Missy Magazine 05/20 - Literaturrezis

Selbstachtung
Mit weit mehr als zwanzig Büchern zeugt das Werk der 2019 verstorbenen ersten afroamerikanischen Nobelpreisträgerin von einer beeindruckenden Schaffenskraft. Dank der Übersetzung des Sammelbands „Selbstachtung“ sind jetzt in zahlreichen Essays, Reden und Vorträgen die ihren Büchern innewohnenden Themen und politischen Überlegungen gebündelt nachzulesen. Damit gleicht „Selbstachtung“ einem intellektuellen Tagebuch und poetologischen Lehrbuch. Morrison beschreibt u. a. ihren Umgang mit historischen Tatsachen in der Fiktion und liefert gleichzeitig den theoretischen Hintergrund aktueller Debatten: Sie warnt vor Diktaturen und deren Werkzeugen, um kritische Autor*innen mundtot zu machen, liefert eine fundierte Globalisierungsanalyse und fragt im selben Atemzug nach dem, was „Heimat“ ausmacht. Besonders ihre Beiträge zu Rassismus, Menschenrechten und Redefreiheit sind unverzichtbar für das tiefe Verständnis ihrer Arbeiten. Wer Morrisons Bücher kennt, kann mithilfe von „Selbstachtung“ tiefer in deren Hintergründe und Entstehungsprozesse eintauchen. Wer Morrison noch nicht gelesen hat, wird durch dieses Buch auf eindringliche Weise dazu eingeladen. Linn Penelope Micklitz

Toni Morrison „Selbstachtung. Ausgewählte Essays, Reden und Betrachtungen“ Aus dem Englischen von Thomas Piltz, Nikolaus Stingl, Christiane Buchner, Dirk van Gunsteren und Christine Richter-Nilsson. Rowohlt, 544 S., 24 Euro

 

Missy Magazine 05/20 - Literaturrezis

Schreibtisch mit Aussicht
Wie unterscheiden sich die Bedingungen des Schreibens für Frauen und Männer? Ausgehend von Anne Tylers Essay „Still Just Writing“ (Ich schreibe nur), Ende der 1970er-Jahre entstanden, versammelt Ilka Piepgras Beiträge 22 weiterer Schriftstellerinnen aus den USA und Europa, in denen diese erzählen, warum sie schreiben und wie ihr Schreiballtag aussieht. Antonia Baum benennt gleich mehrere spezifische Bedingungen deutlich: die Rolle der Mutterschaft – auch bei Tyler wichtig –, welche die Zeit fürs Schreiben massiv einschränkt, die andauernde männliche Deutungshoheit im Literaturbetrieb (in den Feuilletons, Jurys), die damit zusammenhängende immer noch wirkmächtige Annahme, Literatur von Männern kreise um „universale“ Themen, die von Frauen um „das Andere“, „Frauenthemen“ eben. Sie liefert auch eine kluge Analyse, wie diese Geringschätzung sich unter den gegebenen Verhältnissen erhält und das Geschlecht der Schriftstellerin und somit ihr Körper immer in ihrer Literatur eingeschrieben sind. Während Elfriede Jelinek gar von einer „Verachtung für das Werk der Frau“ spricht, blenden andere den geschlechtsspezifischen Aspekt aus. Alle Autorinnen gewähren lebendige Einblicke in ihre Schreibwerkstätten und -biografien. Die Zielsetzung des Bandes bleibt indes etwas unscharf. Carola Ebeling

Ilka Piepgras (Hg.) „Schreibtisch mit Aussicht“ Kein & Aber, 288 S., 23 Euro

 

 

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Das Ei von Aua
„Sehr gut, sehr lustig und sehr merkwürdig“, sagte meine neunjährige Tochter nach der Lektüre über „Das Ei von Aua“. Ich wollte mich ob meiner hemmungslosen Begeisterung rückversichern, schließlich bin ich schon lange Superfan der beiden Macherinnen. Die Geschichte geht so: Bob ist ein einsamer Berg, der sehr traurig ist, weil er so weich ist (das liegt daran, dass seine Mutter ein Schwamm war und ihre für einen Berg völlig übertriebene Weichheit vererbt hat) und niemand auf ihn hinaufklettern oder herunterrodeln will. Sein Leben ändert sich schlagartig, als er eines Tages auf die geschäftstüchtige und erfinderische Eisverkäuferin Aurora und die kettenrauchende und aufmüpfige Schwalbe Emma trifft. Gemeinsam stürzen sie sich in ein gewagtes, aber saucooles Abenteuer. Spoiler: Es gibt ein Happy End. Nicht nur die drei sind überglücklich, sondern auch zahlreiche rodelnde und eisschleckende Kinder und ihre Latte-Macchiato-trinkenden Eltern.  Rike Drust schreibt generell viel: u. a. Bücher wie „Muttergefühle. Gesamtausgabe“, eine immer lesenswerte Kolumne auf Pinkstinks und treffende und authentische Rezensionen ihrer bestenschönstenlustigstenallerliebsten Kinderbücher als @kinstabuch auf Instagram. Nun hat sie sich mit „Das Ei von Aua“ endlich selbst unter die Kinderbuchautorinnen gemischt und ein fulminantes Debüt hingelegt. Die Illustrationen stammen von Mareike Engelke („Vor den 7 Bergen“), sind allererste Sahne und ergänzen die Story vortrefflich. Das Buch funktioniert super zum Vorlesen, ist aber auch eine herrlich klischeefreie Erstleser*innengeschichte – davon gibt es sowieso viel zu wenige. Carla Heher

Rike Drust „Das Ei von Aua“ Illustriert von Mareike Engelke. Kunstanstifter, 52 S., 22 Euro

 

 

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Das Hohe Lied
Es geht um ziemlich viel in diesem „Hohen Lied“: um Sex, Drugs und Punkrock, den Terror am 11. September, Donald Trumps Erfolg, Wahlkämpfe, Rassismus und Klimawandel. Und doch ist es vor allem eine Familiengeschichte, die die US-amerikanische, inzwischen in Bad Belzig lebende Schriftstellerin Nell Zink in ihrem 500 Seiten langen Roman erzählt. Ausgehend vom Pärchen Daniel und Pam, das in den 1990er- Jahren in New York in einem Bruchbuden-Loft lebt und Chancen wie Start-ups und Investitionen in Immobilien verstreichen lässt – was Pam später in einer Art Midlife-Crisis kurz bereut –, entspinnt sich über mehrere Generationen ein Gesellschaftsbild der USA. Da sind Pams Eltern aus der gehobenen Mittelschicht, mit denen sie sich in der Pubertät gehörig anlegt, und ihre Tochter Flora, die mit Wissenschaft und der Grünen Partei die Welt retten will. An ihnen allen und am befreundeten Rockstar Joe erzählt Zink mit Witz, Klugheit und anschaulichen Details, wie sich das politische Selbstverständnis über die Jahrzehnte geändert hat. Vom Irgendwie-dagegen-Sein der späten Punks bis zum dringenden Weltverbesserungsverlangen der heutigen Jugend. Vor der Kulisse riesiger politischer Veränderungen geht es vor allem um das Politische im Privaten und Fragen wie: Welche Beziehung will ich führen? Wie gehe ich mit anderen Menschen um? Wie wichtig ist Geld für mich? Und überhaupt darum, wie wir leben wollen – und wieso das manchmal nicht klappt. Juliane Streich

Nell Zink „Das Hohe Lied“ Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Rowohlt, 512 S., 25 Euro

 

 

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Das Palais muss brennen
Lu sagt zu Burschenschaftlern so Sätze wie: „Mensur ist Menstruationsneid“, ihren Mops nennt sie Marx und sie schläft mit wem sie will – eine von Grund auf sympathische Person also. Doch Luise wohnt in Wien im Palais. Ihre Mutter ist Bundespräsidentin, gehört einer rechtskonservativen Partei an und ist für Dinge wie Abschiebung und gegen Abtreibung. Die Tochter rebelliert, ihre Schwester zieht sich lieber zurück. Die drei wohnten früher im Plattenbau. Wie genau es zu dieser steilen politischen Karriere kam, erfährt man leider nicht. Aber es macht eine Riesenfreude, Lu dabei zu begleiten, wie sie ihre Mutter ärgert und sich ihre Freiheiten bewahrt. Herrlich bösartig ist das, weil total gewollt und provokativ. Doch Lu verliert sich in ihrem Hedonismus und den Träumereien von Aktivismus. Ihrem Plan, die Mutter zu stürzen, kommt leider jemand anderes zuvor – die Mutter schafft sich selbst ab. Das bildet zwar einerseits ganz gut den Zeitgeist ab – vor allem in Österreich –, für eine Held*innengeschichte reicht es aber nicht. Trotzdem, Spannagel schreibt pointiert und scharfsinnig und hat ein gutes Gespür für Absurdes. Tamara Marszalkowski

Mercedes Spannagel „Das Palais muss brennen“ KiWi, 192 S., 18 Euro

 

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Sexismus. Geschichte einer Unterdrückung
Zwar ist das Thema struktureller Sexismus spätestens seit #Aufschrei und #MeToo in aller Munde, doch die verschiedenen Lager diskutieren sich oftmals schlicht in Grund und Boden: Manchen wird vorgeworfen, dass sie Sexismus verharmlosen, bei anderen heißt es, sie seien hypersensibel. Dritten ist die Debatte zu hitzig, sie verschließen sich deshalb der Thematik. Dabei geht es alle etwas an. „Sexismus ist ein sehr altes Problem, das Menschen entzweit“, schreibt Susan Arndt. In ihrem Buch „Sexismus. Geschichte einer Unterdrückung“ nähert sie sich dem Begriff und ordnet ihn systematisch ein. Sie kritisiert das binäre Geschlechtersystem als Kern des Ganzen und erklärt, warum es keinen Sexismus gegen heterosexuelle cis Männer geben kann. Unter Betrachtung akademischer, persönlicher und aktivistischer Aspekte beschreibt Arndt das gesamtgesellschaftliche Problem anschaulich und gibt den Leser*innen eine Reihe von logisch aufgebauten Argumenten für die nächste Debatte an die Hand. Ein tolles Buch, inhaltlich fundiert, sprachlich trotzdem angenehm zu lesen und gut aufgebaut. Linda Peikert

Susan Arndt „Sexismus. Geschichte einer Unterdrückung“ C.H. Beck, 416 S., 26 Euro

 

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Die verschwindende Hälfte
Auch Brit Bennetts zweites Werk nach ihrem Bestseller „Die Mütter“ behandelt schwierige Familienbeziehungen. Desiree und Stella sind unzertrennlich, auch wenn sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Zwillinge werden in einem kleinen Ort im ländlichen Louisiana in den 1950er- Jahren groß, wo man stolz darauf ist, dass die Kinder von Generation zu Generation hellhäutiger werden. Gemeinsam fliehen die Zwillinge. Doch eines Tages wird Desiree ganz plötzlich und ohne Vorwarnung von Stella verlassen. Stella geht ihren eigenen Weg – sie gibt vor, weiß zu sein, und lebt ab da ein Leben, das nur Weißen vorbehalten ist. Desiree hingegen heiratet den dunkelhäutigsten Schwarzen, den sie finden kann. Auch Desirees Tochter Jude hat mit ihrem Aussehen zu kämpfen, so dark-skinned wie der Vater wird sie seit jeher abgewertet. In Kalifornien lernt sie Reese kennen und verliebt sich. Reese entstammt einer konservativen Familie in Arkansas, war vorher Therese und spart für eine Geschlechtsanpassung. So unterschiedlich die Figuren und ihre Geschichten sind, so ringen alle um die Befreiung von gesellschaftlichen Fesseln. Bennetts beeindruckendes Familienepos handelt von Rassismus, Colorism und Passing und könnte einerseits nicht zeitloser und andererseits nicht aktueller sein. Tamara Marszalkowski

Brit Bennett „Die verschwindende Hälfte“ Aus dem Englischen von Isabel Bogdan und Robin Detje. Rowohlt, 480 S., 22 Euro

 

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Was ich im Wasser sah
Katharina Köllers Debütroman beginnt mit entfernten Brüsten und einem tätowierten Oktopus. Die Erzählerin Klarissa benennt den Grund, Krebs, lange nicht. Stattdessen beschreibt sie das Gefühl von Fremdsein und Schiffbruch. Als ihre Mutter stirbt, kehrt sie zurück auf die Insel, den mythischen Schauplatz des Romans, zurück zur meerjungfrauenhaften Schwester, die sie symbiotisch anzieht und wieder abstößt, zurück zur väterlichen Schankwirtschaft namens „Schwankende Weltkugel“. Auf der Insel beeinflussen zunehmend Windräder alles Leben. Das Logo des mysteriösen Windparkbetreibers zeigt einen Seestern mit verlängertem Arm, wie ein Penis, interpretiert Klarissa, wie ein mutierter Seestern, der die Weltherrschaft an sich reißen will. Sonderbare Dinge passieren, Menschen sterben, alles scheint verseucht und der Eremit orakelt: „In dem Meer der Zukunft wird niemand mehr schwimmen können.“ Doch der Oktopus steht auch für Regeneration und dafür, sich seinen Ängsten und Schmerzen zu stellen. „Ich musste wütend bleiben und nicht einbrechen in den Sumpf, der unter der Wut lag und in dem man versank, wenn man es zuließ“, sagt Klarissa. „Was ich im Wasser sah“ ist ein Roman voller angedeuteter Fabelwesen, menschlicher Untiefen, globaler Abgründe, ein sagenhafter Schmöker: spannend und fabelhaft erzählt. Daniela Chmelik

Katharina Köller „Was ich im Wasser sah“ FVA, 320 S., 22 Euro

 

 

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Being Young
Linn Skåber gibt der Pubertät eine Stimme. Die Textsammlung besteht aus meist kurzen literarischen Monologen, basierend auf Gesprächen mit Jugendlichen. Im Vorwort vergleicht Skåber die schwierige Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen mit dem Zurechtfinden in einem vertrauten Zimmer, das in Abwesenheit völlig ummöbliert wurde. Die eigenen Bedürfnisse verändern sich und kollidieren oftmals mit den Erwartungen von außen. Mal fallen die Monologe minimalistisch in Listenform aus, mal in Gedichtform, einige gleichen einem Bewusstseinsstrom, der die Lesenden tiefer mitnimmt in die Gedankenwelt der Protagonist*innen. Die Texte thematisieren Alltagssituationen in der Pubertät – Selbstzweifel und Ängste, die Beziehung zu den Eltern, Anziehung und Verliebtsein. Die Übersetzung liest sich, bis auf die mehrfach auftretende „Cervelatwurst“, flüssig. Das Buch gewinnt durch die ganzseitigen verspielten Aquarelle von Lisa Aisato, die sich mit Texten abwechseln. Die Illustratorin zeichnet fantasievolle Porträts Jugendlicher, in denen sich Realität und beschriebene Gefühlswelten mit wunderbarer Leichtigkeit vermischen: riesige rosarote Kaugummiblasen, überdimensionale Zahnspangen, blau gefärbtes Haar, das sich zu einer Welle im Meer formt, und ein Kopf, der aus einem Aquarium voller Goldfische herausschaut. Amelie Persson

Linn Skåber „Being Young. Uns gehört die Welt“Aus dem Norwegischen
von Gabriele Haefs. Illustriert von Lisa Aisato. Rowohlt, 256 S., 24 Euro

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/20.