Von Mithu Sanyal

Wer bei Radikalfeminismus denkt: „Was soll das denn sein? Ist Feminismus nicht immer radikal?“, liegt gar nicht so falsch. Vieles von dem, was wir mit dem Zweite-Welle-Feminismus (also grob gesprochen, dem Feminismus der 1960er/70er-Jahre) verbinden, geht auf Radikalfeministinnen zurück: consciousness raising groups (Selbsterfahrungsgruppen, um das „patriarchale“ Weltbild durch „feministisches“ Bewusstsein zu ersetzen), der Kampf um Zugang zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen und sogar der Slogan „Das Private ist politisch“! Aber auch die Vorstellung von Feministinnen als männerhassenden Lesben. So erklärte die US-amerikanische Radikalfeministin Robin Morgan Männerhass als politische Handlung, schließlich habe die im Patriarchat unterdrückte Klasse (Frauen) ein Recht auf Klassenhass gegen die sie unterdrückende Klasse (Männer). Und ein Zweig des Radikalfeminismus, nämlich der Radical Lesbianism, versuchte gegen die Heteronormativität (das heißt gegen die Vorstellung, dass Heterosexualität und nur Heterosexualität normal sei) anzugehen, indem seine Vertreterinnen ausschließlich Sex und Beziehungen mit Frauen hatten. Radikalfeminismus basiert auf der Überzeugung, dass soziale Ungleichheit vordringlich auf das Geschlechterverhältnis zurückzuführen sei, also auf die unterschiedlichen Geschlechterrollen, die es Männern erlaubten, Frauen zu unterdrücken und auszubeuten. Deshalb ging es Radikalfeministinnen nicht um gleiche Rechte für die Geschlechter, sondern darum, die Geschlechterrollen abzuschaffen.

Das hört sich jetzt nach einer unerheblichen Unterscheidung an, doch in der politischen Praxis führte es zu enormen Differenzen. Während liberale Feminist*innen daran arbeiteten, Gesetze zu verändern, und sozialistische Feminist*innen sich um Arbeit und die Klassenfrage kümmerten und Schwarze Feminist*innen auf den Anteil von Rassismen hinwiesen – sehr stark vereinfacht –, führten Radikalfeministinnen alles auf das Geschlecht zurück, und zwar auf das bei der Geburt zugeordnete Geschlecht. Deshalb beschäftigten sie sich vordringlich mit dem Bereich der Sexualpolitik. 1968 schrieben die Proteste der New York Radical Women gegen die Miss-America-Wahlen Schlagzeilen. Dabei wurden entgegen dem Mythos keine BHs verbrannt, sondern ein BH zusammen mit High Heels, Kosmetika und anderen Symbolen klassischer „Weiblichkeit“ in die berühmte „Freedom Trash Can“ geworfen. Weitere prominente Proteste richteten sich gegen die Pornokinos am Times Square und allgemein gegen Pornografie als „Propaganda für das Patriarchat“ (so nannte es die Anti-Porno-Aktivistin Gail Dines) sowie gegen Sexarbeit, die Radikalfeministinnen als „bezahlte Vergewaltigung“ bezeichnen. Allerdings nicht alle! Genauso gehören Radikalfeministinnen zwar zu den wenigen feministischen Gruppen, die explizit trans Frauen ausgrenzen (mit der schwierigen Argumentation, trans Frauen seien als Jungen aufgewachsen und hätten durch diese männliche Sozialisation alle Privilegien). Doch argumentieren prominente Radikalfeministinnen wie Andrea Dworkin und Catharine MacKinnon, dass das Konzept von Transidentität ganz im Gegenteil den patriarchalen Geschlechter-Essenzialismus zersetze und Geschlecht sowieso ein Konstrukt sei.

Außerdem gab und gibt es nach wie vor Radikalfeministinnen, die unter „radikal“ nichts dergleichen verstehen, sondern schlicht, dass sie grundlegende gesellschaftliche Veränderungen fordern. Ihr Motto: Wir wollen nicht die Hälfte des verschimmelten Kuchens, wir wollen die gesamte Bäckerei als feministisches Kollektiv führen.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/19.