Von Viola Nordsieck

In Zeiten der Pandemie und der Kontaktsperre sind Privilegien ungleich verteilt. Das waren sie natürlich auch vorher schon. Aber jetzt mangelt es uns an einem gewissen Raum zum Manövrieren, durch den vorher noch manches ausgeglichen werden konnte. In der jetzigen Situationen gehen einige Schrauben zu, und die Situation wird für manche wirklich hart – gerade für Familien.

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Viele meiner Freundinnen und Freunde haben gerade hart zu kämpfen, sie schwanken zwischen „Es ist schön, meine Kinder so nah zu haben, so viel Zeit mit ihnen zu verbringen, das fehlt mir sonst“ und „Wenn ich nicht endlich mal drei Sekunden für mich haben und einen klaren Gedanken fassen kann, werde ich wahnsinnig!“ Es ist klar, dass konzentriertes Arbeiten, Schreiben, Entwerfen, Kalkulieren, störungsfreie Zoom-Meetings, whatever unter diesen Umständen eine herkulische Herausforderung bedeuten.
Und es ist ebenso klar, dass selbst die psychische und stressverursachte Belastung in dieser Situation noch ein Privileg ist, verglichen mit denjenigen, die trotzdem zur Arbeit gehen müssen, die in der Pflege arbeiten und nicht geschützt werden, die Menschen sterben sehen und dafür noch nicht einmal anständig bezahlt werden. Nur ein kleiner Anteil der Lohnarbeitenden kann ihre Arbeit am Schreibtisch tun, auch wenn jetzt endlich mal Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die vorher meist ignoriert wurden. Vorlesungen als Podcast, Therapie über Zoom, die Kollegin aus Kyoto einfach zuschalten. Schon nicht schlecht, auch wenn wir sicherlich nicht den Rest unseres Lebens am Sofa verbringen wollen. Echte Räume und Flächen für Kunst, Kultur und sozialen Austausch sind unersetzlich.

Für viele Menschen aber ist es völlig wurscht, ob die Vorlesung nun als Podcast aufgenommen werden kann. Die Pandemie könnte uns, wenn wir uns denn darum kümmern würden, einiges darüber zeigen, wie Prekarisierung vor sich geht. Z. B., wenn eine alt wird und ihr Leben lang gearbeitet hat. War sie Lehrerin am Gymnasium, verbringt sie ihren Lebensabend jetzt in einem eigenen Haus oder einem luxuriösen Senior*innenheim. Wie meine Mutter, die COVID-19 bereits durchgestanden hat. Selbst die urstabile Gesundheit, die ihr trotz ihres fortgeschrittenen Alters erlaubt hat, die Krankheit gut zu überstehen, ist mindestens zum Teil die Folge eines privilegierten Lebens. Obwohl Selbstausbeutung meiner Mutter ganz und gar nicht fremd ist und sie ihren Teil an psychischen Belastungen erfahren hat, war da eben immer diese Sicherheit des guten Einkommens, der verlässlichen Strukturen, der auf Leute wie sie zugeschnittenen Politik.
Diese Politik ist zugeschnitten auf weiße Menschen, auf Bildungsbürger*innen, auf Menschen in akademischen Berufen, die irgendwas am Computer machen und dafür ein eigenes Arbeitszimmer haben. Sie ist nicht zugeschnitten auf Menschen mit kleinen Kindern. Sie geht davon aus, dass Menschen mit kleinen Kindern diese einfach nebenher bewältigen. Dass sie sie nicht mit in die öffentlichen Verkehrsmittel und den Supermarkt nehmen müssen, oder wenn sie es doch müssen, ihnen ganz easy Masken überziehen können. Dass sie es schaffen, neben allem, was sie sonst zu tun haben, ein kleines Kind ganz allein zu bespaßen und zu trösten, das kein einziges anderes Kind und keinen der vertrauten Menschen mehr sehen darf. Das Mindeste wäre, dass alle Eltern von kleinen Kindern und solchen, die wie meine zugleich beschult und betreut werden müssen, jetzt Elterngeld bekämen wie nach der Geburt. Unbürokratisch. Ohne Anträge, die mehrstündig ausgefüllt werden müssen. Damit sie wenigstens einigermaßen den Kopf und das Herz frei haben von anderem Druck, um diese Situation für ihre Kinder und sich selbst auffangen zu können.

Meine Mutter war alleinerziehend. Aber das ist nicht alles, was in die Waagschale der Prekarisierung fällt. Sie hatte ein sicheres und gutes Einkommen. Das zieht sich bis in unser heutiges Leben, in dem ich eben keine Sandwichposition zwischen meinen Kindern und der Pflege oder Unterstützung meiner Mutter einnehme. Stellen wir uns vor, meine Mutter wäre Pflegekraft im Altenheim oder Verkäuferin an der Supermarktkasse gewesen und hätte jetzt den entsprechenden Gesundheitszustand, die entsprechende Rente. Vielleicht wäre sie dann mit von mir abhängig.
Ich meinerseits wäre, wenn die Dinge noch so laufen würden wie früher, ebenfalls alleinerziehend: Trennung vom Partner. Aber weder der Vater meiner Kinder noch ich wollten werden, was unsere Eltern waren, und haben uns für ein Wechselmodell entschieden – freiwillig und kommunikativ, was mir wichtig ist zu betonen, denn das Wechselmodell sollte keinesfalls erzwungen werden.
Jetzt, während der Kontaktsperre und der Schulschließung, heißt das für uns: zwei Tage Kinder, zwei Tage keine. Niemand muss alles alleine schaffen, und niemand ist zu lang allein.
Ich kann beinahe alle wichtige Arbeit an den Tagen erledigen, an denen die Kinder bei ihrem Vater sind. An diesen Tagen bin ich völlig allein. Ganz selten treffe ich Freunde zum Spazierengehen mit Abstandsbenefit, da ich die Zeit tatsächlich dann auch dringend brauche. Ich kann in die Nacht hinein arbeiten, um aufzuholen. Ich esse Zeug aus der Packung, mache mir den fünften Kaffee hintereinander, singe laut, wenn mir danach ist, und putze nachts um zwei das Bad. Ich treibe Sport im Flur bei lauter Musik und kriege Druckstellen von der Brille, denn wenn mich eh keiner sieht, brauche ich auch keine Kontaktlinsen. Ich hacke stundenlang auf diese Tastatur ein, wasche mich nur sporadisch und führe mein Sozialleben ausschließlich auf Social Media.
Wenn die Kinder da sind, ist alles auf sie eingestellt. Dann tanke ich Liebe, Lachen und Kuscheln. Ein bisschen arbeite ich, während wir gemeinsam um den Tisch sitzen und mit Schule beschäftigt sind – wobei ich natürlich im Schnitt alle anderthalb Minuten Fragen beantworte, Errungenschaften feiere, vom Quatschmachen runterbringe und Konflikte löse. Mit einem normalen Tagespensum an Arbeit, während der man keine Kinder betreut, hat das absolut nichts zu tun.
Den Rest des Tages tanzen wir, spielen, machen Sport und essen Eis. Wir denken uns Projekte aus, bingen Lieblingsserien, schreiben Briefe an die Omas und treiben die Nachbarschaft mit Musikimprovisationen in den Wahnsinn. (Nur zu verabredeten Zeiten, ich schwör’s!) Wir kommen ehrlich gesagt gar nicht hinterher mit dem, was wir alles machen wollen. Und das nicht, weil wir sooo tolle Menschen mit sooo vielen ‚inneren Ressourcen‘ sind! Sondern ausschließlich deswegen, weil nach zwei Tagen der Papa mit dem Fahrrad vor der Tür steht, worauf mich gesegnete Stille und völliges Alleinsein umgibt.
Und jetzt noch mal dieselbe Situation vorstellen, wenn eine wirklich alleinerziehend ist. Oder wenn beide Eltern zu Hause gleichzeitig versuchen, ein „normales“ Arbeitspensum zu erledigen und mit den Kindern Schule zu machen. (Wie? Wie nur?) Wenn die Kinder jede Sekunde an dir hängen. Wenn die Dreijährige sich alle zehn Minuten mit Wutanfällen auf den Boden wirft, weil sie ihre Spielkameraden nicht sehen und auch nicht die ganze Zeit YouTube gucken darf, während du versuchst, gleichzeitig Homeoffice zu machen und mit ihr Pferdchen zu spielen. Wenn die Zehntklässlerin nächste Woche wieder in die Schule soll und du Angst hast, weil du diese Autoimmunkrankheit hast, mit der es sich eigentlich völlig okay leben ließe, aber … Wenn du dir außerdem Sorgen machst um deine Eltern in diesem Pflegeheim, das eh schon so deprimierend ist und in dem das Personal jetzt noch nicht mal Masken trägt. Wenn der Vierjährige und seine große Schwester sich kreischend prügeln und der Papa zu wichtig ist, um die Telefonkonferenz zu unterbrechen, aus welchem Grunde du eigentlich außerdem jetzt gerade einkaufen müsstest – alleine, versteht sich –, weil es sonst heute Abend nichts zu essen gibt. Oder wenn es heute Abend nichts zu essen gibt, weil ganz einfach kein Geld mehr da ist und du wegen der Depression nicht in der Lage warst, aufzustehen und den Antrag auszufüllen, was mehrere Stunden dauert – oder er ganz einfach immer noch nicht beantwortet wurde. Oder wenn du deine Kinder gar nicht mehr sehen kannst, weil du ständig gefährdet bist, ohne ausreichende Schutzkleidung arbeitest, und deine Temperatur heute schon über 38 war.
Und dann gibt es noch Menschen, die gar keine Wohnung haben und die jetzt auch keine Zeitung mehr verkauft kriegen, weil alle nur noch einen riesigen Bogen um sie machen. Und es gibt die Geflüchteten, die in überfüllten Camps zum Sterben zurückgelassen wurden.
Es wird häufig davon gesprochen, „die Schwachen“ zu schützen, eine Metapher, die mich wütend macht, weil sie impliziert, dass die Privilegierten „die Starken“ sind. Oberflächlich mag das so scheinen, weil Geld, gute Gesundheit und stabile Strukturen die Illusion individueller Stärke geben. Und aus dieser Illusion heraus werden dann auch sozialdarwinistische Grausamkeiten entwickelt, Vorstellungen davon, es sei irgendwie normal, dass eine Gesellschaft ihre „Schwachen“ auch mal aussortiere. Die „Schwachen“ der Gesellschaft sind nicht schwach, sie sind prekarisiert. Um sie in der Krise zu schützen, müsste man sie entprekarisieren.