Von Sibel Schick

Es ist durchaus nachvollziehbar, dass ein Mensch konservativ denkt, wenn er vom Status quo profitiert. Konservativ zu sein bedeutet vor allem, sich an der eigenen Macht, an den eigenen Privilegien festzuhalten.

Ich glaube, ich werde niemals verstehen, welchen Mehrwert die Meinungen konservativer Menschen zu gesellschaftspolitischen Themen haben sollen. Was kann eine Person, die bspw. von Rassismus profitiert und deshalb kein Problem mit Rassismus hat (ihn sogar gut findet), Wertvolles zu irgendeiner Debatte über Rassismus beitragen? Absolut nichts.

@Tine Fetz

Dennoch werden vor allem konservative weiße heterosexuelle cis Männer von deutschen Medien ständig zu gesellschaftspolitischen Themen befragt. Und diese reden unvermeidbar Unsinn. Zum einen reden sie häufig uninformiert, denn sie haben schlicht keine Ahnung, wovon sie reden. Zum anderen steht hinter ihren Positionen eine Angst vor Status- und Machtverlust. Wer von Ungerechtigkeit profitiert, hat Angst vor Gerechtigkeit. Um dieser standzuhalten, müssen die Betreffenden die Bestrebungen für Gleichberechtigung diffamieren.

Sibel Schick

ist 1985 in der Türkei geboren und wohnt seit 2009 in Deutschland. Seit 2016 arbeitet sie als freie Autorin, Journalistin und Social-Media-Redakteurin. In ihren Texten provoziert sie gern und bezeichnet sich als ein "offenes, peinliches Buch". Auf Twitter und Instagram ist sie als @sibelschick unterwegs.

Unter idealen Umständen wäre es unverständlich, dass solche Menschen ständig in den auflagenstärksten Medien unterkommen. Aber auch diese Medien sind ja überwiegend von Menschen, die vom Status quo profitieren, belegt.

Friedrich Merz ist einer der konservativen weißen cishet Männer, deren Meinung absolut irrelevant, aber dennoch überall in den Medien ist. Er gab vergangene Woche ein Interview auf „t-online“. Darin sagte er u. a., dass die US-amerikanische Gesellschaft so tief gespalten sei wie lange nicht mehr und die politischen Positionen „auf beiden Seiten“ immer extremer würden. Er führte aus: „Lehrbücher und historische Dokumente werden mit Triggerwarnungen versehen oder ganz ausgelistet, damit sich ja niemand beleidigt oder belästigt fühlt.“

Diese Aussagen werden in Bezug auf feministische und rassismuskritische Bewegungen oft wiederholt. Seit die #MeToo-Bewegung zum Mainstream wurde, heulen z. B. deutsche Feuilletonisten in den auflagenstärksten Zeitungen Deutschlands, dass sie ihre Meinung nicht mehr äußern dürften (und sie meinen das nicht ironisch, sondern ernst). Und jetzt, während in den USA flächendeckend gegen Rassismus gekämpft wird, wird dasselbe Argument per Copy & Paste auf einen anderen Bereich angewendet.

Hier wird Bezug auf Diskriminierungen in Texten genommen, mit denen in akademischen Zusammenhängen gearbeitet wird. Dabei geht es um diskriminierende Sprache, historisch negativ aufgeladene Vokabeln und Gewaltdarstellungen. Entweder sollen diese aus den Texten entfernt oder mit einer Warnung markiert werden. In diesem Zusammenhang spricht Merz davon, „sich beleidigt zu fühlen“, als wäre Diskriminierung ein subjektives Gefühl und kein Fakt. Diskriminierung ist aber kein Gefühl, sie ist messbare Gewalt.

Außerdem sagt er, dass politische Positionen immer extremer würden, als wäre das per se negativ. Politische Positionen haben die Tendenz, sich am Grad der Gewalt der Zustände zu orientieren. US-Amerikaner:innen protestieren gegen tödlichen Rassismus und tödlichen Rassismus kann man nicht mit netten Bitten und fröhlichen Tönen aus der Welt schaffen. Wer aus rassistischen Motiven töten will, hört nicht auf, wenn man „bitte“ sagt. Derek Chauvin wird in der Situation mit George Floyd mehrfach gebeten, aufzuhören, wie man im Video nachvollziehen kann. Auch von Floyd selber, der ihm sagt, er könne nicht atmen. Hört Chauvin auf? Nein. Eben nicht.

Hätte Chauvin aufgehört, wenn man ihm bspw. die Fresse poliert hätte? Vielleicht. Wäre es „extrem“, Chauvin die Fresse zu polieren? Das kommt darauf an, wo man steht. Wenn man sich eher in Chauvin hineinversetzen kann als in Floyd und denkt, dass einem tötenden weißen Mann die Fresse zu polieren genauso schlimm wäre wie der Tod eines Schwarzen Menschen, dann vielleicht. Aber wenn man wirklich davon überzeugt ist, dass jedes Leben gleich viel wert ist, dann kann man auch Gewalt in Form von Fressepolieren gegen die Gewalt in Form von Töten ausspielen. Letzlich läuft das auf die Tatsache hinaus, dass man damit ein Menschenleben hätte retten können.

Ist es extrem, wenn Menschen nicht mehr angespuckt, geschlagen oder getötet werden wollen? Oder wollen, dass ihre Wohnumfelder nicht mehr politisch vernachlässigt werden, dass sie nicht mehr arbeitslos oder arm sind?

Ist es extrem, leben zu wollen? Ist der Wunsch extrem, deinem Kind nicht dabei zusehen zu müssen, wie es von Polizisten erschossen wird? Oder, nicht mehr jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen? Nein. Die Ansicht, dass das extrem sei, ist extrem. Und zwar extrem menschenfeindlich.

Wenn eine Person gewalttätig ist – und dazu gehören auch antisemitische, rassistische, islamfeindliche, misogyne bzw. transfeindliche Ansichten –, dann ist es keine ungerechte „Cancel Culture“, sondern bloß normal, wenn diese Person auch als gewalttätig benannt und behandelt wird. Aber das passiert doch gar nicht. Rassistische und antisemitische Denker:innen werden sowohl in Deutschland als auch in den USA bis heute vergöttert und selbstverständlich an Universitäten gelehrt. Viele menschenfeindliche Denker:innen treten heute auf und verdienen ihren Lebensunterhalt mit Gewalt und Diskriminierung. Wo bleibt endlich diese Cancel Culture?

Wer von der Weltordnung, die auf Rassismus, Sexismus und ungerechte Verteilung stützt, profitiert, erfindet auch Märchen, damit alles so bleibt, wie es ist, und will bestimmen, was man von Bewegungen für Gleichberechtigung halten soll, aber ihre Meinung dazu ist irrelevant. Gebt die Bühne stattdessen Menschen, die etwas Substanzielles beizutragen haben. Langsam reicht’s.