Literaturtipps 04/20
Von MissyRedaktion
Allein unter Rentner*innen. Und das auf einem Kreuzfahrtschiff. Jana ist sich selbst nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Doch die Protagonistin in Ilona Hartmanns Debütroman will ihren Vater kennenlernen. Oder ihn zumindest aus der Ferne beobachten. Denn er ist Kapitän der MS Mozart, eines Schiffs, das zwischen Passau und Wien die Donau hoch und runter schippert. Jana fällt natürlich auf. Doch es gelingt ihr, sich dem Vater relativ undercover anzunähern. Auch wenn sie ihn nie wirklich vermisst oder gebraucht hat – ihre Mutter hat gleich beide Rollen ausgefüllt –, besteht dennoch dieses vage Bedürfnis, ihn kennenlernen zu wollen. Janas Reise führt zu urkomischen Situationen, schrulligen Begegnungen und lässt dennoch nicht die Gefühle außer Acht, die das mit sich bringt. Auf einmal merkt sie, wie ignorant sie gegenüber Geschlechtererwartungen war – die Tausendsassa-Mutter hatte sie davor beschützt. Es gibt also vieles, was die Protagonistin auf einmal verarbeiten muss. Das ist spannend, manchmal scharfsinnig und oft einfach lustig und auf jeden Fall toll geschrieben. Und auch, wenn alles beim Alten bleibt, ist nichts mehr wie zuvor. Das ist wunderbar warm und leicht, nie überladen – perfekt für den Sommer. Tamara Marszalkowski
Ilona Hartmann „Land in Sicht“ Blumenbar, 160 S., 18 Euro, VÖ 21.07.
Monster wie wir
Als Teil der Poetry-Band Landschaft reimt Ulrike A. Sandig: „Ich bin Jägerin auf freier Flur. Seht ihr mein kurz geschnittenes Haar? Ich lass es flattern im Wind. Ich bin kein artiges Kind!“ Nun legt sie ihren ersten Roman vor. Er handelt von einer DDR- Kindheit mit knietiefem Schnee und zugefrorenem See, Kohlekeller, Pfeifenrauch und aus Salzteig geformten bärtigen Prinzessinnen. „Ich war ein Kind, so glücklich und unglücklich, so geborgen und von allen guten Geistern verlassen, wie ein Mensch nur sein kann“, sagt die Protagonistin und sie beschreibt, wie ihre Selbstvergessenheit beim Musizieren den großväterlichen Missbrauch vergessen lässt. Im Idealfall spürt sie nichts. Ähnlich ergeht es ihrem Freund Viktor. Der reist später als Au-pair nach Frankreich. Hier wird exquisit gekocht. Doch etwas Schauderhaftes dringt ein, dringt durch und entlädt sich mit Gewalt. „Monster wie wir“ beginnt mit vorgeburtlicher Geborgenheit und endet mit Abrissarbeiten in der unwirtlichen Gegenwart. Lebendige Momentaufnahmen verwebt die Autorin dicht, sprachlich versiert, licht und trüb mit Gefühlen, Geräuschen und Träumen. Daniela Chmelik
Ulrike Almut Sandig „Monster wie wir“ Schöffling & Co., 232 S., 22 Euro, VÖ 21.07.
Vivian
Christina Hesselholdt begibt sich in ihrem Roman auf die Spurensuche nach der rätselhaften Person Vivian Maier. Erst nach ihrem Tod 2009 kommt ihr umfassendes fotografisches Werk und ihr außergewöhnliches Talent durch einen Zufall zum Vorschein. Als Nanny hatte sie jahrelang in verschiedenen Familien in New York und Chicago gewohnt und konnte dort ihrer großen Leidenschaft, der Straßenfotografie, nachgehen. Hesselholdts Interesse liegt in der biografischen Darstellung, für die sie viele verschiedene Stimmen in einzelnen Fragmenten zu Wort kommen lässt. Auch der Erzählverlauf gleicht mit seinen Vor- und Rückgriffen einzelnen Schnappschüssen. Wie in einem Mosaik entsteht dadurch ein Bild von Vivian Maier, das die Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit zur Geltung bringt. Im ersten Teil werden Stimmen aus ihrer Kindheit mit der Zeit als Kindermädchen verwoben. Als sie von der Mutter gefragt wird, warum sie so viel fotografiere, antwortet sie: „Es ist besser nach außen zu gucken als nach innen.“ Im Laufe ihres Lebens macht sie mehr als 150.000 Fotos, lässt die meisten jedoch aus Geldmangel nie entwickeln. Rastlos sammelt sie in ihren Bildern Gesichter, Situationen und menschliche Verhaltensweisen. Einsam und völlig verarmt stirbt sie umgeben von ihren Negativen. Hesselholdt schreibt den ersten Roman über diese faszinierende und gleichzeitig so eigenbrötlerische Frau, die durch die Fotografie ihre Freiheit findet. Nicole Hoffmann
Christina Hesselholdt „Vivian“ Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin, 208 S., 21 Euro
Wir Drei
„Wir Drei“ von Yang Jiang ist keine Autobiografie, sondern eher eine Art familienbiografischer Roman. Denn Jiang schreibt zwar aus ihrer Perspektive, doch geht es in „Wir Drei“, wie der Titel schon vermuten lässt, ganz eindeutig um drei Menschen: Yang Jiang, ihren Ehemann Zhongshu und die gemeinsame Tochter Ayuan. Im ersten Teil des Romans erzählt Jiang vom glücklichen gemeinsamen Familienleben, welches durch Krankheiten und Tod erschüttert wird. Sie nutzt Traum- und Geisterbegegnungen in ihrer Erzähltechnik. Im zweiten Teil schildert Jiang ihre Erinnerungen des gemeinsamen Lebens zwischen Hochzeit in China, Studium in England und Frankreich und Rückkehr in das von Japan besetzte China. Die Erfahrungen der Familie im Europa der 1930er-Jahre lesen sich besonders spannend, ebenso die Beschreibungen der Kulturrevolution in der neu gegründeten Volksrepublik China, welche alle drei als Intellektuelle im vollsten Ausmaß zu spüren bekommen. Durch ihren zwischen fantastisch und realistisch fluktuierenden Erzählstil erfahren wir vieles über China, Europa, den akademischen Betrieb, Menschen und Geister, Träume und Realität. Lisa Tracy Michalik
Yang Jiang „Wir Drei“ Aus dem Chinesischen von Monika Motsch. Matthes & Seitz, 280 S., 22 Euro
Liebe deinen Körper
Basierend auf ihren Forschungen im Bereich Gender Studies und beeinflusst von einem Körperfunktionalitätsansatz hat Jessica Sanders einen herausragenden Guide rund um die Themen Selbstliebe und -fürsorge geschrieben. Dieser richtet sich an Mädchen „und alle, die sich weiblich identifizieren“, aber Sanders vermittelt inklusive Botschaften wie „Mein Körper kann großartige Dinge tun“ oder „Mein Körper gehört mir“ und gibt zahlreiche Tipps für einen wertschätzenden Umgang mit sich selbst oder zweifelnden Freund*innen. Sensationell sind die Illustrationen von Carol Rossetti. Sie bilden eine radikale Vielfalt an Mädchen ab: Es gibt Schwarze, weiße, dicke, dünne Mädchen, manche haben Dehnungsstreifen und Achselhaare, tragen Hijab, Side-Cut oder Langhaarfrisuren, einige haben sichtbare körperliche Behinderungen, ein Mädchen hat Vitiligo. Representation matters – sie bestärkt. Ich frage mich, wie viele Struggles mir erspart geblieben wären, wenn ich als Jugendliche ein derartiges Buch zur Verfügung gehabt hätte. Gleichzeitig freue ich mich für eine Generation von Kindern, die nun Zugang zu solchen wertvollen Ressourcen erhalten. Carla Heher
Jessica Sanders & Carol Rossetti „Die Anleitung zur Selbstliebe: Liebe deinen Körper“ Aus dem Englischen von Anna Kapfmann. Zuckersüß Verlag, 40 S., 25 Euro. Ab 8 Jahren
Was wir voneinander wissen
Durch das Fenster schaut die schwangere Ich-Erzählerin ihrer Tochter beim Spielen im Garten zu. Dabei erinnert sie sich an das letzte Mal, als sie entscheiden musste, ob sie ein Kind bekommen wollte. Sie brauchte Monate für diesen Entschluss, in denen sie zwischen Wünschen und Ängsten lebte. Auf der Suche nach der richtigen Entscheidung mäandert sie durch bestimmte Episoden aus ihrem Leben: die Zeit, als sie ihre todkranke Mutter pflegte und ihr eigenes Leben aufgab, die Leere und Trauer nach deren Tod, die Sommer, die sie als Kind im Haus der Großmutter auf dem Land verbrachte. Zwischen diese einzelnen Fragmente fügt Jessie Greengrass immer wieder Passagen, die an Essays erinnern und sich mit Wissenschaftlern wie Sigmund Freud, Wilhelm Conrad Röntgen oder John Hunter, dem Begründer der experimentellen wissenschaftlichen Chirurgie, befassen. Mit ihren Arbeiten haben sie verborgene Aspekte des menschlichen Daseins zum Vorschein gebracht, quasi unter die Oberfläche geschaut. Literarisch gekonnt bietet Greengrass in ihrem Debüt Fragen und Denkanstöße an. Entstanden ist ein sehr poetisches Buch, das unerwartete Verbindungen zum Vorschein bringt. Nicole Hoffmann
Jessie Greengrass „Was wir voneinander wissen“ Aus dem Englischen von Andrea O’Brien. Kiepenheuer & Witsch, 224 S., 20 Euro
Fantastic Stories For Fearless Girls
Die vielleicht einflussreichsten literarischen Gatekeeper der Geschichte heißen Jacob und Wilhelm Grimm. Heute wissen wir, dass die Brüder nicht nur ihre weiblichen Peers, die ihnen die Märchen zutrugen, zugunsten einer „volkstümlichen“ Ursprungsmythe unsichtbar machten, auch viele besonders grausame Szenen wurden damals hinzugedichtet. Die Grimms sortierten zudem bewusst ebenjene Geschichten aus, in denen Heldinnen vorkamen. Denn es gab sie sehr wohl, die starken, schlauen, lustigen Frauen und Mädchen im Märchen, die nicht nur in Türmen ihrer Rettung harrten. In Anita Ganeris „Fantastic Stories For Fearless Girls“ bekommt man nun eine Ahnung davon, wie unsere Welt aussähe, wenn auch diese Geschichten zum Kanon gehörten. Die indisch-britische Autorin hat 15 Geschichten über mutige Frauen aus der ganzen Welt nacherzählt, von Armenien, über Finnland, bis Tansania. Auch hier geht es oft um Prinzessinnen, aber um solche, die kämpfen, überlisten und, in den allermeisten Fällen, ganz bewusst nicht heiraten. Die vietnamesische Illustratorin Khoa Le bebilderte die Märchen in wunderschön leuchtenden Farben. Einziger Wermutstropfen ist die Anordnung der Heldinnen auf dem Cover (weiß oben, BIPoC unten) – ein Echo kolonialer Bildsprachen. Zum Glück ist jedoch der Inhalt frei von solchen Hierarchisierungen. Empfohlen ist das Buch ab zwölf Jahren, doch das bezieht sich wohl eher auf das Selbstlesealter. Wer Kindern Grimms Märchen zumutet, kann diese Geschichten definitiv schon früher vorlesen. Und das macht, zugegeben, riesigen Spaß. Dominique Haensell
Anita Ganeri & Khoa Le „Fantastic Stories For Fearless Girls“ Aus dem Englischen von Kerstin Fricke. Ullmann, 128 S., 14,90 Euro
Die Bedeutung von Klasse
Vor zwanzig Jahren veröffentlichte bell hooks „Class Matters“. Nun ist es auch auf Deutsch erschienen, glücklicherweise in einer Übersetzung, die dem Inhalt und den spezifischen Begriffen gerecht wird. In 14 Essays (u. a. „Klassenansprüche: Rassismus und Grundeigentum“ oder „Feminismus und Klassenmacht“) analysiert hooks die Klassenverhältnisse in den USA. Ihr Ansatz ist, wie so oft in ihren Werken, ein persönlicher. Für ihre Analysen geht sie vom Alltäglichen aus, bspw. ihrer Erfahrung als „Klassenwechslerin“ von der Schwarzen Arbeiter*innenklasse zur Akademikerin im weißen Mittelklassemilieu. Sie macht sich stark für das Miteinbeziehen von Klasse in intersektionalen Analysen von Rassismus und Sexismus. Zu oft fällt das Thema Klasse unter den Tisch. Sie beschreibt, wie durch alle Klassen hinweg nicht über Klasse gesprochen wird und welches Potenzial der Miteinbezug des Themas für Solidarität und gesellschaftlichen Wandel hätte. Ihre Analysen beziehen sich auf die USA, doch können an vielen Stellen durchaus auf Deutschland angewandt werden, besonders wenn sie über die „Politik der Gier“ spricht. Dies alles tut sie in zugänglicher Sprache. Lisa Tracy Michalik
bell hooks „Die Bedeutung von Klasse: Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus und Sexismus zu reduzieren sind“ Aus dem Englischen von Jessica Yawa Agoku. Unrast, 180 S., 14 Euro
Das ungeschminkte Leben
„Das ungeschminkte Leben“ heißt die Autobiografie von Maryse Condé, die 2018, als der Nobelpreis pausierte, mit dem alternativen Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. „Ungeschminkt“, das passt: Condé bleibt ehrlich, auch wenn das negativ auf sie zurückfallen könnte. Geboren wurde sie in den 1930er-Jahren in das Schwarze Kleinbürgertum auf der französischen Karibikinsel Guadeloupe, das sich am französischen Vorbild orientierte. Je mehr Abstand sie zu ihrem kolonialen Erbe gewinnt, umso mehr zieht sie ein anderer Kontinent in Bann: Afrika. Afrika ist und bleibt für sie Projektionsfläche. Die nächsten Jahre wird sie – vier Kids im Schlepptau, die der Willkür ihrer Mutter ausgesetzt sind – in der Elfenbeinküste, Guinea, Ghana und Senegal leben und langsam zum Schreiben finden. Es ist ein Leben voller Widersprüche, das Condé in ihren jungen Jahren führt und das einen langsamen Lernprozess darstellt. Sie ist ein emanzipierter Freigeist, aber doch vom Urteil des männlichen Blicks abhängig, sie ist umgeben von Politiker*innen und Intellektuellen, aber häufig arm. Unter ihre Bekanntschaften mischen sich fragwürdige aus dem Dunstkreis von Diktatoren. Condé reflektiert ihr eigenes Leben und Verhalten durchaus, trotzdem hinterlassen einige Stellen Fragezeichen (nicht zuletzt fallen – zumindest in der Übersetzung – einige unzeitgemäße, rassifizierende Bezeichnungen). Diese „ungeschminkte“ Autobiografie gibt guten Einblick in den Alltag westafrikanischer Länder der 1950er- und 60er- Jahre, liest sich aber nicht ganz ohne Probleme. Isabella Caldart
Maryse Condé „Das ungeschminkte Leben“ Aus dem Französischen von Beate Thill. Luchterhand, 304 S., 22 Euro
Dickicht
Ruth Gretter arbeitet als Amtstierärztin und hat ein Problem: Sie ist alkohol- und medikamentenabhängig. Ihr Leben bricht auseinander, als sie eines Nachts im Park hinfällt und deshalb in einer Klinik landet, ohne jegliche Chance, Freund*innen oder Familie zu kontaktieren, weil ihr Mobiltelefon bei dem Unfall zu Bruch ging. Doch sie bleibt nicht allein, denn sie lernt eine andere Patientin, Katja, kennen. Die Schriftstellerin Nina Bußmann, Jahrgang 1980, die mit „Dickicht“ ihren dritten Roman veröffentlicht, erzählt anhand der Geschichte von Ruth vom Scheitern, von Selbstbetrug und von Süchten, aber auch über die Irrungen und Wirrungen in komplizierten Freundschaften. Sie seziert raffiniert, wie prekäre und unklare Situationen die Flucht in den Rausch begünstigen, ohne zu moralisieren. Das Buch erzählt von der Schwierigkeit, sich in der Multioptionalität des Hier und Jetzt für einen Lebensweg zu entscheiden – ein Sujet, über das zwar schon viel geschrieben wurde, dem Bußmann aber dennoch in ihrem eigenen Sound Neues abgewinnen kann. In „Dickicht“ beeindruckt die Sprache ohne Larmoyanz und Sentimentalität, was nicht bedeutet, dass Bußmann ihren Held*innen unempathisch begegnen würde, auch wenn sie deren Zwiespalt rigoros aufdröselt. Annette Walter
Nina Bußmann „Dickicht“ Suhrkamp, 320 S., 24 Euro
Trubel mit Ted
Ted ist anders als alle anderen, er fällt aus der Reihe, obwohl sein Leben einer strengen Ordnung folgt: Jeden Tag zieht er ein Hemd in der Farbe des jeweiligen Wochentags an, erbricht sich angesichts der Blubberbläschen am Rand der Toilettenschüssel, schüttet den Inhalt einer Tüte in sich hinein und eilt zur Métro. Der Ärger beginnt, als die Linie 4 außer Betrieb ist, in ihr hätte Ted stets denselben Sitzplatz im selben Wagon besetzt. Jetzt zerfällt sein Kopf in kleine gelbe Kugeln, und als er eine Hand auf seiner Schulter spürt, scheint das Chaos perfekt: Ted fährt aus der Haut, verliert die Balance und findet sie auch im Umfeld seiner Familie nicht wieder. Wenn er kurz davor ist zu explodieren, wird sein Kopf zur Bombe, wenn andere ihn berühren, tauchen Finger mit Augen an den Enden auf. Ted fühlt mehr und ist Schmerzen gegenüber doch indolent, er verliert die Fassung, wenn etwas seine Routinen durchkreuzt, und nimmt Dinge wörtlich, die metaphorisch gemeint sind. Bei seinem Versuch, sich in der genormten Welt der Panels einzufinden, macht seine Erfinderin es ihm nicht leicht. Anders als David B, der in „Die heilige Krankheit“ die Epilepsie seines Bruders in mythische Bilder bettet, spitzt Gleason ihre Erlebnisse mit einem „langbeinigen Ufo“ satirisch zu. Wo genau dieses sich innerhalb des Autismus-Spektrums befindet, will sie en detail nicht wissen – im Comic bleibt Ted ihr großer Bruder. Barbara Eder
Emilie Gleason „Trubel mit Ted“ Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, 128 S., 24 Euro
Charlotte Perriand
„Wir sticken hier nicht!“ Mit diesen Worten empfängt der berühmte Architekt Le Corbusier 1927 die junge Kunstgewerbeschulabsolventin, die bei ihm anheuert. Sein Cousin und Mitarbeiter Pierre Jeanneret klärt ihn auf: Vor ihm steht Charlotte Perriand, deren futuristischer Entwurf „Bar sous le toit“ („Bar unterm Dach“) in Paris eine Sensation auslöste und selbst dem misogynen Urbanisten Bewunderung abrang. Zehn Jahre lang arbeitet Perriand in Le Corbusiers Atelier und entwirft zusammen mit ihm und Jeanneret jene modernistischen Stahlrohrmöbel, die heute als Möbeldesignklassiker des 20. Jahrhunderts gelten. Der Pariser Comiczeichner Charles Berberian hält eine der wichtigsten Stationen im Leben Perriands fest: 1940 reist sie auf Einladung der japanischen Regierung nach Tokio, wo sie als Beraterin für Industriedesign tätig ist. Perriand beeinflusste das moderne Design in Japan nachhaltig, umgekehrt inspirierte das traditionelle japanische Handwerk die Entwürfe der studierten Innenarchitektin. Mit viel Sympathie rückt Charles Berberian Perriands Innovationskraft in klassischen schwarz-weißen sowie stimmungsvoll farbigen Aquarellbildern in den Vordergrund. Dass der Blick auf Japan ein zutiefst weiß-europäischer bleibt, überrascht weniger als die marginale Behandlung der politischen Bezüge – Perriand stand den Kommunist*innen nahe –, die die Rolle des ehemals monarchistisch-faschistischen Japans nur minimal streift. Vina Yun
Charles Berberian „Charlotte Perriand: Eine französische Architektin in Japan“ Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock, Handlettering von Dirk Rehm. Reprodukt, 112 S., 20 Euro
Defrag
„Defrag“ lässt uns einen Einblick in verschiedenste Gedankenarchive erhaschen, festgehalten durch Fotografie, Illustration, Poesie, Kurzgeschichten und Mode. Da wird ein Paketkarton in der Modekollektion „Send Me To Paradise“ schon mal so umfunktioniert, dass er an eine Louis-Vuitton-Designertasche erinnert. Die Frage, wer eigentlich bestimmt, was in ist, wirft nicht nur die alternative It-Bag auf. Koloniale Strukturen gibt es auch im weißen Museumskanon, im Universitätssystem, bei den Corona-Maßnahmen und in zwischenmenschlichen Kontakten. Was für Gefühle löst es bei einem Kind aus, wenn andere Kinder sich über die Hautfarbe oder den Akzent der Eltern lustig machen? Und wie fühlt man sich eigentlich, wenn der eigene Arzt davon ausgeht, man sei natürlich in einer Heterobeziehung? Er hat schon alles vom eigenen Körper gesehen und doch sieht er nicht, wer dort vor ihm sitzt. „Um wessen Zukunft geht es hier?“, fragt das Zine und liefert die intersektionale Dystopie als Antwort gleich mit. Es muss nicht bei einer Traumwelt bleiben. Der Begriff Defrag steht für eine Neufragmentierung von zuvor getrennten Elementen. Und so führt es ästhetisch tiefblickend durch sonst oft unbeachtete Lebensrealitäten und zelebriert sie. Welche weiteren Bilder sich wohl in den Gedankenarchiven der Mitwirkenden befinden? Josephine Papke
Lisa Tracy Michalik, Lan Nguyen, Ina Holev & Jolande Hörrmann „Defrag Zine“ Selbstverlag, 83 S., 12 Euro, @defrag.zine
Drawn Poorly
Die Angst, etwas zu verpassen, ist allgegenwärtig. Besonders, wenn man durch chronische Erkrankungen, sei es körperlich und/oder mental, eingeschränkt ist und sowieso schon jeden Tag abwägen muss, was überhaupt machbar ist. In der aktuellen Ausgabe des „Drawn Poorly“ Zines haben sich zahlreiche Künstler*innen damit auseinandergesetzt, was FOMO für sie persönlich bedeutet. Dabei begegnen sich sowohl Erfahrungsberichte als auch Fotografien, Gedichte, Zeichnungen, Gemälde und Grafiken. Teils ergänzend, teils losgelöst haben sie immer die Gemeinsamkeit des größtenteils verpassten Lebens und der Schwierigkeit, vom eigenen Umfeld akzeptiert oder ernst genommen zu werden. So schreibt Sophie Lawson direkt zu Anfang über ihre Angststörung, die von Freund*innen als Last empfunden wird, Joséfin Joubands Gedicht „Frolicking On My Own“ beschreibt eindringlich den Schutz des Alleinseins und Stubbins McGee visualisiert, wie es es sich anfühlt, als trockene*r Alkoholiker*in auszugehen. Seit 2017 sind fünf Ausgaben des Manchester-basierten „Drawn Poorly“ Zines erschienen, jedes Mal mit einem anderen übergeordneten Thema. Dabei ist das Magazin offen für jegliche Form der Einsendung. Online sind die Hefte zu „Identity“, „Diagnosis“ und „Barriers“ noch zu erwerben, die Ausgaben „Relationships“ und „FOMO“ sind momentan ausverkauft. Die nächste Ausgabe, die bereits vorbestellt werden kann, behandelt das Thema „Nature“. Ava Weis
Drawn Poorly #5 „Fear Of Missing Out“ 32 S., ca. 3 Euro (momentan ausverkauft), drawnpoorly.wordpress.com
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/20.