Von Debora Antmann

Erst Halle, dann Hanau. Angst, Tod, Verlust, Trauer. Nach Halle habe ich gefleht, dass uns zugehört wird. So viele von uns haben versucht wachzurütteln – zwischen Wut und Angst und Verzweiflung. Nun Hanau. Halle scheint verraucht bei jenen, die es nicht betrifft. Dabei waren doch angeblich wir alle gemeint. Nach Hanau sind Tausende auf den Straßen. Doch für wie lange?

Jüdische Trauer währt ein Jahr*. In Deutschland gelten allerdings schon ein paar Wochen Trauer schnell als Depression. Das sagt doch schon alles. Wer nicht trauert um Gökhan Gültekin, Ferhat Ünvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Hamza Kurtović, Kalojan Welkow, Vili Viorel Păun und Said Nesar Hashemi, wird sie vergessen und mit ihnen den Umstand ihres Todes, die Bedrohung. Rechter Terror.

©Tine Fetz

Im Judentum vergessen wir die Toten nicht, sonst lassen wir sie ein zweites Mal sterben. Das hat nichts mit Selbstkasteiung oder Leidenskultur zu tun, sondern ist die Verantwortung unseren Communities gegenüber. Eine Geschichte der Verfolgung und der Gewalt bedeutet auch, Verlust als Teil von Community-Arbeit zu verstehen und zu integrieren. Deswegen kümmern wir uns um die Toten und um die Hinterbliebenen. Deshalb ist Abschied Community-Angelegenheit und nicht nur zwei Stunden Beerdigung. Trauern bedeutetet Schmerzen zu teilen und gemeinsam zu heilen oder auch nicht zu heilen.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Im Judentum hat man verstanden, dass Trauer, Verlust und Schmerz Zeit brauchen – und Gemeinschaft. Wir begleiten die Toten und die Zurückgebliebenen, begleiten den Schmerz, den eigenen und den der anderen, wir zerreißen unsere Kleider.

In Schland bedeutet Trauer Dysfunktion und Dysfunktion ist schlecht. Unter wc-Deutschen ist Trauer die Trauer des Einzelnen, weil eine Mehrheit nicht auf Community angewiesen ist. Aber das bedeutet auch, hier erinnert man sich nur zu Weihnachten an die eigenen Verwandten. Und der Schmerz über das Geschehene sitzt nicht nur nicht tief, weil wc-Deutsche nicht bedroht sind, sondern weil sie auch nicht verstehen, wie es ist mehr zu sein, als das eigene Fleisch und Blut. Sie werden nicht verstehen und dann vergessen. Und wer nicht vergisst ist depressiv.

Es mischt sich Trauer mit Angst und Verzweiflung. Ich möchte eure Hände halten, Siblings. Euch sagen, ich höre euch, sehe euch, teile die Trauer und die Verzweiflung. Verzweiflung, weil wc-Deutsche den Ernst der Lage immer noch nicht verstehen. Nicht sehen, wie schlimm die Zustände sind. Wie auch, wenn die Messlatte Gaskammern und Vernichtungslager sind und alles darunter in Verhältnismäßigkeiten zu verschwinden scheint.

Mit der Shoah hat sich Deutschland das eigene Extrem geschaffen, die Zielgerade der Eskalation. Dahin soll Deutschland nie wieder kommen. Die Maßstäbe gingen damals verloren und wurden nicht wiedergefunden. Alles darunter scheint zu verrauchen. Dabei stecken wir schon wieder inmitten der Eskalation. Jedes Mal ein Stückchen weiter. Wir betrauern Tote. Brüder und Schwestern, Söhne, Töchter, Freund*innen, Siblings. Aber während wir die Tränen schwer und ohrenbetäubend auf’s Asphalt prallen hören, ist der Rest des Landes wieder mit Karneval-Kater beschäftigt. Oder mit Ostern. Jesus ist schließlich auch tot.

(*wer klugscheißen will: Ja oder 30 Tage je nach Beziehung, trotzdem bleibt das Jahr ein Meilenstein und die Frage ist, wie man Trauer definiert…)