Lebenswerk
Von Sabine Rohlf

Missy 01/20

Ein Kind auszutragen, zu gebären und zu versorgen ist eine Zumutung. So ungefähr ließe sich der autobiografische Roman „A Life’s Work“ von Rachel Cusk zusammenfassen, der endlich auch auf Deutsch zu lesen ist. Cusk, inzwischen eine der wichtigsten Gegenwartsautorinnen Englands, beschreibt in diesem Buch aus dem Jahr 2001, wie sie selbst zur Mutter wird. Mit kühler Genauigkeit widmet sie sich dem eigentlich unglaublichen Vorgang, dass in einem Körper ein anderer wächst, sich von ihm trennt, um ganz allmählich zu einer eigenständigen Person zu werden. Sie verschweigt weder ihre Panik vor der Geburt, ihre Sehnsucht nach Freiheit, ihre Aggressionen gegenüber der Tochter, noch ihren sie selbst verwirrenden Unwillen, sie aus der Hand zu geben. Sie trifft andere Mütter, Väter und Babysitter, irrt mit kreischendem Säugling durch London und dreht vor Schlafmangel fast durch. Nicht nur Menschen, die so etwas selbst erlebten, wird es freuen, das Thema einmal nicht in pastellfarbener, intellektuell unterbelichteter Ratgeberprosa, sondern in einem scharfsinnigen Stück Literatur behandelt zu sehen. „Mutterwerden“ ist in diesem Buch keine beglückt zu bewältigende, ach so natürliche Angelegenheit, sondern eine extreme Erfahrung. In England sorgte das für einen Aufschrei, manche Leser*innen meinten gar, Cusk hasse ihr Kind. Dabei ist „Lebenswerk“ einer der ganz wenigen Texte, der nicht nur Mütter und andere Eltern, sondern auch Babys in ihrer rätselhaften Unfertigkeit ernst nimmt.

Rachel Cusk „Lebenswerk. Über das Mutterwerden“ Aus dem Englischen von
Eva Bonné. Suhrkamp, 223 S., 22 Euro

 

Nicht sodas Bilderbuchmädchen
Von Carla Heher

Missy 01/20

„Ich bin nicht so das Bilderbuchmädchen“, denkt die Teenagerin Zara über sich. Zumindest kann sie mit den Dating- und Liebestipps ihrer besten Freundin wenig anfangen und als sie doch endlich eine Kinoverabredung mit Josef aus ihrer Klasse hat, trägt sie Jeans und T-Shirt. Zara ist eine der beiden Hauptprotagonist*innen in Agnes Ofners gelungenem De- büt als Jugendbuchautorin, das aus zwei Perspektiven erzählt wird. Die andere Hauptfigur ist Sam, der mit seinen Eltern in die Wohnung direkt gegenüber der von Zara zieht. Über die Straße hinweg nimmt das Mädchen seine Verzweiflung und Traurigkeit wahr und ist fest entschlossen, herauszufinden, wie sie ihm helfen kann. Die beiden beginnen, mit handgeschriebenen Nachrichten auf Plakaten über ihre Zimmerfenster zu kommunizieren. Erst gegen Ende zeichnet sich ab, was mit Sam los ist. Es sind die körperlichen Veränderun- gen durch die Pubertät, die ihm als trans Jungen zu schaffen machen. Agnes Ofner hat bisher vor allem Kinderbücher illustriert, aber mit diesem vielschichtigen Buch bewiesen, dass sie ein hervorragendes Gespür dafür hat, über ein komplexes Thema feinfühlig und trotzdem mit Leichtigkeit zu erzählen. Sie verzichtet dabei erfreulicherweise auf Klischees – und zwar auf allen Ebenen. Eine absolut empfehlenswerte Lektüre über (cis und trans) Pubertät, erstes Verliebtsein und Freund*innenschaft, die auch mich als nicht mehr ganz so junge Leserin eingesogen hat.

Agnes Ofner „Nicht so das Bilderbuchmädchen“ Jungbrunnen, 180 S., 17 Euro, ab 12 Jahren

 

Ich habe einen Namen
von Tamara Marszalkowski

Missy 01/20

Chanel Miller hat gerade ihren ersten Job nach der Uni, ein Rennrad vom ersten Lohn gekauft und regelmäßige Schlafenszeiten – der Einstieg ins Erwachsenenleben. Doch dann geht sie mit ihrer jüngeren Schwester auf eine Verbindungsparty auf der Stanford-Uni. Sie gibt Gas. Trinkt viel. Albert herum. Will ihre kleine Schwester blamieren – plötzlich: ein Filmriss. Chanel wacht im Krankenhaus auf. Ihre Unterhose fehlt und sie hat Wunden am Arm. Ein Polizist sagt ihr, sie sei Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden. Miller versteht das lange nicht. Dennoch ändert es alles. Ihr Leben dreht sich nur noch um den Gerichtsprozess und sie wird zu Emily Doe – ihr Deckname im Prozess. Miller schildert ihr Trauma literarisch und die Erniedrigung im Prozess und durch die Medien so nachvollziehbar, dass es wütend macht. Denn obwohl der Täter auf der Anklagebank sitzt, ist sie es, die sich für ihr Verhalten rechtfertigen muss. Warum hat sie so viel getrunken? Wie sah das Kleid aus? Victim Blaming ist nichts Neues – doch Miller macht den Schmerz nachempfindbar, gibt dem Unaussprechlichen Wörter. Der Täter wurde nur zu sechs Monaten Haft verurteilt – den Richter kostete das Urteil den Job und der Fall führte zu einer Gesetzesänderung in Kalifornien. Mit diesem Buch legt Miller ihren Decknamen ab und findet ihre Stimme wieder – und die ist laut und stark. Ein Buch, das Hoffnung macht, besonders Opfern sexueller Gewalt.

Chanel Miller „Ich habe einen Namen. Eine Geschichte über Macht, Sexualität und Selbstbestimmung“ Aus dem amerikanischen Englisch von Yasemin Dinçer, Hannes Meyer und Corinna Rodewald. Ullstein, 480 S., 20 Euro

 

Spritzen
Von Lisa Tracy Michalik

Missy 01/20

Von female ejaculation oder auch squirting als Termini für das Sekretfreisetzen von Frauen beim Höhepunkt werden schon viele gehört haben. Dass die Harnröhre bei Frauen auch ein Sexualorgan ist, wissen vermutlich wenige. Stephanie Haerdle präsentiert eine Kulturgeschichte der weiblichen Ejakulation und bezieht sich dabei als Erstes auf Texte aus dem alten China und Indien und beschreibt anhand dieser, dass die weibliche Ejakulation in diesen Texten als wichtig, lustvoll und gesundheitsfördernd galt. Doch durch die Übersetzungen von europäischen „Asienexperten“ wurde aus Ejakulationsflüssigkeit Scheidensekret, und anatomische Beschreibungen der Sexualorgane verschwanden komplett. Der interessanteste Aspekt des Buchs ist die Beschreibung eines Paradigmenwechsels, der durch die wissenschaftliche Erkenntnis der Existenz von Eizellen eingeleitet wurde: Der weibliche Körper ist nicht mehr die schwächere Version des männlichen. Die Geschlechtsunterschiede, die zuvor als fließend galten, gelten nun als klar und eindeutig, festgemacht an der Anatomie von Frauen und Männern. Ein Beleg für Judith Butlers These, dass auch das biologische Geschlecht ein Konstrukt ist. Haerdle zeichnet auf anschauliche Art und Weise nach, wie Moralvorstellungen den medizinischen Diskurs in Europa mitgeformt haben, die weibliche Ejakulation erst geduldet, dann verpönt, dann verdrängt und schließlich „wiederentdeckt“ wurde und wieso es auch bis heute nur unzulängliche Forschung gibt – woraus folgt, dass immer noch nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, wie die weibliche Ejakulation zustande kommt.  

Stephanie Haerdle „Spritzen. Geschichte der weiblichen Ejakulation“ Nautilus Flugschrift, 288 S., 18 Euro

 

Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben
Von Isabella Caldart

Missy 01/20

Haben Frauen im Sozialismus besseren Sex? Oder genauer gefragt: „Erlebten die Menschen in kapitalistischen Ländern intime Beziehungen anders als in sozialistischen Ländern?“ Glaubt man der US-amerikanischen Ethnologin Kristen R. Ghodsee, ist an dieser These einiges dran. Der Titel ihres Essays über die Schnittstelle von Feminismus und Sozialismus ist mit gewissem Augenzwinkern zu verstehen. Es geht ihr nicht primär um Sex, sondern um die Stellung der (heterosexuellen cis) Frau im Sozialismus, hier übrigens sehr weit gefasst definiert: Ghodsee zieht immer wieder die sozialdemokratischen Länder Skandinaviens als Vorbild heran. In unregulierten kapitalistischen Systemen sind Frauen noch heute zu oft wirtschaftlich von Männern abhängig, hält die Autorin fest, während im Sozialismus nicht nur gefördert wurde, dass Frauen arbeiteten, sondern es anders als im Westen auch Usus war, die Kinder in die Krippe zu geben. Durch diese Autonomie begegneten sich Frauen und Männer in Heterobeziehungen eher auf Augenhöhe – was im Umkehrschluss auch den Sex besser machte. Faktengefüttert und trotzdem gut lesbar (mit einigen Redundanzen allerdings) erläutert Ghodsee – ohne dabei den Sozialismus zu verklären –, wie sich der Kapitalismus auf unsere intimsten Erfahrungen auswirkt und wie es sozialistischen Ländern zumindest teilweise gelang, Liebe von der Ökonomie zu trennen. Warum im Deutschen allen Ernstes „of color“ mit dem Begriff „farbig“ übersetzt wird, bleibt aber ein Mysterium.

Kristen R. Ghodsee „Warum Frauen im Sozia- lismus besseren Sex haben“ Aus dem amerikanischen Englisch von Ursel Schäfer und Richard Barth. Suhrkamp, 277 S., 18 Euro

 

Bis wieder einer weint
Von Lisa-Marie Davies

Missy 01/20

Mitten in Westdeutschland leben die Rautenbergs. Als erfolgreiche Unternehmerfamilie haben sie sich einen Namen gemacht. Als Sohn Wilhelm die lebensfrohe Arzttochter Inga kennenlernt, ist die Welt noch in Ordnung, Adenauer noch im Amt und das Unternehmen expandiert gerade. Doch nach der Geburt ihres zweiten Kindes erkrankt Inga an Leukämie und stirbt kurz darauf. Das bringt auch das Leben der Hinterbliebenen ins Wanken. Immer wieder werden einzelne Szenen aus Sicht der Zweitgeborenen, die nach dem Tod der Mutter bei den Großeltern lebt und mit sieben Jahren zu ihrem Vater zieht, beschrieben. Von den Problemen in der Schule, dem Verhältnis zum Vater, das von dessen Wutausbrüchen und dem Versuch, seine Homosexualität zu verstecken, geprägt ist, aber auch vom Erwachsenwerden in einer Zeit, in der immer mehr persönliche Freiheit möglich ist und gesellschaftliche Konventionen aufweichen. Die Geschehnisse des Romans sind in die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen Westdeutschlands eingebettet. Sie sind aber keineswegs sachlich geschrieben – der Roman zeichnet sich vielmehr durch seine spannende Erzählung aus, die immer wieder von kleinen Hinweisen auf mögliche Kata- strophen und Abgründe gespickt ist. Nicht alles wird am Ende endgültig aufgelöst, was das Buch noch stärker macht.

Eva Sichelschmidt „Bis wieder einer weint“ Rowohlt, 480 S., 22 Euro, VÖ: 28.01.

 

Kein Teil der Welt
Von Judith Taudien

Missy 01/20

Wie fühlt es sich an, wenn man weder Geburtstag noch Weihnachten feiert? Wenn man nicht mit auf Klassenfahrt darf und es verboten ist, „Alf“ zu schauen? Für andere Teenager selbstverständlich, in Esthers Welt nicht erlaubt. Denn: Esther wächst in der strengen Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas auf. Sie steht im Mittelpunkt des Romans von Stefanie de Velasco. Kurz nach dem Fall der Mauer zieht Esther über Nacht mit ihren Eltern von Geisrath im Rheinland in ein Dorf nach Ostdeutschland. Hier ist nicht nur alles trostlos und es riecht nach Kohle, sie muss auch ihre beste Freundin Sulamith hinter sich lassen. In Rückblenden erfährt man nach und nach, was schließlich zu dem überstürzten Aufbruch geführt hat. Auch wenn zwischen Esthers Geschichte und dem Leben von de Velasco Parallelen zu erkennen sind – so wuchs die Autorin selbst bei den Zeugen Jehovas auf und verließ als Teenager, ähnlich wie ihre Protagonistin, die Gemeinschaft –, sei ihr Buch trotzdem kein autobiografischer Roman geworden, wie sie in Interviews betont. Stattdessen beschreibt sie in beeindruckender Klarheit die Entwicklung ihrer Protagonistin von der treuen, nichts hinterfragenden Anhängerin hin zur Zweiflerin am patriarchalen System.

Stefanie de Velasco „Kein Teil der Welt“ Kiepenheuer & Witsch, 433 S., 22 Euro

 

Die Reisenden
Von Isabella Caldart

Missy 01/20

Zwei Familien, drei Generationen, sechs Jahrzehnte – das Setting von Regina Porters Debütroman „Die Reisenden“ ist ambitioniert, fast überambitioniert. Anhand von zwei großen Familien, die eine Schwarz, die andere weiß, versucht sie, die Geschichte der USA zu erzählen, ein breites Panorama: von den 1950ern, noch vor der Zeit der Bürgerrechts- bewegung, bis in die 2010er, der ersten Amtszeit Obamas. Porter schildert das Leben in Georgia, der Bronx, New Hampshire bis ins Berlin der 1970er- Jahre, schreibt von Rassismus und Gewalt, von Liebe und Zusammenhalt und vor allem: von vielen Familien- geheimnissen.Die große Anzahl an Protagonist*innen und die zahlreichen Sprünge zwischen den Jahren und Jahrzehnten machen es schwierig, den Überblick zu behalten (Tipp: Im Anhang gibt es ein Register), dadurch bleiben eine*m die Figuren ziemlich fern. Die Handlungsstränge und Beziehungen dieser beiden Familien sind eher lose verknüpft; viele der kurzen Kapitel lesen sich mehr wie Kurzgeschichten denn wie ein Roman. Außer der Ermordung von Martin Luther King und dem Vietnamkrieg, der eine zentrale Rolle für mehrere Charaktere spielt, fließen zudem erstaunlich wenige konkrete politische und gesellschaftliche Ereignisse in „Die Reisenden“ ein. Wir bleiben im Privaten der beiden Großfamilien. Und lernen: Kinder haben zumeist wenig Ahnung vom Leben ihrer Eltern – und umgekehrt.

Regina Porter „Die Reisenden“ Aus dem amerikanischen Englisch von Tanja Handels.
S. Fischer, 384 S., 22 Euro, VÖ: 29.01.

 

Getauschte Heimat
Von Simone Bauer

Missy 01/20

Am 24. März 2018 schreibt Anja Reich die erste Mail an ihre ehemalige Nachbarin Yael Nachshon Levin: Die Journalistin verlässt den Prenzlauer Berg, um in Tel Aviv als Korrespondentin für die „Berliner Zeitung“ zu arbeiten. Anja zieht in Yaels alte Heimat, sogar in das Viertel, aus dem deren Vater stammt. Die Briefe sind wohl durchdacht und lesen sich stellenweise wie ein Roman, denn obwohl der Brief direkt an die Sängerin und Künstlerin Yael geht, schildert Anja darin die erste Begegnung der beiden für die Leser*innenschaft. Die ehemaligen Nachbarinnen lernen sich durch ihren schriftlichen Austausch noch besser kennen. Für Yael ist es eine Reise in die Vergangenheit. Die Sprache ist dabei stets poetisch („Die Kirschbäume in deiner, in unserer Straße beginnen in einem verrückten Rosa zu blühen“). Eine Liebeserklärung an beide Städte, die sich schon alleine in der Wetterlage so krass unterscheiden. „Alles hängt vom Blickwinkel und vom Zeitpunkt ab“, denn Tel Aviv, derzeit ein beliebtes Touriziel, ist eine Blase. Die scheinbare Sicherheit wird immer wieder durch Militäraktionen und Terroranschläge infrage gestellt. Darum nennt man Tel Aviv auch „Glashaus“. Und was bedeutet eigentlich Heimat?

Yael Nachshon Levin, Anja Reich „Getauschte Heimat“ Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Aufbau, 224 S., 20 Euro

 

Three Women – Drei Frauen
Von Isabella Caldart

Missy 01/20

Jahre nach dem Ende ihrer missbräuchlichen Affäre beschließt Maggie, ihren ehemaligen Lehrer anzuzeigen. Lina entflieht einer lieblosen Ehe, als sie ihren Highschool-Freund wiedertrifft und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Und Sloanes Ehemann turnt es an, seiner Frau beim Sex mit anderen Männern zuzusehen. Über acht Jahre hinweg begleitete die Journalistin Lisa Taddeo diese drei Frauen, deren Liebesleben sie in „Three Women“ porträtiert. Was bereitet ihnen Lust? Wie steht es um Machtdynamiken? Und wie solidarisch verhalten sich Frauen zu anderen Frauen? Die Grundfragen des Buchs sind sehr interessant. Allerdings: So unterschiedlich die Situationen der drei sind, so ähnlich ist doch ihr Background. Sie sind weiß, wohnen in konservativen Kleinstädten – und versuchen mit allen Mitteln, dem Auserwählten zu gefallen. Vor allem Lina und Sloane sind dabei erstaunlich unterwürfig, Willen und Willkür ihrer Männer ausgeliefert. Zudem rutscht bei ihnen die Beschreibung öfter ins Voyeuristische. Stark hingegen ist die Geschichte rund um Maggies Prozess (der sich ergoogeln lässt), die allen Widrigkeiten zum Trotz an ihrer Ver- sion festhält und durch Taddeo eine Stimme verliehen bekommt, die sie vor Gericht nie hatte. Dem Anspruch, weibliche Lust zu analysieren, wird „Three Women“ – nicht zuletzt durch einige Bemerkungen der Autorin, bei denen traditionelle Rollenbilder durchbrochen werden – aber nur sehr bedingt gerecht.

Lisa Taddeo „Three Women – Drei Frauen“ Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Hummitzsch. Piper, 416 S., 22 Euro

 

Crip Magazine #3
Von David Doell

Missy 01/20

Jacques Derrida schrieb in „Marx’ Gespenster“, dass man nicht selbst lernt zu leben, sondern „nur vom Anderen und vom Tod“ gelehrt wird. Das Andere und der Tod sind dabei eine Art abwesend Anwesendes, etwas, das vor uns war, im Gegenwärtigen verborgen ist oder vielleicht erst in Zukunft sein wird. Der diesjährigen Triennale Bergen Assembly unter dem Titel „Tatsächlich sind die Toten nicht tot“ ging es um dieses Lernen des Lebens und die Verantwortung gegenüber dem Anderen. Iris Dressler, eine der künstlerischen Direktor*innen, sprach von Leben „jenseits der binären Oppositionen Leben und Tod, Mensch und Nicht-Mensch, Subjekt und Objekt, abled und disabled, gesund und krank“. Im Kontext der Versammlung in Bergen wurde auch die gleichnamige dritte Ausgabe der künstlerischen Zeitschrift „Crip Magazine“ produziert. Das Projekt trägt seit 2012 durch ästhetische, theoretische, popkulturelle und historisch-politische Materialien zur Selbstverständigung von zeitlich und räumlich heterogenen Be_hindertenbewegungen bei. „Crip Magazine #3 Tatsächlich sind die Toten nicht tot“ fragt u.a. durch Bilder und Texte nach der „Chrononormativität“, der Normierung des Zeitlichen, des Begehrens und der be_hinderten Körper in der ableistisch-kapitalistischen Gesellschaft. Die Herausgeberin Eva Egermann sprach im Anschluss an Elizabeth Freeman von „devianten Chronopolitiken“, also Praktiken, die sich der kapitalistischen Zeitlogik entziehen und die andere Bezüge ermöglichen, anderes Leben, anderes Lernen, und von transhistorischen „Zeitreisen“. Es sind unschätzbar wertvolle Perspektiven für jegliche politische Bewegung, die es mit der Emanzipation und Anti- Ableism ernst meint.

Crip Magazine #3, 56 S., erschienen im November 2019, als Printversion erhältlich über bergen- assembly.no, ab 01.01. gratis downloadbar unter cripmagazine.evaegermann.com

 

Vinyldyke #1 & #2
Von Ulla Heinrich

Missy 01/20

„Vinyldyke“ ist sicherlich der coolstmögliche Name für ein Zine über queere Perspektiven in der alternativen Musik. Im nicht weniger cleveren Logo verbindet sich die Doppelaxt, das lesbische Erkennungssymbol, mit einer Schallplatte. Wir fragen uns sofort, wer diese Vinyldyke wohl ist. Gender? Rockstar! Stylevorbild? Axl Rose! Die Vinyldyke ist stark und unabhängig, steht bei Konzerten in der ersten Reihe und kennt immer die neuesten Under- groundveröffentlichungen. Bevor wir das Zine überhaupt aufschlagen, materialisiert sich eine Persona, die in der männerdominierten alternativen Musikszene dringend gebraucht wird. Stilistisch ist das in englischer Sprache verfasste Zine Klassikerin: Schwarz-Weiß-Kopien, Schreibmaschinenoptik, ergänzt durch ausgeschnittene Fotos und Comics. Hinter den Zines („Vinyldyke #1“ & „#2“) und dem gleichnamigen feministischen Label aus Berlin steht Evelyn Bastian. In bester Musiknerdinnen-Manier nimmt sie uns mit in ihren Kosmos, bespricht Platten und Konzerte, gibt Songwriting-Tipps, erzählt die Geschichten ihrer liebsten Bandshirts, macht Interviews und stellt uns Musiker*innen vor. Dabei teilt sie ihre eigenen Erfahrungen als Musikerin sowie als Fan. Musikalisch geht es um Grunge, Rock, Riot Grrrl und Bands wie L7, The Breeders oder Ex Hex. Trotz des kleinen Homopunk-Revivals der letzten beiden Jahre sind queere und lesbische Perspektiven auf Musik bis heute unterrepräsentiert. Umso wichtiger, dass es Liebhaber*innenstücke wie das „Vinyldyke“-Zine gibt!

Vinyldyke #1 und #2, 44 S., beide erschienen 2019, 2–4 Euro, vinyldyke.wordpress.com/zine

 

Mein lesbisches Auge #19
Von Kittyhawk

Missy 01/20

Das seit 1998 erscheinende „Jahrbuch der lesbischen Erotik“ ist so etwas wie die Perle unter den deutschen Publikationen rund um lesbische Sinnlichkeit. Herausgegeben von der sexpositiven Aktivistin Laura Méritt und erschienen in Claudia Gehrkes Kleinstverlag konkursbuch, versammelt das „Auge“ Prosa und Gedichte, Essays, Malerei und Fotografie, die im weitesten, durchaus genderfluiden Sinne um weibliche Sexualität und lesbisches Leben kreisen. In der diesjährigen Ausgabe geht es handfest zur Sache, wenn in Fantasystorys Fischschwänze gespalten und mit dem Schwert der Fürstin gevögelt wird – oder eher prosaisch mit einer Flasche Veuve Clicquot. Es wird romantisch beim Coming-out vor der Lehrerin mit den roten Stiefeln oder – klassische Lesbenfantasie – wenn die Lektorin endlich im schwarzen String dasteht. Im „Lesbischen Auge“, dem schon in den Achtzigern die Form der Klitoris kein Geheimnis war, gibt es keine Körpertabus: Menstruationsblut und Ejakulat dürfen fließen, nackte Schwangerschaftsbäuche sind sexy, faltige Haut und Gruppensex auch. In der vielfältigen Auswahl von ganz unterschiedlicher Qualität stehen Sexfantasien gleichberechtigt neben politischen Texten zu Klimakrise, Ehe für Alle und nicht-normativen Beziehungsmodellen; Porn-Filmstills stehen neben Dokumentarischem oder kunstvoller Fotografie, die keine Angst vor zu viel Drucker- schwärze hat. Keine Angst zu haben, sich ein eigenes, diverses Bild von weiblicher Erotik zu machen – das zeichnet „Mein lesbisches Auge“ aus.

Mein lesbisches Auge #19, 296 S., erschienen im Oktober 2019, 16,80 Euro

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/20.