Filmtipps 05/20
Von MissyRedaktion
Srbenka
Zagreb 1991, während des Jugoslawienkriegs: Familie Zec wird entführt und brutal ermordet, die Täter*innen aber wegen verfahrensrechtlicher Formalitäten und politischen Drucks nie zur Rechenschaft gezogen. Das getötete Mädchen Aleksandra wird zum Symbol für nationalistische Gewaltverbrechen – und ist es auch heute noch. Über zwanzig Jahre später inszeniert Theaterregisseur Oliver Frljić das Stück „Aleksandra Zec“ in Rijeka. Der Film „Srbenka“ (zu Deutsch etwa „Serberin“, so bezeichnet ein serbisches Kind sich im Film selbst) folgt den emotionalen und für die Involvierten teilweise auch (re-)
traumatisierenden Proben und fügt Interviews mit in Kroatien lebenden Serb*innen hinzu. Nebojša Slijepčević’ Kamera ist dabei auf den Regisseur und das Publikum gerichtet, filmt nicht etwa das Bühnengeschehen ab. Der Perspektivwechsel passt: Auch Frljić will ja einem rechtskonservativen, serb*innenfeindlichen und antiziganistischen Kroatien den Spiegel vorhalten. Dem deutschsprachigen Release von „Srbenka“ hätte eine sorgfältigere, weniger tendenziöse Übersetzung gutgetan, die den nuancierten, vielschichtigen und sprachbewussten Kunstwerken Frljić’ und Slijepčević’ gerecht wird. Olja Alvir
Srbenka HR 2016. Regie: Nebojsa Slijepčević. 72 Min., Start: 29.10.
Chichinette
Marthe Cohn hat viel zu tun und wenig Zeit: Rastlos wuselt sie durch ihr Büro in L.A., erledigt nebenbei ein Telefoninterview, trifft letzte Vorbereitungen für eine Reise nach Europa. An sich keine große Sache, aber Marthe Cohn ist 99 Jahre alt. 1920 wird die französische Jüdin in Metz geboren, überlebt Krieg, Besatzung, Holocaust – und schweigt sechzig Jahre lang über ihre Erlebnisse in den letzten Kriegsjahren. Erst 1996 folgt sie einem Aufruf von Steven Spielbergs Shoah Foundation. Erzählt erstmals, wie sie 1944 als Spionin in Nazi-Deutschland mit dem Spitznamen „Chichinette“, was so viel wie „kleine Nervensäge“ bedeutet, kriegsentscheidende Informationen für die Alliierten lieferte. Seit Ende der 1990er-Jahre ist die Aktivistin eine Art Zeitzeug*innen-Medienstar. Sie hat Auszeichnungen erhalten, das Buch „Behind Enemy Lines“ veröffentlicht und weltweit mehr als tausend Vorträge gehalten. Stets an ihrer Seite: Ehemann und Assistent Major Cohn. „Ich bin ihr Medaillenträger“, bemerkt er einmal augenzwinkernd. Nicola Alice Hens’ Langfilmdebüt blendet das Grauen des Kriegs nicht aus. Die mit Archivaufnahmen und Animationen illustrierten Rückblenden schaffen aber visuell Distanz zur Vergangenheit. Auch Cohns bescheiden wirkende Schilderung der lebensgefährlichen Spionagetätigkeit führt dazu, dass der Fokus auf ihrem Engagement in der Gegenwart liegt. Ihr Wille, kommende Generationen gegen Nationalismus und Antisemitismus zu wappnen, treibt sie an. Maxi Braun
Chichinette. Wie ich zufällig Spionin wurde DE 2019. Regie: Nicola Alice Hens. 86 Min., Start: 17.09.
Trouble Every Day
Eine Frau (Bèatrice Dalle) wartet nachts am Straßenrand, bis ein Trucker anhält. Er steigt aus, geht auf sie zu, die Stille ist erdrückend. Wenige Minuten später hält ein Motorradfahrer (Alex Descas) und findet die Leiche des Truckers im Gras. Er küsst die daneben sitzende Frau liebevoll. Währenddessen sitzt das frisch vermählte Paar Shane und June (Vincent Gallo und Tricia Vessey) im Flugzeug nach Paris, um ihre Flitterwochen zu feiern. Shane hat dabei Albträume von einem blutüberströmten Körper. Was zuerst zusammenhangslos erscheint, ist auf so skurrile Weise verwoben, dass es stellenweise schwerfällt, dem Film zu folgen. Denn sowohl der frisch vermählte Gatte als auch die nächtlich umherstreifende Dame sollen Versuchsobjekte längst zurückliegender Experimente gewesen sein und nun, als Folge, ihre Sexualpartner*innen während des Akts töten. Shane ist auf der Suche nach dem verantwortlichen Wissenschaftler, muss dabei aber stets aufpassen, dass er nicht seine Frau ermordet. Der zwanzig Jahre alte Film der Regisseurin Claire Denis gilt als Horror-Klassiker und muss in diesem Bewusstsein geschaut werden. So ist nicht nur der Inhalt ein Nerventest, sondern auch das nicht enden wollende Aneinanderreihen von Nahaufnahmen, die langen, beunruhigenden Wege und die sehr trashig anmutenden Visuals. Ava Weis
Trouble Every Day FR 2001. Regie: Claire Denis. Mit: Vincent Gallo, Bèatrice Dalle, Alex Descas u. a., 101 Min. Start 12.11.
Vitalina Varela
Sie solle wieder gehen, sagt man ihr am Flughafen, als Vitalina Varela erstmals portugiesischen Boden betritt, ihr Mann sei vor drei Tagen beerdigt worden, sie komme zu spät. Aber Vitalina bleibt. Mitte der 1980er-Jahre war ihr Ehemann von Kap Verde, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie, in ein Slum von Lissabon gezogen. Jetzt übernimmt sie seine Wohnung, spricht mit den Nachbar*innen. Der Plot des Films ist nicht leicht zusammenzufassen, aber auch herzlich irrelevant. „Vitalina Varela“ zeichnet sich vor allem durch bemerkenswert künstlerische Bilder, lange Kameraeinstellungen und eine langsame Erzählweise aus. Immer scheint Nacht zu sein, die Menschen leben im Schatten, es wird wenig gesprochen, die dicke Luft ist förmlich zu spüren. Beeindruckend ist auch Varelas Präsenz. Wie in anderen Filmen Pedro Costas ist Vitalina Varela eine Laiendarstellerin, die nur leicht fiktionalisiert ihr eigenes Schicksal porträtiert und gekonnt einen schwierigen Film trägt, der durch seinen extremen Arthouse-Anspruch Sehgewohnheiten infrage stellt, die geprägt sind durch viele Schnitte, Dialoge und musikalische Untermalung. Es lohnt sich, diesen Film auf einer großen Leinwand zu sehen, damit Bilder und Atmosphäre wirken. Isabella Caldart
Vitalina Varela PT 2019. Regie: Pedro Costa. Mit: Vitalina Varela, Isabel Cardoso, Ventura u. a., 124 Min., Start: 10.09.
Oeconomia
Wo kommt das Geld her? Die Frage ist gut, die Antwort kompliziert. Der neue Dokumentarfilm von Carmen Losmann („Work Hard – Play Hard“, 2011) beginnt mit harmloser Neugier an unserem Wirtschaftssystem nach der Finanzkrise 2008 und stürzt schnell in einen undurchsichtigen Kaninchenbau, verborgen hinter transparent anmutenden Glassfassaden. Computergrafiken und Losmanns Stimme nehmen uns an die Hand und fragen nach dem Zusammenhang zwischen Wachstum, Verschuldung und ungleicher Verteilung. Dabei werden die grundlegenden Spielregeln des Kapitalismus erklärt. (Die sind übrigens ganz anders als bei Monopoly.) Hört sich trocken an, ist aber wichtig, denn nur was man weiß, kann man ändern. Und Alternativen sind notwendig, denn die paradoxen Schleifen im Geldkreislauf häufen sich, je tiefer wir in das Universum der Kredite und Profite eindringen. Es wird klar: Hier herrscht ein instabiles System, das auf Dauer nicht funktionieren kann, auch weil eine Prämisse die Ausbeutung des Ökosystems ist. Ein schlagkräftiger Realitätscheck, stets begleitet von unermüdlich weiterlaufenden Drehtüren, monoton walzenden Rolltreppen und piepsenden Zugangsbeschränkungen. Sarah Kailuweit
Oeconomia DE 2020. Regie: Carmen Losmann. 89 Min., Start: 15.10.
XCONFESSIONS NIGHT
Wir kennen die legendären Geschichten aus den 1970er-Jahren, als Porno im Mainstream ankam und selbst Jackie Kennedy sich heimlich ins Kino schlich, um „Deep Throat“ zu schauen. Fünfzig Jahre später bringt die schwedische Regisseurin Erika Lust ihre „XConfessions“-Serie in Spielfilmlänge in die deutschen Kinos und es werden allerlei erotische Sehnsüchte bedient: heimlicher Sex mit dem Bruder des Partners oder Sex mit einem Flugschüler, heiße Ficks mit Romanfiguren und auch der Skilehrer wird selbstredend abends am Feuer vernascht. Gewohnt hochwertig inszeniert sind alle Clips von Frauen für „(nicht nur) Frauen“ gemacht, wie es in der Ankündigung heißt. Leider verschenkt die Zusammenstellung der Filme eine der wichtigsten Errungenschaften feministischer Pornografie: die Darstellung diverser Körper, Begehren und Sexualitäten. In den acht Geschichten sehen wir fast ausschließlich weißen, heterosexuellen cis Paaren beim Bumsen zu. Fraglos schön gemacht, doch wirklich sexy wäre echte Vielfalt. Sam Mayer
XCONFESSIONS NIGHT Spanien 2020. Regie: Erika Lust, Nuria Monferrer, Carolina Wallace. Mit: Kali Sudhra, Lana Sue, Anya Olsen u. a., 115 Min., Start: 24.09.
Bohnenstange
„Dylda“ – der russische Originaltitel von Kantemir Balagovs in Cannes ausgezeichnetem Film bedeutet übersetzt „Lulatsch“. Die Protagonistin Iya ist lang und dünn, hat weißblonde Haare und dichte Wimpern. Wahrlich wie eine Bohnenstange überragt sie oft die Menschen um sich herum um einen ganzen Kopf. Viktoria Miroshnichenko spielt die junge Frau, eine ehemalige Soldatin, die in Leningrad in einem Krankenhaus arbeitet. Es ist Herbst 1945 und der Krieg und die faschistische Besetzung haben Stadt und Menschen stark gezeichnet. Iya verfällt immer wieder momentelang in Schockstarre. Dabei kommt es zu einem Unglück mit dem kleinen Sohn ihrer Freundin Masha (Vasilisa Perelygina), den die Soldatin in Iyas Obhut gelassen hat. Der 1991 geborene Balagov erzählt von den beiden jungen Frauen, die sich nach einer Normalität sehnen, doch umgeben und geprägt von Kriegstraumata sind. Warme, leuchtende Farben kontrastieren mit deprimierender Realität. Mittendrin Miroshnichenko, die wie nicht von dieser Welt wirkt – schön und zugleich fremd, wie eine jüngere Tilda Swinton. Inspiriert vom 1985 erschienenen Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zeichnet Balagov eine eindrückliche Momentaufnahme Leningrads kurz nach Kriegsende. Amelie Persson
Bohnenstange RU 2019. Regie: Kantemir Balagov. Mit: Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina, Andrey Bykov u. a., 137 Min., Start: 22.10.
Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit
Man hört Sägen und Gemurmel. Sieht spielende Ferkel, hört fröhliche Zupfmusik. Dann eine Frauenstimme: „Irgendwo in diesen Schlachthallen hat Stanislaw gearbeitet.“ Er wurde selbst auf das Band gezogen und zerteilt. Später zeigt Protagonistin Inge Bultschnieder, die sich seit Langem für faire Verträge bei „Kotelettkanzler“ Tönnies einsetzt, wo eine kranke Schlachthofarbeiterin in Not ihr Kind ausgesetzt hat. Sie spricht mit einem Arbeiter, den sie gerettet hat, als er sich bewusstlos getrunken hatte. Er erwähnt, zu welch miesen Bedingungen ein Kollege von ihm schuftete, dass sie gemeinsam abhauen wollten. Dann sind da noch als Plüschschweine verkleidete Aktivist*innen und eine Münchner Schulklasse, die das Brecht-Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ probt. Diese und andere Fragmente hat die Dokumentarfilmerin Yulia Lokshina in ihren Diplomfilm gepackt, an dem sie drei Jahre gearbeitet hat – und zufällig ist das nicht neue Thema nach den COVID-19-Ausbrüchen in Schlachthöfen wieder aktuell. Bereits mehrfach ausgezeichnet ist „Regeln am Band“ ein bestürzender Film, der ausgebeutete Menschen ins Rampenlicht holt und den sich jede*r anschauen sollte. Barbara Schulz
Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit DE 2020. Regie: Yulia Lokshina. 92 Min., Start: 22.10.
Kajillionaire
© KAJILLIONAIRE, a Focus Features release. ©Matt Kennedy / 2020 FOCUS FEATURES LLC. ALL RIGHTS RESERVED
Die Dynes sind eine seltsame Familie. Das skurrile Trio aus Mutter (Debra Winger) und erwachsener Tochter ( Evan Rachel Wood) – beide mit offenen langen Haaren – und dem nerdigen Checker-Vater (Richard Jenkins) verbringt seine Tage damit, sich durch kleine, minutiös geplante Trickdiebstähle seinen kargen Lebensunterhalt zu finanzieren. Während die Mutter wie ein verhärmter Alt-Hippie wirkt, trägt die Tochter nicht nur den sonderbaren Namen Old Dolio (in Ehrerbietung an einen verstorbenen Obdachlosen), sondern auch stets übergroße Sportklamotten, lächelt nie und funktioniert wie eine asketische Leistungssportlerin. Durch Verhätschelungsentzug gedrillt, funktioniert Old Dolio wie das Präzisionswerkzeug zur Ausübung der Delikte zum täglichen Broterwerb. Dazu haben sie Schulden bei ihrem Vermieter. In ihre an eine „Schaumfabrik“ angrenzende Wohnung tritt Schaum durch die Wand aus, den sie auffangen und abschöpfen. Um unentdeckt am Vermieter vorbeizukommen, bewegen sie sich grotesk wie Cartoonfiguren daran vorbei. Spätestens da sind wir mitten drin in der eigenen und traumartigen Welt der (auch) Performancekünstlerin Miranda July. Die Art, wie Personen sich in welchen Räumen bewegen, wie sich schmerzhaft peinliche Szenen aufs Äußerste zuspitzen, um dann unerwartet zu entspannen, kennzeichnet ihre drei bisherigen Spielfilme. Eine zufällige Begegnung mit der hedonistischen Melanie während eines aufwändigen Coups zum Versicherungsbetrug irritiert den dysfunktionalen Familienbetrieb. Diese spontan hinzugewonnene Komplizin verkörpert das Gegenteil der Askese, denn deren eigene Mutter überschüttet sie mit Koseworten und überflüssigen Geschenken, sie hat Spaß an allem. Und engagiert sich immer mehr in den Deals mit dem Trio. Aber auch als quasi Sozialhelferin für Old Dolio, die unter dem Kuschelmangel ihrer Erziehung leidet. Melanie schafft es schließlich mit unglaublicher Gefasstheit in den absurdesten Momenten, ihr eine neue Perspektive jenseits der Abhängigkeit von ihrer buckligen Verwandtschaft zu zeigen. Imke Staats
Kajillionaire USA 2020. Regie: Miranda July. Mit: Evan Rachel Wood, Debra Winger, Richard Jenkins, Gina Rodriguez u.a., 105 Min., Start: 22.10.
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/20.