Von Sibel Schick

Es ist Anfang Februar 2020. Mein Wecker klingelt. Ich schalte ihn aus und sage mir: Du musst aufstehen, du musst zur Arbeit. Und dann sage ich mir: paar Minuten noch. Ich schlafe ein.

Mein Wecker klingelt. Ich schalte ihn aus. Ich sage mir: Du kommst zu spät zur Arbeit. Steh auf, koch dir einen Kaffee und fahr los. Mein Körper ist schwer wie ein Stein. Ich schlafe ein.

Mein Wecker klingelt. Ich stehe auf, koche mir einen Kaffee. Ich ziehe mich an, gehe los, nehme die Bahn, steige aus, laufe noch circa 15 Minuten.

“İçimden şehirler geçiyor,
Her durakta duruyor, inmiyorsun.”
– Feridun Düzağaç

©Tine Fetz

Auf dem Weg höre ich meine Heimweh-Playlist mit türkischer Popmusik und das Heimweh tritt wie ein Arschloch. Wer hätte das gedacht.

Ich laufe zur Arbeit und weine. Es regnet, ich habe meine Kapuze an. Niemand sieht mein Gesicht. Es sind nur wenige Menschen unterwegs, trotzdem soll das niemand sehen. Im Sommer helfen eine große, schwarze Sonnenbrille und ein knallroter Lippenstift, den Kummer von der Welt zu verheimlichen. Wie eine Maske. Im Winter eben eine Kapuze. Es regnet eh.

“Yağmur bulutu unutursa,
Dalında çiçeği kurutursa,
Yar benden utanırsa,
Düşündüm, düşümden ayrı kaldım.”
– Sibel Alaş/Mustafa Sandal

Ich weiß noch, wie mir meine Tante vor über zehn Jahren erzählte: „Meiner Arbeitskollegin wurde ein Bein amputiert. Als ich es erfuhr, wollte ich nur mit der Faust auf meine Brust hauen und weinen. Aber Gefühle haben keinen Raum in Deutschland.”

Ich denke an zu Hause. An die Straßen, die Farbe der Steine, der Wände. Ich denke an die Bäume, an den Himmel, an die Autos, die die Straßen meiner Kindheit entlangfahren, hupen, so fahren, als wären sie allein auf der Welt, als würden sie dich bewusst überfahren wollen. Ich denke an meine Freundin Melike, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich denke an den Strand, an die Berge. An die Wärme, die Hitze. Die Musik sticht wie ein Arschloch.

“Eğil dalga, bükül demir,
Güzelliğin gerçek değil.
Pencerem kör, kapım kitli,
Bu bendeki seyir değil.”
– Zülfü Livaneli/Ahmet Çuhacı

Ich komme auf der Arbeit an. Ich lächle alle an, sage Hallo, setze mich an meine Arbeit, schreibe zwölf Seiten voll. Ich trinke einen Kaffee, esse was, schreibe weiter. Ich mache Feierabend, gehe los. Kapuze und Kopfhörer an. Ich laufe nach Hause. Ich saß den ganzen Tag am Schreibtisch, mir ist nach Laufen.

Ich höre Musik und träume von einer Gegenwart, die es nicht gibt, bis meine Gedanken anfangen, um die Vergangenheit zu kreisen. Ich denke an das letzte Mal, als ich zu Hause war. Ich denke an den letzten Mokka, den ich getrunken habe. Ich saß draußen an einem Café an einem Hafen in Istanbul. Es war sehr warm, sehr sonnig, ein wenig windig. Es war der 15. Juli 2016. Es war einfach perfekt.

Ich war früher an diesem Tag erst in Istanbul angekommen, sollte hier drei Monate ein Redaktionspraktikum machen. Nach meiner Ankunft am Morgen brachte ich meine Sachen ins Zimmer, das ich gemietet hatte, und ging spazieren. Auf dem Weg traf ich ein paar Katzen. Der Weg war hügelig. Istanbul ist eine sehr katzige und hügelige Stadt. Als ich am Hafen ankam, setzte ich mich in den Außenbereich eines Cafés und bestellte mir einen Mokka und ein Mineralwasser. Der Wind in meinem Haar roch nach Meer. Ich war so glücklich.

“Senden uzakta hep bir şeyler eksik,
Gönlümde derman yok inan bir nefeslik.
Ne bir avuntu, ne de biraz ümit,
Ne yaptın bana? Nedir bu sessizlik?
İçimde bir şey acıyor sen gelince aklıma – her şeyim.”
– Gökhan Kırdar

Später am Abend trank ich Bier mit meinen Kumpels in Taksim und das Militär versuchte zu putschen. Ich fuhr mit einem meiner guten Freund*innen in seine Wohnung. Wir wussten nicht, ob morgen die Polizei oder das Militär die Macht haben würde. Keine dieser Alternativen war optimal. Das Militär wurde verhindert. Sechs Tage später brach ich mein Praktikum ab und flog zurück nach Deutschland. Seitdem war ich nicht mehr zu Hause.

Jetzt bin ich in Deutschland. Nach der Arbeit laufe ich nach Hause und höre dabei meine Heimweh-Playlist. Wenn ich zu Hause ankomme, spielt die Playlist weiter, während ich koche. Die Musik verletzt wie so ein richtiges Arschloch. Ich weine beim Kochen. Ich mache die Herdplatte aus und setze mich hin. Und schreibe: Alle Menschen, die ich je geliebt habe, sind so weit weg. Alles, was ich je erlebt habe, liegt so weit zurück. Ich habe das Gefühl, hier ausgelöscht zu werden. Das macht das mit dir. Nicht nur deine Vergangenheit wird ausgelöscht. Auch deine Gegenwart wird dir genommen. Die Welt dreht sich weiter. Nur, ich verstehe nicht, wieso.

Vor einigen Wochen schrieb mir eine Freundin über Facebook. Ich weiß nicht, wie viele Jahre, nachdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Sie sagte sie mir, dass sie mich vermisst. Ich hätte gedacht, dass sie mich längst vergessen hätte. Sie schrieb mir, dass sie immer an mich denken muss, wenn sie zu lange auf ihre Katze starrt. Das heißt: Sie erinnert sich. Unsere gemeinsamen Erinnerungen leben noch. Ich lebe quasi bei ihr zu Hause, bin Teil ihres Haushalts, Teil ihrer Katze. Das tut gut. Tut aber auch weh. Sie hat geheiratet, ich war auf ihre Hochzeit eingeladen, konnte aber nicht hin. Ich habe so ein schlechtes Gewissen, ich will nicht, dass sie denkt, dass ich sie nicht besuche, weil ich sie nicht mehr liebe. Es ist einfach kompliziert.

Ich sitze da auf der Couch und denke an ein anderes Leben. Das Heimweh tritt. Wie so ein Arschloch.

“Sen bir yerlerde,
Ben bir şehirde,
Akşam olunca,
Beni hatırla.”
– Ayşegül Aldinç/Nazan Öncel