Von Sibel Schick

Seit Beginn der Corona-Krise graben Nazis ihre Waffen aus ihren Verstecken aus, der Verfassungsschutz warnte bereits vor Wochen vor neuen Anschlägen. In Waldkraiburg/Bayern wurden innerhalb von zehn Tagen drei Läden angegriffen, alle drei Inhaber*innen haben einen Türkeibezug: Am 17. April wurden einem Friseurladen die Scheiben eingeschlagen, der Laden sei zudem mit Öl und Dreck „verunreinigt“, sagt die Inhaberin Özlem Orhan. Am 18. April gab es einen Angriff auf eine Pizzeria, dort wurden ebenso die Scheiben eingeschlagen und die Wände bespritzt. „Eine schmierige Flüssigkeit, wahrscheinlich Schweinekot“, so der Betreiber Erkan Artuk. Am 27. April folgte der Brand eines türkischen Lebensmittelgeschäfts, dessen Inhaber mit türkischer Zuwanderungsgeschichte anonym bleiben möchte. Die Polizei geht von Brandstiftung aus und ermittelt in Richtung Terrorismus.

@Tine Fetz

Wenn betroffene Menschen mit weißen Deutschen über Rassismus sprechen, lehnen diese es üblicherweise ab und suchen andere Gründe für das rassistische Verhalten ihrer Mitdeutschen. Das ist nicht nur ein Alltags-, sondern auch ein mediales Phänomen. Am 28. März berichteten WDR, NDR und „SZ“, dass das BKA den Anschlag in Hanau nicht als rechtsextrem einstufe. Das BKA stellte es am 31. März richtig: Es gebe noch keinen Abschlussbericht, der Anschlag werde aber sehr wohl als rassistisch und rechtsextrem eingestuft. Das reichte deutschen Medien aber nicht. So ließ „Die Zeit“ am 22. April den psychiatrischen Gutachter Hans-Ludwig Kröber zu Wort kommen, der die These stellte, dass der Hanau-Täter sehr wohl ein Rassist war, die Tat aber nicht aus rassistischen Gründen ausgeübt habe. Seine Motivation sei lediglich der Verfolgungswahn. Ja, der Arme.

Deutsche sind also immer bereit, ihren Mitdeutschen den Rassismus zu verzeihen und ihn zu einem anderen Problem zu erklären. Rassismus kann es nämlich nicht sein, in Deutschland doch nicht. Aber bei migrantischen oder als migrantisch markierten Menschen ist zurzeit nicht so viel Raum für solchen Optimismus. Der Rassismus hört während der Pandemie nicht auf, ganz im Gegenteil: Die Pandemie dient als Ventil für Rassismus.

Viele asiatische oder als asiatisch gelesene Menschen berichten gehäuft über Rassismuserfahrungen. Diese reichen von abwertenden Kommentaren bis hin zu körperlichen Angriffen und Einschränkungen ihres Rechts auf Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Verbreitung des Coronavirus ist nur eine logische Schlussfolgerung unserer Art und Weise zu leben. Menschen reisen viel, privat sowie beruflich. Selbst in Krisenzeiten möchten sie nicht auf den Urlaub verzichten, deshalb konnte Ischgl zu einem Albtraum der Verbreitung des neuen Coronavirus werden. Weil Menschen es nicht ernst nahmen und es ihnen nicht wert war, den Urlaub abzusagen. Was soll schon passieren?

Die Pandemie dient als Ausrede, die griechischen Lager, in denen geflüchtete Menschen auf engstem Raum ohne Abstand oder ausreichend Zugang zu Wasser, Seife und gar Nahrung leben, nicht zu evakuieren. Die Aufnahmen aus diesen Lagern zeigen menschenunwürdige Zustände. Die Frage, welche Rolle Urlauber*innen und Geschäftsreisende bei der Verbreitung des Virus spielten, nimmt nicht so viel Raum ein wie die Frage, welche Rolle geflüchtete Menschen dabei spielen könnten, sollten sie aufgenommen werden. Wer Geld hat, darf offenbar auch das Virus verbreiten.

Seit Wochen wird darüber diskutiert, welche Leben lebenswert seien und wen man auch ruhig sterben lassen könne. Vergangene Woche sagte Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen) in Sat.1: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Nur wer diese Aussage heute während einer Pandemie tätigen kann, kann morgen derselben Gruppe oder anderen, deren Leben seiner Meinung nach genauso wenig Wert hat, den Zugang zu medizinischer Versorgung komplett verweigern.

Wo bleibt der Aufschrei? Erinnert sich noch jemand an #Omagate von 2019? Also die Auseinandersetzung mit dem WDR-Schmählied, in dem Kinder ihre Omas „Umweltsau“ nannten? Rechte, und damit meine ich auch die Mitte, rasteten so aus, dass sie an WDR-Mitarbeiter*innen Morddrohungen schickten. Bei denselben Rechten herrscht nach der Aussage Palmers nur Totenstille. Obwohl Palmers Aussage dieselbe Altersgruppe betrifft und sie nicht nur beleidigt, sondern eiskalt den Sinn ihrer Behandlung bzw. Rettung bei einer schweren COVID-19-Erkrankung infrage stellt.

Wo ist da der Respekt vor den Älteren – wie es damals während #Omagate so schön hieß? Darum ging es nämlich nie. Das Wort Umweltsau bezog sich auf ein Konsumverhalten, das die Umwelt zerstörte. Das wussten auch jene, die vor dem WDR demonstrierten und dessen Angestellten Morddrohungen schickten. Wenn das Wort „Umweltsau“ gesagt werden dürfte, würde das bedeuten, dass auch sie ihr eigenes Konsumverhalten einschränken müssten. So wehrten sie sich, weil sie ungestört und grenzenlos konsumieren wollten. Es ging nie um einen respektvollen Umgang mit älteren Menschen.

Ich sage es mal ganz brutal: In Deutschland sollen nur jene gerettet werden, die Macht haben. Wer chronisch krank oder be_hindert ist, wer nicht weiß oder christlich ist, wer arm oder alt ist, kann unter Umständen ruhig sterben gelassen werden. Mit dem Gewissen ist das vereinbar, solange es den Umständen der Mehrheitsgesellschaft in den Kram passt. Solange die nicht verzichten muss und weiterhin bequem und ungestört konsumieren kann. Deshalb werden Menschen heute sterben gelassen, die man gestern nicht mal Sau nennen durfte. Deshalb müssen sich Urlauber*innen in Ischgl nicht mal erklären, während man Gründe für die Rettung aus den Flüchtlingslagern nennen muss. Deshalb gibt es keinen Aufschrei bei den drei Angriffen in Waldkraiburg innerhalb von zehn Tagen. Das finde ich ganz schön brutal.