Die Menschheit ist so unkreativ, dass es wehtut.
 Als 1348 die Pest in Europa ausbrach, war eine der beliebtesten Verschwörungstheorien, dass „die Juden“ die Brunnen vergiftet hätten, um so die gesamte nicht jüdische Bevölkerung zu vernichten. Untermauert wurde diese steile These von dem Umstand, dass deutlich weniger Jüd*innen als Christ*innen erkrankten, was aber vor allem daran lag, dass Jüd*innen durch das Bad in der Mikwe weniger wasserscheu waren. Ich sage nur 2x „Happy Birthday“ singen …

©Tine Fetz

Jetzt sollte man meinen, dass in den letzten 670 Jahren die Menschheit gewachsen ist. An sich selbst meine ich. Und über sich selbst hinaus. „Mittelalterliche Vorstellungen“ sollten eine Redensart sein, doch jedes Mal, wenn irgendwo Menschen an etwas erkranken oder gar sterben, kriechen die Verschwörungsfanatiker*innen aus ihren Ecken und packen ihre modernen Versionen des mittelalterlichen „Die Juden haben die Brunnen vergiftet“-Mythos aus. Normalerweise irgendwo im Internet, wo es niemanden interessiert und man nur ab und an mal aus Versehen drüber stolpert. Doch seit Corona schwappt mehr und mehr von diesem antisemitischen Müll in meine gut sortierten Timelines. Wildeste Verschwörungsnetze, die mal subtil, mal ganz offenkundig Corona als Waffe, Gift, Vernichtungs- oder Politstrategie von wahlweise „den Juden“, „Israel“ oder „den Zionisten“ herbeikonstruieren (übrigens auch anderen vermeintlichen Feindbildern). Phrasen wie „So ein Virus entsteht nicht einfach“ sollen beweisen, dass nur eine „Supermacht“, die die Weltherrschaft an sich reißen möchte, diesen Virus auf die Menschheit losgelassen haben kann.

Ich bin keine Virologin und kann euch nicht sagen, wie Viren entstehen, aber was ich sagen kann: Kolonialismus, Industrialisierung, Globalisierung, Kapitalismus, Rassismus etc. reichen vollkommen, um aus einem Virus eine Pandemie zu machen. Statt aber gemeinsam Verantwortung zu übernehmen und zu reflektieren, welche gesellschaftlichen Strukturen Pandemien auch historisch für wen schon immer besonders gefährlich gemacht haben, setzen weiße, christlich-sozialisierte Menschen (im Folgenden wc’s) ihren feinsten Aluhut auf und tragen ihre solidesten Ismen zu Schau. Schillernder Rassismus wird mit schickem Vintage-Antisemitismus kombiniert. Und für den guten Herrenrassen-Flair wird dann noch argumentiert, warum man die Alten und Kranken doch einfach krepieren lassen sollte. Es ist ist wie eine Reise durch die Jahrhunderte: 1348, 1884, 1933. Man glaubt daran, das eigentliche Opfer zu sein, während man Klopapier und Konserven hortet, die Grenzen dichtmachen möchte und nach der Staatsgewalt schreit. Den eigenen Vorgarten verrammeln und wilde Theorien aufstellen, wer den Brunnen vergiftet hat, den bösen „Supermächten“ die Schuld geben und nach der starken autoritären Hand winseln – wc’s, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen.

Die Gefahr an diesem Verhalten ist, dass es anschlussfähig ist. Und während für einige von uns abstruse Verschwörungstheorien zur jüdischen Weltübernahme durch Corona vielleicht lächerlich klingen, können Jüd*innen ein Lied davon singen, wie viele Menschen diese Erklärung gerne annehmen, um einen Schuldigen für ihr Leid und ein Ziel für ihre Angst zu haben. Und nicht nicht jeder Content, der sich diesem antisemitischen Motiv bedient, ist so obvious. Oft ist es viel subtiler eingeflochten und kommt als unauffällige Frage daher wie etwa: „Warum arbeitet Israel schon seit einem Jahr an einem Impfstoff?“ Die Idee, dass jüdische Geschäftsleute hinter Corona stecken oder Corona nutzen, um Profit zu schlagen, ist nur eine Variation des antisemitischen Kanons, den wir aus allen gesellschaftlichen Ecken singen hören, und er tönt aktuell laut durch die sozialen Medien, doch gesprochen wird darüber wenig. Ich glaube, weil die einen es zu plump finden, um es ernst zu nehmen, und die anderen es gar nicht erkennen. Aber ist diese Kombi nicht die größte Gefahr?

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Liebe Grüße aus meinem geheimen Superlabor
Eure jüdische Viro-Kolumnistin