Give me that walk!
Von
Fotos/Illustration: © Verena Brüning
Es ist erdrückend heiß. Glücklich ist, wer einen Fächer hat. Alle anderen wedeln sich behelfsmäßig mit Papierflyern Luft zu. Aus den Boxen pumpt Classic House. In der Mitte des Raumes: ein langer, schmaler Laufsteg mit neongelben Streifen. Drumherum schwitzende Menschen wie bei einer hochsommerlichen Fashion Show. Dann ertönt die Stimme der Moderatorin Zoe Melody mit dem Kommando: „Do the Runway!“ Solange Adjakoh betritt den Catwalk. Als sie den leicht durchsichtigen, weißen Morgenmantel über ihrem Badeanzug im Laufen öffnet und fallen lässt: Jubel und Klatschen aus dem Publikum. Höchste innere Anspannung, akrobatische Körperspannung und eine betont selbstbewusste Mimik – Voguing bedeutet absolute Selbstbeherrschung. „Fierce“, kämpferisch, muss die Tänzerin sich präsentieren. Es gelingt: Solange bekommt drei Schatztruhen von der Jury – Bestnote. Sie hat sich soeben für die nächste Runde des Wettbewerbs in der Kategorie „Runway“ qualifiziert. Es ist Samstag und Tit Bit Ball im Berliner Südblock, zentraler Ort der alternativ-queeren Szene Berlins. Und heute ist nicht irgendein Ball. Es geht um die richtige Pose, um Realness – ums Voguing eben.
Einen Tag nach dem großen Abend sitzt die 21-jährige Solange im Berliner Tanzstudio motion*s. Lässig breitbeinig, weil’s bequemer ist, klitschnass von dem Workout-Kurs, den sie gerade gegeben hat. Ganz anders als auf dem Catwalk. „Es gibt beim Voguing oft Leute, die wirken im Alltag ganz unauffällig und rasten dann bei der Performance total aus“, erzählt Solange. Unscheinbar ist die in Berlin Geborene abseits des Runways nicht, aber ihre Verwandlung ist trotzdem erstaunlich. „Ich bin eigentlich eher burschikos, ein Tomboy.“
Das Voguing hat Solange vor vier Jahren bei den Berliner Streetdance-Meisterschaften kennengelernt. „Da kamen zehn Beauties in den Raum, die dich mit ihrem Set weggebasht haben!“ Eine von diesen Frauen war Georgina Philp. Oder auch: Leo Melody, Mutter der Tanzcrew House of Melody und Ausgangspunkt einer ganzen Voguing-Spirale, die sich beständig weiterdreht und öffnet. Die Voguing-Szene in Deutschland wächst seit den letzten fünf Jahren kontinuierlich – im August wird es zum dritten Mal einen großen Voguing Ball in Berlin geben, der erste Ball in Hamburg folgt ebenfalls. Spricht man allerdings Leute außerhalb gewisser Szeneblasen aufs Voguing an, klingelt bei den meisten – gar nichts. „Man muss dann erst mal Madonna droppen, damit die Leute sich etwas darunter vorstellen können“, meint auch Solange.
„Come on – vogue!“ Als Madonna sich im Video zu ihrem 90er- Hit in dramatische Posen warf, wirkte das wahnsinnig fresh und zeit- geistig. Voguing, das kunstvolle Verdrehen und tänzerische Umsetzen von Modelposen, war allerdings keine neue Erfindung und erst recht nicht auf Madonnas Mist gewachsen, sondern Ausdruck einer ganz speziellen New Yorker Subkultur, deren Wurzeln sich bis in die 1920er-Jahre verfolgen lassen.
Etwa ab den 1960ern traf sich die afro- und latein- amerikanische, queere Szene Harlems immer regelmäßiger zu aufwendigen Bällen in alten Theatersälen. In verschiedenen Kategorien – ähnlich einem Schönheitswettbewerb – wurde getanzt, gepost und gegeneinander angetreten. Die Sehnsucht nach der High-Fashion-Welt und die Lust auf das Nachahmen dieser brachte immer mehr vorrangig Schwule zusammen. Später traten die TeilnehmerInnen meist im Namen sogenannter Houses auf. Diese Cliquen, häufig nach der „Gründungsmutter“ oder berühmten Fashionhäusern benannt, zeichneten sich…