Von Francis Seeck

 

Deutschlands faulster Arbeitsloser jubelt: ‚Jetzt gibt’s Hartz IV auf dem Silbertablett.‘“ So titelte die „Bild“, nachdem das Bundesverfassungsgericht im vergangenen November die Sanktionen für ALG2- Bezieher*innen eingeschränkt hatte. Diese Hetze gegenüber erwerbslosen Menschen ist eine Form von Klassismus. Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Klassismus richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, z. B. einkommensarme, erwerbslose und wohnungslose Menschen, aber auch Arbeiter*innenkinder. Arme Menschen, so das Vorurteil, sind faul, kriminell, dumm und an ihrer Armut selbst schuld. Klassismus dient der Abwertung, Ausgrenzung und Ausbeutung von Menschen. Er hat Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Macht, Netzwerken, Teilhabe, Anerkennung und Geld.

Klassistische Gewalt hat eine lange Tradition. Im Nationalsozialismus wurden als „asozial“ Stigmatisierte, z. B. Bettler*innen und Sexarbeiter*innen, mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet und unter dem Begriff „Aktion Arbeitsscheu Reich“ in Konzentrationslager verschleppt. Die Debatte um Klassismus wurde von sozialen Bewegungen angestoßen. Ende der 1980er-Jahre gründeten sich in Westdeutschland Proll-Lesbengruppen. Lesben, die in der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, auf Bäuer*innenhöfen oder in Heimen aufgewachsen waren, organisierten sich. Von ihnen gingen antiklassistische Interventionen in die Frauen- und Lesbenbewegung aus, z. B. die Einrichtung von Umverteilungskonten. Vor 15 Jahren gingen in Deutschland Tausende Menschen gegen die Hartz-IV-Reformen auf die Straße. 2010 gaben Heike Weinbach und Andreas Kemper den Band „Klassismus. Eine Einführung“ heraus, der eine Debatte zu Klassismus in linken Kreisen anstieß. Häufig wird in Diskussionen zu Klassismus der weiße Fabrikarbeiter in den Vordergrund gerückt. Dabei haben trans Personen, alleinerziehende Mütter und Menschen, die Rassismus erfahren, ein hohes Armutsrisiko. Die Schwarze feministische Wissenschaftlerin bell hooks wies 2000 in dem Buch „Where We Stand: Class Matters“ auf die Bedeutung von Klasse und die Verwobenheit mit Rassismus und Sexismus hin. Bei der Klassenzugehörigkeit geht es neben ökonomischem (Eigentum, Vermögen) auch um kulturelles (Bildungsabschlüsse) und soziales Kapital (Vitamin B). Auch der Name, Wohnort, Sprache und der Geschmack können Marker für Klasse sein. Häufig verschränken sich Rassismus und Klassismus, wenn etwa von „Armutsmigration“ gesprochen wird.

Trotz vielfältiger antiklassistischer Bewegungen ist Klassismus immer noch unsichtbar. So hält sich der Mythos, dass wir in Deutschland in einer „Leistungsgesellschaft“ leben und alle, die „hart genug arbeiten“, es nach „oben“ schaffen können. Tatsächlich jedoch leben wir, wie die Autorin des Buchs „Wir Erben: Was Geld mit Menschen macht“ Julia Friedrichs betont, in einer Erbengesellschaft. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte besitzen zusammen sechzig Prozent des Gesamtvermögens. In Deutschland werden jedes Jahr ca. 400 Milliarden Euro vererbt. Erbschaften machen in Westdeutschland mittlerweile ein Drittel des Gesamtvermögens aus. Dass es kein Aufbegehren gibt, hat auch mit Klassismus zu tun. Verinnerlichter Klassismus führt zu Scham und der Abgrenzung von anderen Betroffenen. Auch Klassenprivilegien werden selten benannt. So ist es aktuell umso dringlicher, über Klasse zu sprechen, gegen Klassismus aktiv zu werden und gemeinsam Klassenkämpfe zu organisieren.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/20.