Von Linn Penelope Micklitz

True-Crime-Storys sind in. Magazine und TV- Sendungen arbeiten im Monatstakt alte und aktuelle Kriminalfälle auf. Manche erklären die Faszination damit, dass das Sterben heute hinter verschlossenen Türen stattfinde – in Altenheimen etwa. Was im „realen“ Leben nicht greifbar ist, wird zur Prime Time wegkonsumiert.
 Umso tragischer, wenn die eigene Lebensrealität plötzlich aus dem Fernsehen zu kommen scheint und Menschen sich selbst im Mittelpunkt von Verlust, Berichterstattung und Traumabewältigung wiederfinden. Dass so ein Trauma an die nächste Generation vererbt werden kann, hat die Lyrikerin, Kritikerin und Autorin Maggie Nelson selbst erlebt. Ihre Tante wird mit Anfang zwanzig Opfer eines

Femizids – lange vor Nelsons Geburt. Doch der gewaltvolle, nie aufgeklärte Tod der Frau ist seit dem Verbrechen Teil der Familie. Jane heißt die Tante, die sie nie kennenlernt und die dennoch Teil ihres Lebens ist.
 So präsent ist dieses Familientrauma, dass Nelson einen Lyrikband schreibt, um der Tante näherzukommen. Kurz bevor sie das Buch „Jane. A Murder“ 2004 beendet, ruft ein Detective der Michigan State Police bei ihrer Mutter an. Es gebe einen Verdächtigen, eine Verhaftung stehe kurz bevor – 35 Jahre nach dem Mord, in dem Moment, in dem Nelson das Familientrauma zu den Akten legen will. Während sie Gerichtsverhandlungen besucht, Tatortfotos der Leiche ansieht und dabei von den Medien nicht aus den Augen gelassen wird, verspürt sie „einen heftigen Drang, all die Details aufzuzeichnen, bevor sie verschluckt würden, sei es durch Angst, Trauer, Vergessen oder Schrecken“. Sie erarbeitet die „Autobiografie eines Prozesses“, ein Buch, das sich, trotz des wahren Kriminalfalls, der es hervorgebracht hat, vo…