Literaturtipps 06/19
Von
Schutzzone
Von Lisa-Marie Davies
Als Auslandsmitarbeiterin der Vereinten Nationen reist Mira in Krisenregionen, führt Verhandlungen mit Machthaber*innen und Oppositionellen und vermeintliche Friedensmaßnahmen durch. Auch privat ist sie in der Diplomat*innenszene verankert: Bei einem Empfang in Genf, wo sie für das UN-Büro arbeitet, trifft sie Milan wieder, bei dessen Familie sie als Kind einige Monate gelebt hat. Die beiden scheinen sich näherzukommen, bis Milan sie abweist. Parallel dazu erlebt sie beruflich Misserfolge: Die Verhandlungen mit Zypern scheitern, bei der Aufarbeitung des Völkermords in Burundi wird ihre Rolle hinterfragt und ihre Souveränität gerät ins Wanken. Anhand der Figur Miras stellt der Roman elementare Fragen nach Verantwortung und Gerechtigkeit. Immer wieder wird die Rolle der UN bei Krisen und Konflikten deutlich, die Notwendigkeit von militärischen Interventionen vor dem Hintergrund von Machtverhältnissen hinterfragt. Der Roman stellt die Frage, ob Menschenrechte wirklich für alle Gültigkeit haben. Im Gespräch mit Milans Vater, der ebenfalls für die UN tätig war, fragt Mira nach dem Verhältnis von Wahrheit und Zeug*innenschaft, denn manchmal wirken Erinnerungen, als seien sie Märchen.
Nora Bossongs Roman ist sprachlich sehr anspruchsvoll. Auf mehreren Zeitebenen, von 1994 bis heute, hinterfragt sie die Rolle der Vereinten Nationen im Weltgeschehen. Das Scheitern der Protagonistin und die thematisierten Konflikte und Völkermorde sprechen dabei für sich – Bossong bringt beides in einem Roman zusammen, der nicht nur gelesen, sondern dessen Inhalt auch diskutiert werden sollte.
Nora Bossong „Schutzzone“ Suhrkamp, 332 S., 24 Euro
Sophie Passmann über Frank Ocean
Von Hengameh Yaghoobifarah
Bei ihrer Beerdigung soll einfach nur Frank Oceans Album „Blonde“ laufen, schreibt die Autorin Sophie Passmann in der Einleitung des kleinen Büchleins aus der KiWi- Reihe Musikbibliothek. Diesen Move würden die meisten vielleicht nicht verstehen, doch zu ihren Lebzeiten konnte sie auch niemand verstehen, führt sie weiter fort. Interessante These über eines der kommerziell erfolgreichsten Alben 2016. Darauf folgen sieben Kapitel, in denen sie sich jeweils einem Song aus dem Album widmet, wobei die Musik eher als Aufhänger für memoirenhafte Anekdoten dient. Passmann erzählt insbesondere, wie „Blonde“ beim Durch- und Überleben ihrer manischen oder depressiven Phasen stets in Dauerschleife lief. Der autobiografische Aspekt ist Teil des Konzepts der Bücherreihe – an sich ein schönes Konzept. Unangenehm wird es, wenn Passmann ihre heteronormativen Vorstellungen über und Interpretationen von Frank Oceans Queerness seitenlang beschreibt. Etwa wenn sie es aufgrund „seines Genres“ – das im Übrigen nicht Hip Hop ist, nur weil er Schwarz ist und u. a. auch mal rappt – als „beeindruckend“ bezeichnet, dass er sich 2012 als bisexuell geoutet hat, als bestünde nicht sein komplettes künstlerisches Umfeld überwiegend aus Schwarzen Queers. Leider tauchen im Buch wiederholt Analysen über und Projektionen auf den Künstler auf, die aufgrund ihres exotisierenden Gazes anti- queer und anti-Schwarz anmuten. Von Frank Ocean, betont Passmann immer wieder, fühlt sie sich besser verstanden als von allen anderen Menschen, doch offensichtlich versteht sie Frank Ocean nicht. Schade.
Sophie Passmann „Sophie Passmann über Frank Ocean“ KiWi Musikbibliothek Band 4, 96 S., 10 Euro
Andere Leute
Von Daniela Chmelik
Der neue Roman von Dorota Masłowska könnte auch „Die Einsamkeit der großen Stadt“ heißen. Es geht um zerrissene Familien bzw. Beziehungen, um Frauen, die sich um Männer drehen. Setting: Plattenbau, grau in grau. Es ist ein multiperspektivischer Roman, wobei sämtliche Figuren passiv oder aktiv aggressiv sind. Die männliche Perspektive überwiegt und ist besonders abstoßend. Wieder schreibt die polnische Popliteratin zynisch, banal, poetisch, brutal. Niemand wird sympathisch. Jemand träumt von Vergewaltigung. Polyphon slammen meckernde Mütter, in der Wanne schwimmen Karpfen und auf Pla- katen kreischen zerstückelte Säuglinge. Es gibt Chöre von Nonnen, die gern mal jemandem in die Eier treten, anstatt immer nur zu beten. Es gibt gute Reime und schlechte: Schwule/Schule, Frau/Sau, Mutter/ Butter. Das ist kein Problem der Übersetzung; Masłowska verwendet derlei Stilmittel. Durchaus antiquiert erscheinen aber Begriffe wie Flittchen oder hippe Schnalle. Die Vermutung, dass der Übersetzer ein älterer Jahrgang ist, bewahrheitet sich übrigens. Aber es gelingen auch Sätze: „Er duelliert sich mit ihrer Liebe Ungeheuer, doch wächst aus jedem abgeschlagenen Kopf ein neuer.“ Die Story hüpft in der Chronologie vor und zurück, verursacht Konzentrationsprobleme, liegt herum wie Tannenbaumnadeln im Januar. Aber letztlich stellt man fest, dass die Erzählweise konsistent ist, Inhalt und Form zusammengehen. Am Ende sind die Männer in postkoitaler Tristesse von allen Frauen verlassen, und „weit draußen glänzt Warschau wie Hundehoden“.
Dorota Masłowska „Andere Leute“ Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt,
160 S., 18 Euro, VÖ: 19.11.
Was weiße Menschen …
Von Ayesha Khan
Die Journalistin Alice Hasters, vielen bekannt aus dem überaus erfolgreichen Podcast „Feuer&Brot“ mit Maxi Häcke, hat, wie sie selbst sagt, ein „Servicebuch“ für weiße Menschen geschrieben. Teils autobiografisch, teils wissenschaftlich – aber immer mit einer Engelsgeduld erklärt Hasters in ihrem Buch den Leser*innen, was struktureller Rassismus ist, was es bedeutet, eine Schwarze Person in Deutschland zu sein, und was tindern für BIPoC bedeutet. In den Kapiteln Alltag, Schule, Körper, Liebe und Familie geht es um Stereotype und alltägliche rassistische Erfahrungen, Charakterzüge Schwarzer Frauen und den Drang weißer Menschen, die Haare Schwarzer Menschen zu berühren. Hasters bleibt aber nicht bei der bloßen Erzählung, sondern versucht, rassistische Verhaltensweisen zu erklären. Dabei greift sie auf Definitionen und Analysen von Schwarzen Wissenschaftler*innen wie Tupoka Ogette und Kimberlé Crenshaw zurück. Menschen, die die Standardwerke der (auch deutschsprachigen) Rassismuskritik schon kennen, wird „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen. Aber wissen sollten“ keine ganz neuen Erkenntnisse bringen, dafür gibt es viele Referenzen aus der Popkultur. Hasters schafft es, ihre Kritik an die weiße Dominanzgesellschaft gut pointiert ohne Schnickschnack zu vermitteln. Sie ist direkt und resolut. Eine Pflichtlektüre also, ganz besonders für weiße Deutsche.
Alice Hasters „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen. Aber wissen sollten“ hanserblau, 208 S., 17 Euro
Oreo
Von Carola Ebeling
Was für ein vor irrwitzigen Einfällen sprühendes, Genres und Identitäten wild vermengendes und damit grenzenüberschreitendes Buch! Die US-Amerikanerin Fran Ross, geboren 1935 und im Alter von nur fünfzig Jahren gestorben, war ihrer Zeit mit so viel Chuzpe voraus. 1974 erschien der Roman, der nun glücklicherweise wiederentdeckt wurde. Die Tochter einer Schwarzen Mutter und eines jüdischen weißen Vaters hat mit ihrer Protagonistin Oreo – ja, genau wie der Keks und das mit voller Absicht – die Herkunft gemein. Diese schickt sie auf die Suche nach dem Geheimnis ihrer Geburt. Dabei kapert sie lässig ein Stück klassischer europäischer Kultur, nämlich den Mythos rund um Theseus – hier verwandelt in eine 16-jährige sehr schlaue, im Wortsinn schlagfertige, Schwarze feministische Heldin. Die weiß sich zu wehren, auch gegen männliche Gewalt. Ross mischt Briefe und Kochrezepte unter, mengt Popkultur bei, wirbelt auch die Sprachen durcheinander: Anglisiertes Jiddisch steht neben afroamerikanischem Englisch und einer Fantasiesprache, eine Glanzleistung der Übersetzerin Pieke Biermann. Im Wissen um die komplexen Schwarz- jüdischen Beziehungen in den USA vereint die Autorin Jüdischsein und Schwarzsein und verneint zugleich die Eindeutigkeit einer jeden Identität. So ist „Oreo“ auch ein aktueller literarischer Kommentar zu derzeitigen, teils verbissen innerhalb der Linken geführten identitätspolitischen Debatten. Ein hochkomischer dazu: Ross‘ Witz ist subversiv, das konnte Lachen ja schon immer sein.
Fran Ross „Oreo“ Aus dem amerikanischen Englisch und mit Anmerkungen von Pieke Biermann. dtv, 288 S., 22 Euro
Face It
Von Christina Mohr
Im letzten Kapitel ihrer Autobiografie widmet sich Debbie Harry … dem Daumen: Sie wolle ihre „etwas missmutigen Memoiren“ heiter enden lassen, damit sie nicht als miesepetrig abgestempelt würde, so Harry. Der Daumen sei der wichtigste Finger, was Harry mit historischen und popkulturellen Anekdoten belegt, auch ihr eigenes Auto steuere sie nur noch mit dem Daumen. Wer nun denkt, dass „Face It“ das skurrile Vermächtnis einer etwas seltsamen Berühmtheit sei, liegt falsch: Dafür, dass Debbie Harry eigentlich nicht vorhatte, ihre Geschichte aufzuschreiben, präsentiert sie mit diesem Buch eine der außergewöhnlichsten, lesenswertesten Popbiografien der letzten Zeit. Beginnend mit ihrer Kindheit in New Jersey – sie wurde als Baby adoptiert – verlagert sich die Story bald nach New York City. Doch bis Debbie Harry mit ihrer Band Blondie und Hits wie „Call Me“ oder „Heart Of Glass“ weltweiten Ruhm in Form von über 40 Millionen verkaufter Platten erlangen wird, ist es ein harter Weg: Harry arbeitet als Sekretärin, Bedienung und Playboy-Bunny, verliert dabei nie ihr Ziel aus den Augen, eine Band zu gründen. Als sie Chris Stein trifft, platzt endlich der Knoten, das kongeniale Pärchen schreibt Hit auf Hit, verbindet punkige Attitude mit Popappeal wie niemand sonst. Wie hart es jedoch ist, als Band den Erfolg auszuhalten (Blondie lösen sich 1982 auf, um 1999 triumphal zurückzukehren) und als Frau im Popgeschäft die Würde zu wahren, beschreibt Harry in einer einzigartigen Mischung aus Coolness, Witz und gnadenloser Offenheit – sie sei eben ein echter Punk, sagt sie, auch heute noch.
Debbie Harry „Face It: Die Autobiografie“ Aus dem amerikanischen Englisch von Philip Bradatsch, Frank Da- brock, Harriet Fricke, Torsten Groß. Heyne, 432 S., 25 Euro
Schöne Monster
Von Katharina Ludwig
Mit acht Jahren, findet Szu, habe sie sich von einem mäuschenniedlichen Mädchen in eines verwandelt, das so abstoßend ist wie eine Ratte. Nicht liebenswert, nicht besonders, nicht so wie ihre Mutter. „Schöne Monster“ heißt der in der Hitze Singapurs angesiedelte Debütroman der Autorin Sharlene Teo. Er erzählt von den Abscheulichkeiten in Beziehungen zwischen Frauen und Mädchen: von (selbst-) zerfleischender Konkurrenz und der Zerbrechlichkeit jedes Zusammenhaltens. Im Zentrum steht ebenjene nun 16-jährige Szu, deren Mutter Amisa – die glamourös, chronisch traurige Schönheit einer alten Hor- rorfilm-Trilogie – lebensbedrohlich erkrankt. Was bedeuten sich die unterschiedlichen Frauencharaktere und -generationen? Das versucht der Roman mit Zeitsprüngen in die späten 1960er- und 1970er- Jahre und nach vorne ins Jahr 2020 auszuloten: zu den Anfängen und Hoffnungen einer jungen Frau, die aufgrund ihres Aussehens als Schauspielerin entdeckt wird. Bis zu der 33-jährigen Version ihrer Tochter, die immer noch damit beschäftigt ist, sich am Mythos und der Selbstbezogenheit ihrer Mutter abzuarbeiten. Mit im Beziehungsgeflecht: Szus Schulfreundin Circe, die mit einer Karriere als Social Media Consultant bestraft wird. Und Tante Yunxi, die als Medium für Geister Geld ins Haus bringt. So interessant die schön-grässlichen Figuren, so stellenweise schwer zu folgen waren für mich die Perspektivsprünge und die bemüht metaphorische Sprache. Eine Verfilmung wäre klasse.
Sharlene Teo „Schöne Monster“ Aus dem Englischen von Anke Carolin Burger. Blumenbar, 320 S., 22 Euro
Anne-Marie die Schönheit
Von Judith Taudien
„Auf der Bühne bleibt nichts von einem zurück. Der Bühne ist es vollkommen schnurz, wer sich auf ihr bewegt, Giselle, Giselle Fayolle oder Anne-Marie.“ In ihrem neuesten Roman „Anne-Marie die Schönheit“ erzählt Yasmina Reza die Lebensgeschichte einer Schauspielerin, die in einem Interview ohne Sentimentalität auf ihr Leben zurückschaut. Inszeniert, als spiele sie die letzte Rolle ihres Lebens, berichtet sie in einem Monolog von ihrer Kindheit in der französischen Provinz und ihrer sich regelmäßig umbringenden Mut- ter, ihrem langweiligen Ehemann, ihrem nervigen Sohn, ihrer Arbeit am Provinztheater und ihrer gerade verstorbenen Kollegin Giselle, die scheinbar so viel mehr hatte im Leben: mehr Glück, mehr Liebhaber, mehr Schönheit, mehr Ruhm und vor allem die besseren Rollen. Dabei springt sie zwischen Erlebnissen, Personen, Vergangenheit und Gegenwart hin und her, hastig erzählt ohne Punkt und Komma. Gerade einmal achtzig Seiten dick ist der Roman, in dem Yasmina Reza nicht nur fast vollständig auf Satzzeichen verzichtet, sondern auch ihre gewohnt nüchterne Sprache mit einer Portion trockenen Humors würzt und ihre Virtuosität als gefeierte Theaterautorin durchscheinen lässt.
Yasmina Reza „Anne-Marie die Schönheit“ Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt- Henkel. Hanser, 80 S., 16 Euro
Die Zehnjahrespause
Von Isabella Caldart
Regelmäßig treffen sich Amy und ihre drei Freundinnen zum Brunchen. Was sie eint: Sie alle sind Mütter – und aus den unterschiedlichsten Gründen nicht berufstätig. Jetzt, da ihre Kinder in ein Alter kommen, in dem sie unabhängiger werden, stehen die vier Frauen vor der Frage: zurück in den Job oder nicht? Die Frage, welche Stellung eine nicht berufstätige Mutter in der Gesellschaft hat und welchen Druck sie sich selbst macht, ist eigentlich eine interessante Ausgangslage. Leider versagt Meg Wolitzers „Die Zehnjahrespause“ in der Ausführung in jeder Hinsicht. So sind sämtliche Familienkonstruktionen im Roman heterosexuell und heteronormativ, alles abweichend davon wird klischeehaft oder exotisiert dargestellt, und die eigenen Privilegien werden von den Figuren nicht re- flektiert. Amy beispielsweise klagt die ganze Zeit über Geldprobleme, wohnt mit ihrem Ehemann aber mitten in Manhattan und schickt den Sohn auf eine Privatschule. Die Frauen sind untereinander wenig solidarisch; zudem gibt es einen merkwürdigen Cut zwischen Männern, die als draufgängerisch, und Frauen, die größtenteils passiv dargestellt werden. Der Roman hat wohl einen feministischen Anspruch und die intendierte Message: Du kannst tun, was du möchtest! Er scheitert aber daran, diese zu vermitteln. „Die Zehnjahrespause“ ist im englischen Original 2008 erschienen. Doch das Buch liest sich, als sei es nicht zehn, sondern vierzig Jahre alt.
Meg Wolitzer „Die Zehnjahrespause“ Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. DuMont, 448 S., 24 Euro
Das Licht, das Schatten leert
Von Vina Yun
„Manchmal passieren Dinge im Leben, auf die du nicht vorbereitet bist. (…) Dennoch passieren diese Dinge und du bist gezwungen, damit umzugehen, was auch immer das heißen mag.“ Tina Brenneisen, aus Dresden stammende und in Berlin lebende Illustra- torin, Comicautorin und Gründerin des Verlags Parallelallee, hat sich eines Tabuthemas angenommen: Totgeburt. In ihrer jüngsten Graphic Novel „Das Licht, das Schatten leert“ verarbeitet Brenneisen ihre eigenen Erfahrungen als Schwangere, die ihr Kind verliert und es tot auf die Welt bringt – ein sogenanntes Sternenkind. Sehr oft bleiben die Betroffenen mit ihrem Leiden allein, ist doch in unserer Gesellschaft kein Raum vorgesehen für einen solchen Verlust, der einhergeht mit betäubender Trauer, Schuldgefühlen („Ich mag meinen Körper nicht mal mehr ansehen“, sagt die Hauptfigur Tini. „Es ist, als hätte mich ein alter Freund aus heiterem Himmel verraten.“), Angst (ob man jemals wieder ein Kind bekommen kann) und Neid (auf jene, deren Kinder leben). Was es bedeutet, ins „normale Leben“ zurückzufinden, erzählt Tina Brenneisen mit unumwundener, mitunter sehr unbequemer Direktheit, aber auch mit verblüffendem Humor; wie die sympathischen, krakeligen Figuren Tini und Fritzemann sich und einander neu finden, bewegt zutiefst. Vollkommen zu Recht wurde „Das Licht, das Schatten leert“ mit dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichnet.
Tina Brenneisen „Das Licht, das Schatten leert“ Edition Moderne, 240 S., 29 Euro
Zuflucht nehmen
Von Carla Heher
Der französische Schriftsteller Mathias Énard und die französisch-libanesische Comic- zeichnerin Zeina Abirached haben sich zusammengetan und verknüpfen in „Zuflucht nehmen“ zwei zarte und durchaus ungewöhnliche Liebesgeschichten: Eine findet 2016 in Berlin statt. Der junge Architekt Karsten trifft auf einem Nachbarschaftsfest auf die syrische Wissenschaftlerin Nayla, die nach ihrer Flucht vor dem Krieg erst seit wenigen Wochen in Deutschland lebt. Die beiden nähern sich langsam an. Die Brücke zum zweiten Handlungsstrang, der auf einer anderen Zeitebene und an einem anderen Ort stattfindet, nämlich in Afghanistan, schlägt die Graphic Novel, die Karsten zu dieser Zeit gerade liest. Auch dieses Buch heißt „Zuflucht nehmen“ und beruht auf einer wahren Begebenheit, die im Jahre 1939 stattgefunden hat. Der Titel ist eine Anspielung auf die gleichnamige buddhistische Praxis, denn bei einer Forschungsreise zu den Buddha-Statuen von Ba- miyan verlieben sich die Schweizer Reisejournalistin Annemarie Schwarzenbach und ihre Kollegin Ella Maillart. Die Settings könnten unterschiedlicher nicht sein, doch beide Romanzen haben gemeinsam, dass sie zum Scheitern verurteilt sind. Über die Gründe dafür hätte ich gerne ein bisschen mehr erfahren. Die plakativen, schwarz-weiß gehal- tenen Zeichnungen von Zeina Abirached sind herausragend, aber etwas mehr Tiefgang hätte dem opulenten Comicwälzer nicht geschadet.
Mathias Énard „Zuflucht nehmen“ Illustriert von Zeina Abirached. Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant, 345 S., 30 Euro
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 06/19.