Von Christian Schmacht

Ich träume Nacht für Nacht vom Bordell. Es ist immer das gleiche, im wachen Leben nicht existierende Gebäude: dunkle Gänge mit Teppichboden, viele Stockwerke, eine verwirrende Architektur und ein altmodischer, verstaubter Glamour. Die anderen Sexarbeiter*innen sind schön und ich bin unvorbereitet. Den ganzen Traum über habe ich im Hinterkopf, dass ich mich noch schnell irgendwie duschen, schminken, rasieren oder umziehen muss, bevor ich zu meinem Kunden gehen kann. Bis ich das geschafft habe, irre ich von Zwischenfall zu Zwischenfall und bevor ich es jemals schaffe, meine Arbeit zu machen, wache ich auf. 

©Tine Fetz

Ich habe die Gedanken zu dieser Kolumne schon seit Monaten. Vor Corona habe ich mich geschämt, sie auszuformulieren. Seit ich aber nur noch zu Hause bin und darüber nachdenke, dass die Welt größere Probleme hat als die Frage, ob meine Gedanken und Gefühle vielleicht peinlich sein könnten, hab ich diese Scham überwunden. Die selbstgedrehten Pornos, die ich ins Internet gestellt habe, die ehrlich gesagt ziemlich schlecht sind und die bisher auch noch niemand kaufen mochte, haben vielleicht auch geholfen. Mein Schamgefühl ist so aufs Kleinste reduziert worden wie die Versammlungsfreiheit unter der Ausgangssperre. 

Tagsüber träume ich auch vom Bordell.

In Zeiten, in denen ich sozial relativ isoliert lebe, sehne ich mich immer nach der Sexarbeit. Nicht nach den Kolleg*innen im Bordell, sondern nach dem Körperkontakt mit meinen Gästen. Vielleicht lebe ich auch nicht sozial isoliert, sondern körperlich. Auch vor Corona vergingen oft Wochen, in denen ich zwar hier und da eine ritualisierte Begrüßungsumarmung erlebte, aber nicht genügend körperliche Nähe, die ich als Mensch brauche, damit es mir gut geht. Ich bin oft traurig und einsam zur Arbeit gegangen und nach Feierabend ging es mir besser. Ich glaube, die Berührungen, die körperliche Arbeit, tragen dazu bei. Ich denke dann, hoffentlich nimmt der nächste Kunde die Extras, die ich normalerweise cringy finde, wie Girlfriendsex, küssen, streicheln, blablabla. Wenn er das Geld nicht ausgeben will, dann lasse ich mich trotzdem küssen und streicheln. Wer ist auch sonst zärtlich zu mir? Hinterher sage ich: „Das war eine Ausnahme! Normalerweise müsstest du dafür so und so viel extra zahlen!“, damit er nicht denkt, es wäre immer so paradiesisch mit mir. 

Ich möchte in dem Moment keine echte Nähe zu diesen Menschen. Ich will nicht, dass sie irgendwas über mich wissen, und ich will auch sie nicht besser kennenlernen. Ich sage ihnen ja nicht mal, dass ich etwas von ihnen nehme. Sie wissen es nicht. Sie sind mit ihren Gedanken bei sich. Ich denke, viele cis Männer kennen als Ausdruck ihrer Einsamkeit nur das sexuelle Verlangen und sie kommen nicht für den Orgasmus in den Puff, sondern um mal wieder jemandem nah zu sein. Jedoch sind die Wünsche und Bedürfnisse der Freier nicht Gegenstand meiner Texte. Niemand hält sie davon ab, ihre eigenen feministischen Kolumnen zu schreiben. 

Die Unverbindlichkeit dieser Fake-Nähe, oder besser: Kurz-Nähe machen sie so attraktiv. Sie bleibt mein Geheimnis. Ich muss der anderen Person mein Bedürfnis, also meine Bedürftigkeit, nicht eingestehen. Mein Image von dem unabhängigen Individuum wird nicht angekratzt. Vor allem vor mir selbst, denke ich. 

Derzeit kann ich diese konsumierbare Kurz-Nähe nur schwer bekommen. Ich muss die verschiedenen Stadien der Einsamkeit aushalten: die erste Zeit, in der sie mir kaum auffällt – schließlich bin ich online ständig mit Freund*innen in Kontakt. Dann die Puff-Sehnsucht, die sich in Bordellträumen äußert. Dann das Gefühl, mit den Füßen nicht mehr auf dem Boden der Tatsachen zu stehen, mich nicht mehr richtig im Hier und Jetzt verorten zu können. Gibt es mich noch? Oder bin ich ein Hologram geworden?
Ein kurzes High, als ich zur Begrüßung eine Isolationsfreundin umarme und wir beide vor Freude loslachen. Der Neid auf die Familien, die ich draußen sehe. Die haben einander. Laufen überall zusammen hin, halten Händchen und all das. Und gleich danach der Schrecken vor diesem Einanderhaben, denn es ist ja wirklich ein Haben. Sie haben übereinander die Gewalt. 

Die Familie ist ein Abhängigkeitsverhältnis mit hierarchischen Strukturen. Das trifft nicht nur auf cis-hetero-Familien zu. Manchmal ist dieses Abhängigkeitsverhältnis in queeren Familien stärker, weil mensch sich nach außen ständig gegen Angriffe verteidigen und behaupten muss und weniger Unterstützung vom Umfeld erfährt. 

Ich befinde mich nicht in einer Paarbeziehung und habe keine Kinder. Ich lebe allein und mein Zuhause ist ein sicherer Rückzugsraum. Und doch spüre ich die Ausfransungen jener Gewalt. Sie steigt an. Spannungen, die ich sonst mit einem Lächeln überbrücken würde, werden zu Streits. Wut, die ich vorher verarbeiten konnte, hält mich nachts wach. Freund*innen berichten von der Eskalation in ihren Beziehungen. Die offiziellen Zahlen zur sogenannten häuslichen Gewalt, die ansteigt, kennen wir und denken uns die Dunkelziffer dazu. 

Die Mangelhaftigkeit unserer Beziehungen wird deutlicher und vor allem massenhaft sichtbar. Kurzfristige und nicht ausreichende Alternativen, die diesen Mangel füllen sollen, so wie mein heimlicher Konsum von Kurz-Nähe, stehen nicht zur Verfügung oder reichen nicht aus, um der Anspannung gerecht zu werden. 

So sieht es nicht aus, das Leben, von dem ich träumen möchte.