Von Eva Berendsen

So tief ist die Extremismustheorie in der deutschen Debatte verankert, dass es vor lauter tief fliegenden Hufeisen schwerfällt, auf das richtige Pferd zu setzen. Nehmen wir Sigmar Gabriel. Der twitterte nach dem rechten Terroranschlag in Hanau, der Feind der Demokratie stehe zwar rechts, um jedoch fix nachzuschieben: „Es lässt sich nicht abstreiten, dass linke Chaoten auf Polizisten eindreschen, Autos und Mülltonnen in Brand setzen und immer wieder hohe Sachschäden verursachen.“ Ein typischer Reflex: Geht es um rechte Gewalt in Deutschland, muss es schnappatmend auch um linke gehen. Die Extremismustheorie macht es möglich. Diese wurde in der Nachkriegszeit im Geist des Antikommunismus und in völkisch-nationalistischer Tradition von Herrschaften aus dem Dunstkreis des Verfassungsschutzes entwickelt. Sie ist weniger Wissenschaft als Wunschvorstellung: Das politische Spektrum soll wie ein Hufeisen geformt sein – deshalb liest man auch häufig „Hufeisentheorie“ –, im Zentrum liegt die angeblich gemäßigte Mitte, die alle Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verkörpert. An den extremen Enden des Hufeisens, die sich fast berühren, lauern die Feind*innen der Demokratie: Rechtsextremist*innen und Linksextremist*innen (und seit 9/11 Islamist*innen). So nah, so strukturgleich –möchte das Modell nahelegen.
Durch die Gleichsetzung von Rechts und Links im Hufeisen ist nichts gewonnen: Sie macht Spezifika und Motivlagen politischer Strömungen unsichtbar und verharmlost das enorme Problem mit rechter Gewalt in Deutschland – wir zählen mehr als zweihundert Tote durch rechte Gewalt seit der deutschen Einigung. Rassistische Angriffe auf Menschen werden mit Verweis auf brennende Mülltonnen oder demolierte Autos bei den G20-Protesten kleingeredet. Zudem kommt die Mitte im Modell wesentlich besser weg, als sie ist, da menschenverachtende Ideologien an den Rändern des Hufeisens verortet werden. Rassistisch, antisemitisch oder FLINT-feindlich können so gesehen nur Extremist*innen sein. Dieser Fantasie widersprechen Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit seit Jahren. Zur Mitte zählt sich ja auch, wer den Islam nicht in Deutschland sehen will, Hasstiraden gegen den Staat Israel gutheißt oder immer schön sozialchauvinistisch nach unten tritt. Von den Opferberatungsstellen wissen wir, dass Angriffe auf Muslim*innen, Jüdinnen*Juden, Queers, Geflüchtete und Obdachlose zunehmend von Täter*innen aus dem bürgerlichen Spektrum verübt werden.

Zum Kampf gegen Menschenfeindlichkeit taugt die Theorie keineswegs. Mehr noch, sie nützt dem rechten Lager: Die in weiten Teilen menschenfeindliche und anti- demokratische AfD etwa, die dem bürgerlichen Milieu entstammt und auch in der guten alten Mitte ihre Wähler*innen findet, wurde von Hufeisenvetreter*innen lange als Partei am legitimen Rand des demokratischen Spektrums eingeordnet. Gleichzeitig werden Antifaschist*innen unter Linksextremismus- Verdacht gestellt und kriminalisiert – wie etwa die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, VVN-BdA, die im bayrischen Verfassungsschutzbericht genannt wird, oder das Konzert #WirSindMehr, bei dem 65.000 Menschen gegen die rassistischen Mobilisierungen von Chemnitz protestierten und das im sächsischen VS-Bericht auftaucht. Diese Verdachtslogik nutzt auch die AfD, um Demokratieprojekten gegen Rechts öffentlichkeitswirksam eine Nähe zum „Linksextremismus“ anzudichten. Die Extremismustheorie ist also extrem unbrauchbar: Sie normalisiert völkisches Denken, gängelt den kritischen Teil der Zivilgesellschaft und fasst die Menschenfeindlichkeit der Mitte nicht in den Blick.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 04/20.