Dystopie im Kinderzimmer
Von
Der Super-GAU
Von Sonja Eismann
Öde Kleinstadtidyllle, intakte Kleinfamilie, letzte Blütezeit wohlfahrtsstaatlicher Arrangements. So harmonisch war das in den späten 1970ern und frühen 1980ern. Dennoch gab es in meiner süddeutschen Kindheit ein großes Bedrohungsszenario: den atomaren Super-GAU. Ich weiß noch, wie ich mit meiner Nachbarin in ihrem Sarah-Kay- Jugendzimmer Bücherei spielte und wir hörten, Ronald Reagan habe auf den roten Knopf gedrückt. Nun beginne die atomare Vernichtung der Sowjetunion. Und die Bücher: Ich wuchs mit Dystopie-Hämmern wie „Die letzten Kinder von Schewenborn“ von Gudrun Pausewang auf, in dem Fulda nach dem Abwurf einer Atombombe geschildert wird – und
in dem, um nur eine von zahllosen Monstrositäten zu nennen, die Mutter des kindlichen Erzählers nach der Geburt eines Babys in Ruinen stirbt und der Vater das Baby sogleich tötet, weil es durch die Strahlung extreme Missbildungen aufweist. 1986 sah ich mit meiner besten Freundin den süßgezeichnetenZeichentrickfilm„WhenThe Wind Blows“, in dem zur Musik von Roger Waters ein liebes altes Ehepaar an den Folgen des Atomkriegs zugrunde geht. Da passte es gut, dass sich im selben Jahr im Kernkraftwerk Tschernobyl tatsächlich eine atomare Katastrophe ereignete und wir uns genau überlegen mussten, was wir essen, wo wir hingehen, wie wir spielen. Einmal, noch vor Tschernobyl, wachte ich nachts auf, als meine Eltern eine Party gaben. Ich schlich mich ins Wohnzimmer, setzte mich meiner Mutter auf den Schoß und flüsterte ihr ins Ohr, ich hätte solche Angst vor einem Atomkrieg. Leider, meinte sie liebevoll, könne sie da auch nichts machen. Seitdem bin ich für erdumspannende Dystopien besonders anfällig: AIDS, Terror, Rechtsruck…