Von Sibel Schick

Wir sind nun an einem Punkt angelangt, an dem Worte nichts mehr bedeuten.

Ein mutmaßlicher Täter, dessen Namen ich bewusst nicht erwähnen werde, tötete am 19. Februar in Hanau zehn Menschen. Neun davon nahm er aus rassistischen Motiven das Leben.

Als die Eilmeldung zu Hanau eintraf, suchte ich in den Nachrichten nach einem Hinweis zum Täter. Ein Angriff auf Shisha-Bars, in Deutschland stigmatisierte Orte, beunruhigte mich. Bekanntermaßen stehen Hinweise zum Äußeren oder der vermeintlichen Herkunft der Täter*innen in Presse- und Polizeimeldungen nur, wenn diese nicht weiß sind – à la „südländischen“ oder „nordafrikanischen Typs“.  Als ich keine Hinweise fand, war klar: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um einen rechtsextremen Angriff handelt. Weitere Nachrichten bestätigten dies.

©Tine Fetz

Der mutmaßliche Täter war ein Rassist mit Erlaubnis zum Waffenbesitz, weil er Mitglied in einem Schützenverein war. Wie konnte es so weit kommen, fragt sich die deutsche Öffentlichkeit. Eine der Antworten ist: Rassistische Äußerungen von weißen Deutschen bleiben in der Regel ohne Konsequenzen. Der Mann, der in Wächtersbach einen jungen Mann aus Eritrea anschoss, hatte seinen Plan beispielsweise offen und groß angekündigt. Das interessierte nur absolut keinen und niemand informierte die Polizei. Er konnte seinen Plan ungestört umsetzen.

„Das war die Tat eines psychisch Kranken! Er war verwirrt, hatte Wahnvorstellungen!“, sagt die deutsche Öffentlichkeit und atmet auf. Sie ist erleichtert, denn sobald Rassismus zur Krankheit erklärt wird, kann man sich zum einen sauber davon distanzieren, zum anderen hat man eine einfache Lösung gefunden, ohne sich anzustrengen. Doch so einfach ist es nicht. Rassismus in Deutschland ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und keine psychische Erkrankung.

Vor einer Weile traf ich mich mit Freundinnen in einer Bar. In unserem Gespräch ging es irgendwann um Shisha-Bars und eine der Freundinnen bezeichnete diese wiederholt als „Fotzenbars“. Dieses Wort verletzte mich sehr, denn damit hat sie Shisha-Bar-Besucherinnen gleichzeitig rassistisch und misogyn abgewertet. Jede Freund*innenschaft, die Menschen, die von Rassismus betroffen sind, mit weißen Menschen schließen, ist ein Risiko, Diskriminierungserfahrungen zu machen oder mindestens verletzt zu werden. Seitdem kam mir jeden Tag dieses Wort in den Sinn und schmerzte. Aber nach dem Anschlag in Hanau verwandelte sich mein Schmerz in Wut.

Hanau stellt Deutschland vor eine Prüfung und zwar nicht aufgrund der Dimension dieses Horrors, sondern auch, weil es so kurz vor Karneval passiert ist. Bereits kurz darauf kamen die ersten Karnevalsbilder an, auf Social Media und in Chatgruppen. Ganze deutsche Städte feierten so, als sei nichts passiert. Als hätte nicht ein Nazi aus der Mitte der Mehrheitsgesellschaft gerade erst neun Menschen ermordet. Als würden die alltägliche Abwertung und das Stigma von Shisha-Bars nicht damit zusammenhängen, dass diese zur Bühne von Bluttaten gemacht wurden.

Markus Söder sagte zwar seinen Faschingsempfang ab und die Stadt München folgte mit Absagen zu großen Karnevalssitzungen. Unter den Meldungen darüber regten sich jedoch viele auf: Eine Schweigeminute hätte gereicht, hieß es da u. a. Die Stadt München kündigte daraufhin an, dass die Feierlichkeiten doch noch stattfinden. Köln und Düsseldorf verkündeten, dass es in den Umzügen „Hanau-Wagen“ geben werde. Deutsche lassen sich ihren Karneval nicht nehmen, egal, wie viele eben erst durch einen rechtsterroristischen Anschlag ermordet worden sind. Angehörige der Opfer müssen sich mit Karnevalswagen mit Clowns oben drauf zufriedengeben.

Auch in Hamburg reichte eine Schweigeminute aus. Am Freitag nahmen dort laut Polizeiangaben 20.000 Menschen an der Fridays-for-Future-Demonstration teil, zur Demo am Samstag in Hanau waren es nur 6.000. Natürlich beschäftigten sich die Redner*innen in Hamburg auch mit Hanau, allerdings nebenbei. Denn das ist ein rassistischer Anschlag in Deutschland: ein Nischenthema. Welch ein Zeichen wäre gesetzt worden, wenn die Hamburger FFF-Demo sich an die in Hanau angeschlossen hätte! Aber Priorität war offenbar zu zeigen, dass FFF im Gegensatz zu den Beobachtungen von Kommentator*innen doch nicht stirbt. Menschen, die betroffen sind, können sich allerdings ihre Prioritäten nicht aussuchen. Bei ihnen geht es ums dringende Überleben.

Deutschland brennt. Die Bestandaufnahme der letzten zehn Monate zeichnet ein klares Bild: Ein Mann tötet Walter Lübcke, der Tatverdächtige ist ein bekannter Nazi. In Halle greift ein Rechtsextremer eine Synagoge an, tötet zwei Passant*innen. In Wächtersbach schießt ein Rassist auf einen jungen Mann aus Eritrea. In Halle wird auf das Büro des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby geschossen. Ein rechtsextremes Netzwerk, das wohl plante, in zehn Bundesländern Moscheen anzugreifen, um dort Betende zu morden, wird aufgedeckt, zwölf Männer werden festgenommen. Ein Mann in Hanau erschießt zehn Menschen, neun davon aus rassistischen Motiven. Zwei mutmaßliche Brandanschläge in Döbeln – in Gebäuden, in denen sich eine Shisha-Bar und ein Döner-Imbiss befinden. Schüsse auf eine Shisha-Bar in Stuttgart. Die letzten beiden Vorfälle erst drei Tage nach Hanau. In diesem brennenden Deutschland sind also nicht alle gleichermaßen schutzlos. Deshalb ist es auch völliger Quatsch zu sagen, dass dies Angriffe „auf uns alle“ seien.

Während deutsche Medien die Namen der Angehörigen von den Opfern und anderen Interviewten ständig verwechselten oder falsch schrieben und u. a. AfD-Politiker*innen dazu interviewten, fielen relativierende Fragen wie, ob „Multikulti gescheitert“ sei. Sigmar Gabriel fuhr in einem Tweet schamlos den Hufeisenkurs und setzte den Hanau-Anschlag mit brennenden Mülltonnen gleich. Kaum eine Kultur- oder Sportveranstaltung wurde abgesagt, die Normalität blieb ungestört. Das ist die Wertschätzung, die den Opfern, ihren Angehörigen und allen, die Angst um ihr Leben haben müssen, gezeigt wird: Betroffenen Menschen bleiben Schweigeminuten, Karnevalssitzungen, dreiste Fragen und entmenschlichende Thesen. Sie werden mit ihrer Wut und Angst alleine gelassen.

Bei einem Terroranschlag, der sich auf die weiße Mehrheitsgesellschaft gerichtet hätte, wäre die Reaktion womöglich anders ausgefallen. Die Opfer wären echte Menschen mit eigener Geschichte und Persönlichkeit, es wären Individuen. Man sollte keine Opfer gegen andere ausspielen, hier geht es um etwas anderes: Der Schmerz wird unterschiedlich bewertet. Deshalb findet das Glücksbärchen-Aktivismusvideo mit dem Schauspieler Lars Eidinger, in dem er in Bezug auf Hanau von Liebe spricht und dabei weint, mehr Resonanz als Videos von betroffenen Menschen, in denen sie konkret über rassistische Strukturen sprechen und Konsequenzen einfordern. Anschläge mit nicht weißen Opfern werden nicht als Katastrophen wahrgenommen, sie lösen keine flächendeckenden, konsequenten, substanziellen Reaktionen in der Mehrheitsgesellschaft aus. Selbst in so einer Situation wird betroffenen Gruppen kaum zugehört. Solidarität bleibt vereinzelt und nicht bedingungslos, sondern wird verknüpft mit der Menge an Wut in der Person, die spricht. Kann sein, dass du gerade deinen Cousin verloren hast oder Angst um dein Leben hast, aber bloß nicht aggressiv darüber sprechen und von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft klare Position einfordern. Wo würden wir denn sonst landen?

So wird die Botschaft eindeutig: „Euer Schicksal interessiert uns zwar ein bisschen, aber nicht sehr, nicht immer, nicht überall. Wir sehen ein, dass es schlimm ist, was in Hanau passiert ist, möchten aber keine Rücksicht nehmen, sondern einfach in Ruhe feiern. Und wenn das schlechte Gewissen ballert, waschen wir es mit Videos weißer, weinender Schauspieler rein.“ Das macht Menschen, die ohnehin zur Zielscheibe gemacht werden, anfälliger für weitere Angriffe. Das bestätigen auch Döbeln und Stuttgart.

Die weiße Mehrheitsgesellschaft fühlt erst Betroffenheit, wenn sie selbst betroffen ist, wenn Weiße bewusst als Ziel gesetzt werden. Alles, was nicht weißen Menschen passiert, bleibt zunächst erst mal zweitrangig. Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland sind nicht überrascht über die letzten Ereignisse. Wenn die Mehrheitsgesellschaft überrascht ist, liegt das nur daran, dass sie bisher nicht zugehört und konsequent weggeschaut hat.