Von Juri Wasenmüller

Der Gedanke an Geld, deutsche Behörden und der dazugehörende Papierkram versetzt mich regelmäßig in Panik. Zuletzt beim Thema Corona-Soforthilfe.

Ende März gab es in Berlin für ein paar Tage die Möglichkeit, als Selbstständige*r relativ unkompliziert 5000 Euro zur „Überwindung einer existenzgefährdenden Wirtschaftslage“ zu beantragen. Ich habe das Geld nicht beantragt. Weil ich dachte, dass die 780 Euro, die ich mit meiner Festanstellung verdiene, doch reichen. Ich fühlte mich nicht existenzbedroht, weil nur ein paar Aufträge als Selbstständige wegbrachen, die ohnehin keinen großen Unterschied machen. Ich bin es gewohnt, von unter 1000 Euro zu leben, und dachte, andere Menschen brauchen das Geld viel dringender.

Soweit meine Logik, bis zu dem Moment als der 5000-Euro-Cashflow fürs Erste eingestellt wurde. Viele Menschen in meinem Umfeld hatten das Geld mittlerweile auf ihren Konten. Bei manchen kamen Zweifel auf, ob es nicht doch zu nachträglichen Prüfungen und gegebenenfalls Rückforderungen vom Finanzamt kommen würde. Ich sagte zu all dem wenig, denn mir wurde erst bei diesen Gesprächen bewusst, dass ich meine Chance auf 5000 Euro verpasst hatte.

© Tine Fetz

Natürlich ist es gut, dass es eine schnelle Soforthilfe für Freiberufler*innen und Kleinunternehmen gab. Aber es macht mich wütend, welche Menschen mit Selbstverständlichkeit das Geld abgreifen und wer hinten runterfällt: Die Infos der Berliner Soforthilfe waren in der ersten Antragsphase nur auf Deutsch zugänglich. Wie haben Menschen, die nicht in den Sozialen Medien unterwegs oder nicht gewerkschaftlich organisiert sind oder z. B. kein Internet haben, von den Corona-Zuschüssen erfahren? Daran schließt die Frage an, wer überhaupt freischaffende*r Künstler*in ist und was mit all den Menschen ist, die von Vornherein aus den staatlichen Zuschusspaketen ausgeschlossen waren: Hartz-IV-Bezieher*innen, prekarisierte Rentner*innen, Inhaftierte, Menschen ohne festen Wohnsitz oder illegalisierte Menschen, die teilweise in überfüllten Lagern leben. Diese Gruppen sind von der COVID19-Pandemie am stärksten betroffen.

Ich weiß, dass Kapitalismus eben ungerecht und Deutschland ein rassistisches und klassistisches Land ist. Dennoch überwiegen die Gedanken, die Schuld über meine scheinbare Unfähigkeit im Umgang mit Geld und Behörden bei mir selbst zu suchen.

Der klassische Shitstorm an Klassismus- und Migrant*innenkomplexen geht los. Auf „das wäre die Chance auf einen neuen Laptop gewesen“ folgt schnell ein Gefühl allgemeinen Versagens von „ich bin einfach dumm, wenn ich das Game immer noch nicht verstanden habe. Ich habe Leute um mich rum, die ich hätte fragen können. Ich spreche fließend Deutsch, ich habe studiert. Was ist also bitte mein Problem mit drei Klicks auf der Homepage einer Bank?“Ich bin damit aufgewachsen, dass man sich als Migrant*in bloß nicht zu viel rausnehmen sollte. Dass es besser ist, wenig zu haben und unsichtbar zu bleiben, als das Vorurteil der „Sozialkassen plündernden Ausländer“ zu reproduzieren. Meine Eltern sind immer noch stolz darauf, dass sie staatliche Unterstützungsleistungen abgelehnt haben, als sie in den 90ern aus der Sowjetunion nach Deutschland kamen. Stattdessen haben sie „lieber“ zu sechst in einer kleinen Wohnung gelebt und sind arbeiten gegangen. Mein Vater hat beschissene Baustellen- und Montagejobs angenommen, teilweise mehrere gleichzeitig. Wenn meine Eltern krank sind, bleiben sie erst zu Hause, wenn es wirklich nicht mehr geht.

Die „Arbeitsmoral“ von Migrant*innen und BIPOC ist eine Folge von Diskriminierung. Deutschland zählt seit Jahrzehnten auf genau diese günstigen Arbeitskräfte, die für Selbstausbeutung unter dem Deckmantel von „Integration“ zu haben sind. Und selbst wenn ich all das rational verstehe, bleibt emotional die unbegründete Angst vor Behörden und das ständige Gefühl, bestimmt irgendetwas nicht bedacht oder falsch gemacht zu haben und dafür nachträglich gebustet zu werden. Also lieber keine Forderungen an den Staat stellen und einfach ein bisschen mehr arbeiten, wenn ich auch mal ein MacBook besitzen will. Ich arbeite eben auch nicht 40 Stunden im Büro. Ich rede mit meiner Therapeutin über die Zukunftsangst, die diese Corona-Zuschuss-Geschichte in mir ausgelöst hat. Denn der Strudel hört nicht beim MacBook auf, sondern wird viel existenzieller: Will ich wirklich mein Leben lang für linke Zeitungen schreiben und mich mit einem Gehalt um die Armutsgrenze herum abfinden? Eigentlich kann ich mir das nicht erlauben. Sind meine Eltern dafür nach Deutschland gekommen? Ich werde sie im Alter nicht unterstützen können. Warum habe ich nicht doch etwas Richtiges studiert? Ein MacBook ist nichts im Vergleich zum andauernden Schuldbewusstsein gegenüber der Herkunftscommunity: Sie haben auf mich gesetzt und aus mir ist doch nichts geworden. Meine Therapeutin hört zu und sagt dann, obwohl sie so was ja eigentlich nicht machen sollte, dass mehrere ihrer Kolleg*innen den Zuschuss beantragt und bekommen hätten, weil ein paar Patient*innen abgesprungen seien. Ich weiß nicht, wie viele Tausender diese Psycholog*innen im Monat verdienen. Sie würden es wahrscheinlich auch nicht transparent machen, denn in Deutschland spricht man nicht über Geld.

Ich sitze also im Telefon-Therapiegespräch und denke: „Nice, jetzt kann ich mich also tiefenpsychologisch damit auseinandersetzen, wie ich mit den Selbstzweifeln umgehe, die eine Gesellschaft produziert, die dich immer weiter verarscht, solange du nicht endlich so scheiße und dreist bist wie viele andere, die sich immer zu Hause und was wert gefühlt haben in diesem Land.“ Und dann kann ich denken, dass ich zumindest moralisch auf der richtigen Seite stehe. Und dann kann ich einen Text schreiben und all das verarbeiten. Aber an den materiellen Verhältnissen wird sich nichts ändern. Die, die viel haben, bekommen mehr und die, die nichts haben, werden arm bleiben. Die Erkenntnis ist banal und Leute, die so aufgewachsen sind wie ich, haben es spätestens in der Grundschule verstanden. Trotzdem wirft mich diese selbstverständliche Ungerechtigkeit als Erwachsene immer wieder aus der Bahn.

Nach dem Therapiegespräch rufe ich meine Eltern an. Ich erzähle von den verpassten 5000 Euro, von meinem niedrigen Einkommen, dass ich überlege, noch mal zu studieren. Meine Mutter fragt mich nur, ob ich denn gesund sei, das sei doch die Hauptsache. Irgendwie geht es mir damit besser. Ohne Armut zu romantisieren und den ganzen „Geld macht eh nicht glücklich“-Bullshit bin froh darüber, dass meine Familie keine spießigen, selbstbezogenen und bürokratieabfeiernden Kartoffeln sind. So zu werden sind die 5000 Tacken auf keinen Fall wert.