, wenn im nächsten Augenblick märchenhaft übertrieben wird. Statt Hoffnung zu machen, dass kleine Wunder wahr werden können, bleibt „The Kindness of Strangers“ einfach eine völlig unglaubwürdig konstruierte Geschichte. Amelie Persson

The Kindness of Strangers DK/CA 2019. Regie: Lone Scherfig. Mit: Zoe Kazan, Esben Smed, Jack Fulton u. a., 112 Min., Start: 12.12.

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 06/19.