Haiku Hands
Haiku Hands
Mad Decent / Caroline / Universal

Das australische Trio kickt Bauchbeinepokopf mit simplen Melodien, nervösen Tribal-Beats und schlauen Texten. So geht’s locker hoch vom Sofa, rein in die Homedisco. Haiku Hands, die sich auch um ihre Looks und Videos kümmern, sammelten erstes Lob für ihren Gig beim 2019er South by Southwest Festival in Texas und punkteten u. a. als Support von Tame Impala und Sofi Tukker. Letztere komplettieren das housige „Fashion Model Art“, in dem Haiku Hands das Modebusiness auf den Arm nehmen, das so gern Kunst wäre. Ein Hit ist der Dancetrack „Manbitch“, den Haiku Hands als „eine Neuinterpretation des Konzepts ‚Bitch‘ für jede*n, der/die es identifizieren, besitzen und anpassen möchte“ verstanden haben möchten. Der flotte Electro-Clash von „Eat This Bass“ erinnert in seiner Aggro-Agitation an Chicks on Speed, während das zarte „Car Crash“ den Sound von Bananarama zitiert. Lieblingslied ist das teils geschriene Housestück „I See You Baby“, das das übergriffige Verhalten von Männern gegenüber Frauen thematisiert. Hoffen wir, dass Haiku Hands bald wieder live spielen können. Barbara Schulz

Pippa
Idiotenparadies
LasVegas Records / Soulfood / Believe Digital

Pippa ist keine Freundin des Perfekten. Ganz im Gegenteil. „Ich ziehe meine Kraft daraus, meine Schwäche zu zeigen. Perfektion ist für mich uninteressant und fad“, sagt die Wienerin, der einst am Musikgymnasium mangelndes Talent bescheinigt wurde. Ein Glück, dass Philippa Galli, die dann erst mal Schauspielerin an Theatern und im „Tatort“ wurde, doch noch mit dem Musikmachen begann. Letztes Jahr erschien ihr hochgelobtes Debüt „Superland“, nun gibt sie auf ihrem zweiten Album „Idiotenparadies“ einen Einblick in ihr und unser aller Leben. So zeigt sie sich bspw. im Song „Meine Traurigkeit“ verletzlich und deprimiert, im Song „Egal“ – der als Single schon zum kleinen Hit in Österreich avancierte – singt sie darüber, dass das moderne Leben mit all seinen Möglichkeiten so überfordernd ist, dass man am Ende auch einfach gar nichts machen kann. Oder schwimmen gehen. Dabei klingt Pippas Musik nach Pop, HipHop, Funk und Elektronik und nach etwas ganz Eigenem. Besonders begeistert gleich der erste Track des Albums, „Dystopia“, der die ganz großen Themen unserer Zeit von Überwachung bis Kapitalismus mit einem Nena-Zitat verbindet und die Frage stellt: Wo ist denn die schöne neue Welt, in der es auch Antworten ohne Geld gibt? Das weiß auch Pippa nicht, aber das wäre ja auch zu perfekt. Juliane Streich

ShitKid
20/20 ShitKid
PNKLSM
ShitKids Bedroom-Pop trägt keinen Adlaten Satinpyjama und schämt sich auch nicht für die Krümel auf dem Laken. Mag dieses Genre ansonsten vor allem Assoziationen mit verträumten Shoegaze wecken, hat das nur marginal etwas mit dem Projekt von Åsa Söderqvist gemein. Obwohl die Songwriterin „20/20 ShitKid“ als ihr poppigstes Album bezeichnet, hängt der Grunge- Nebel der Vorgängerplatte „Duo Limbo“ noch unverkennbar in der Luft. Coronavirus sei Dank liegen jetzt eben nur wenige Monate zwischen den Alben. Ganz im Zeichen von Social Distancing entstand „20/20 ShitKid“ in feinster DIY-Manier binnen drei Monaten im eigenen Zimmer, ShitKid schrumpfte derweil vom Duo wieder zum Solo- projekt der Anfangstage. Ihrem Ruf als spannendster Weirdo-Act Schwedens folgend, spickt Söderqvist auch ihr viertes Album mit unerwarteten Versatzstücken und kantigen Riffings. Ob im entspannten Indie-Pop von „Farmboy“, dem abgefuckten LoFi-Rock von „Freak“ oder dem sphärischen „Cool Breeze“: ShitKid klingt auch 2020 noch wie das Kind von Britney Spears und Soko, das sich den Frust mit GarageBand von der Seele schreibt. Mit der bewussten Abwendung von makellosen Hochglanzproduktionen hin zu knirschender Heimarbeit gelingt die Einladung zur Party in den eigenen vier Wänden von „20/20 ShitKid“ besonders charmant. Julia Köhler

Deutsche Laichen
Team Scheiße
Zeitstrafe

Deutsche Laichen haben nicht erst seit ihrem Debütalbum 2019 die deutsche Punkszene aufgemischt. „Auch wenn alle wegschau’n / Dein Deutschland, ein Albtraum“, schreit es uns im Opener ihrer EP „Team Scheiße“ entgegen. Die Hommage an das Buch ,,Eure Heimat ist unser Albtraum“ von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah kommt nicht von ungefähr. 2020 hat sich bisher nicht von der besten Seite gezeigt. Als ob es nicht reicht, in einer Pandemie zu leben, so sollte es doch spätestens dieses Jahr klar geworden sein, dass Rassismus (surprise!) tatsächlich ein systematisches Problem in Deutschland ist. Doch wer fühlt sich betroffen und wer ist betroffen? Deutsche Laichen prangern auf drei Songs performativen Aktivismus und Lippenbekenntnisse an, thematisieren migrantische Kindheitserinnerungen und Assimilierung und rechnen zudem auch direkt mal mit einer weiß-cis-männlichen dominiertenPunk-DIY-Szene ab. Alles gut abgeschmeckt mit selbstbewusstem unperfekten Punk, mal düster, mal tanzbar. Die Mischung aus deutschen und englischen Texten ist geblieben und Frontsängerin Asches tiefe Stimme verursacht weiterhin Gänsehaut. Oyèmi Hessou

Fiona Apple
Fetch The Bolt Cutters
Epic / Sony

Eigentlich sollte diese Platte erst diesen Sommer erscheinen, aber im Frühjahr schon empfand Fiona Apple, die Zeit sei reif für ihr wütendes und klaustrophobisches fünftes Album. Denn wegen COVID-19 waren (und sind) viele Menschen in ihren Häusern eingeschlossen und vom sozialen Leben ausgeschlossen. Auch drohte die MeToo-Debatte zu versanden, während sich die gesellschaftlichen Strukturen, die Übergriffe auf Frauen fördern, in der Pandemie verhärten. „Fetch The Bolt Cutters“ ist indes keine direkte Reaktion auf das Virus. Fiona Apple, die acht Jahre an dem Album gearbeitet hat, wehrt sich vielmehr mit poetischer Aggressivität gegen eine breitbeinige toxische Männlichkeit. Das elegische Klavier bedient sie dafür kaum noch, vielmehr trommelt sie auf alles ein, was ihr in die Finger kommt – und seien es die Wände ihres Hauses. Das klingt bei aller Rohheit hochmusikalisch und immer wieder auch zärtlich. Der Titel des Albums ist der Fernsehserie „The Fall – Tod in Belfast“ entlehnt, in der die Kommissarin nach einem Bolzenschneider verlangt, um in einen Raum zu gelangen, in dem ein Mädchen gefoltert wurde. Manchmal muss man eben Türen aufbrechen, um die dahinterliegenden Wahrheiten ans Licht zu bringen. Ende Juli ist „Fetch The Bolt Cutters“ auch als Vinyl und auf CD erschienen. Lene Zade

Suzanne Vega
An Evening Of New York Songs And Stories
Cooking Vinyl

Beobachtungen. Ganz kleine, am Rande, und doch auf den Punkt gebracht. Etwa die Frau, die am Café vorbeigeht, in dem du sitzt. Die in die Scheibe blickt – sodass du dich ertappt fühlst, bis du erleichtert feststellst, dass sie nur ihre Spiegelung betrachtet. Dieser kurze Textabschnitt aus dem Song „Tom’s Diner“ büßt auch dreißig Jahre nach Erscheinen nichts von seiner Dringlichkeit ein – weil dazu eben diese Stimme gehört, die die Momentaufnahme vorträgt. Die Stimme von Suzanne Vega. Unvergleichlich, sehr eigen, klar und doch mit Timbre, passend zum ganz persönlichen Folk Vegas, den sie uns seit den 1980er- Jahren liefert. Ruhige Songperlen voller Geschichten, die sich um die Großstadt, den Alltag, das Leiden, das Glück – ach, das Leben eben drehen. Es gibt ein Wiederhören mit Suzanne Vega, denn sie hat eine Auswahl ihrer Songs neu aufgenommen: live im New Yorker Café Carlyle. Und um New York geht es auch. Neben ihren Songs plaudert die Musikerin leidenschaftlich über ihre Lieblingsstadt, erzählt Anekdoten über die verlorenen Juwelen von Ava Gardner oder über ihren Freund Lou Reed, dessen Song „Walk On The Wild Side“ sie in ihrer ganz eigenen Version singt. Natürlich gibt es ihre Hits wie „Marlene On The Wall“ und „Luka“, aber eben auch abwegigere Titel. „Tom’s Diner“ singt sie ebenfalls und gibt nebenbei preis, wo das New Yorker Café zu finden ist – nicht in Brooklyn, wie oft gemutmaßt, sondern in der Upper West Side. Egal wo – Suzanne Vegas Musik bleibt einfach zeitlos gut. Michaela Drenovaković

Bully
SUGAREGG
Sub Pop / Cargo

Ein neues Hole-Album? Der erste Song „Add It On“ klingt jedenfalls wie ein Mix aus Hüsker Dü und Hole – geradlinig flugser Rock mit viel Distortion, zackige Drums, dazu die Stimme von Courtney Love ohne das Rasierklingenhafte. Das sind Bully aus Nashville, oder eher, das ist Bully. Denn Musikerin und Produzentin Alicia Bognanno rockt jetzt allein, mit alten Bandkollegen als Gastmusikern. „Every Tradition“ bezirzt mit schöner Gitarrenfigur und Bognannos Stimme als Chor. Leider klingen viele der anderen Songs auf der dritten Bully-Platte zu sehr nach Hole, auch wenn Bognanno mal über ihren Score für den Film „Her Smell“ (Elisabeth Moss als abgewrackter Rockstar, der explizit NICHT Frau Love sein soll, haha) sagte, sie sei nicht gut genug, um einen Hole-Song zu schreiben. Die Platte beweist das Gegenteil und auch, dass Bognanno glücklicherweise noch immer Pop mag, wie „What I Wanted“ zeigt – lupenreiner Jingle- Jangle-Rockpop mit bratzendem Refrain. Barbara Schulz

 

Idris Ackamoor & The Pyramids
Shaman!
Strut Records / K7 Records

Spiritual Jazz, Free Jazz, Afrobeat, Soul, Spoken Word, Call and Response, Dub, Funk, HipHop, astrale Klänge. In vielerlei Hinsicht reiht sich das neue Album „Shaman!“ von Idris Ackamoor & The Pyramids in die Traditionen afrodiasporischer Musikrichtungen und insbesonders auch in den Afrofuturismus ein. Die Titelnamen der neun Stücke haben wie schon auf den Vorgängerplatten politischen Anspruch, nur weniger explizit. Es geht um spirituelle Erkundung, Diesseits und Jenseits, Liebe und Verlust, Verletzlichkeit und letztendlich Heilung. Mithilfe von Congas, Schlagzeug, Flöte, Bassgitarre und Geige transportiert die Band diese Themen direkt unter die Haut. Die Tracks fließen perfekt ineinander. Das Stück „When Will I See You Again“ betrauert die vielen Leben, die durch Waffengewalt ein zu frühes Ende fanden: „Young and old die before their time / In the wrong place at the wrong time.“ „The Last Slave Ship“ handelt von Cudjo Lewis, dem letzten Überlebenden des letzten Schiffs, das Menschen von Afrika in die USA verschleppte. „Shaman“ ist, wie der Titel schon andeutet, eine knapp einstündige Reise durch das Innere, ein Ritual. Lisa Tracy Michalik

Aluna
Renaissance
Mad Decent / Caroline

Fehler zu machen, Fehler machen zu dürfen – nicht gerade etwas, wofür Schwarze Menschen oft Raum bekommen. Umso wichtiger also, dass Aluna ihr erstes Soloalbum mit den Lyrics „I’ve been making some real, real good mistakes“ beginnt. Sie claimed ihren Space. Das Coverartwork ist eine Collage und repräsentativ für das Album: Aluna lässt sich nicht in eine Box zwängen. Vielmehr vereint sie Gegensätze, die zusammengesetzt ein spannendes Puzzle ergeben. Anstatt den Stil der Renaissance aufgrund seines eurozentrischen Ideals komplett zu verdammen, eignet sie sich die Elemente an, die ihr gefallen. Auch die Kollaboration mit Princess Nokia zeigt, dass Differenzen zusammen funktionieren können: HipHop, Dance und Elektro werden vereint. Im gemeinsamen Song singt Aluna: „Get paid, I’m out the door / Make money and spend it one more / Get mine, looking so fine / Tell ’em, so don’t waste my time.“ Damit verweist sie darauf, dass Schwarze Frauen oft deutlich weniger verdienen als ihre weißen Counterparts. Aluna zeigt die Intersektionen von Race und Gender auf, kämpft für ihre Rechte und zelebriert sich nebenbei powervoll selbst. Josephine Papke

Kelly Lee Owens
Inner Song
Smalltown Supersound / Rough Trade

„Als meine Oma im Sterben lag, habe ich sie begleitet und mit ihr gesprochen. Hören ist der letzte Sinn, der aufhört zu funktionieren“, sagt Kelly Lee Owens zum neuen Album „Inner Song“. Ihre Großmutter ist im vergangenen Jahr gestorben und war der 31-jährigen Musikerin und ehemaligen Krankenschwester besonders nah. Sie hat den Track„Jeanette“nach ihr benannt, der wunderbar warm pulsiert und dessen Synths spielerisch Melodien entwickeln. Verlust kommt auf dem zweiten Album der in London lebenden und im ländlichen Wales aufgewachsenen Produzentin und Singer- Songwriterin in ganz unterschiedlichen Facetten vor, sei es das Ende einer Liebe im melancholischen „L.I.N.E.“, das Loslassen von Verletzungen in „Re-Wild“ oder das Schmelzen der Gletscher aufgrund des Klimawandels im pumpenden Techno von „Melt!“. Dabei ist ihre Stimme nicht mehr nur ein Instrument unter vielen, wie das noch auf ihrem viel gelobten Debüt der Fall war, sondern sie steht auf sechs der zehn Songs im Zentrum. Owens schafft es auf der Platte, Traurigkeit anzunehmen und mit ihrem Sound zwischen romantischem Techno und Acid, Shoegaze und waberndem Ambient sowie einnehmendem Pop gleichzeitig Kraft und Zuversicht zu geben – „Face and release“, wie es im Refrain von „Re-Wild“ so passend heißt. Liz Weidinger

Lafawndah
The Fifth Season
Latency

Yasmine Dubois alias Lafawndah kreierte mit ihrem Debütalbum „Ancestor Boy“ einen Sci-Fi Sound aus Avantgarde-Pop, R&B, Electronica sowie HipHop, der keine Zeit lässt für Distanz. Körper bewegen sich automatisch zu karibischen, japanischen oder orientalischen Klängen, die sie verwebt. Mit Mystik, Experimentierfreude und sirenenhafter Stimme lässt sie ihr vielschichtiges kulturelles Interesse auf Zuhörer*innen überschwappen. Die Künstlerin mit iranischen und ägyptischen Wurzeln, die ihre unvorhersehbaren Werke als ritualisierte Clubmusik beschreibt, betritt Neuland in dem Nachfolgewerk „The Fifth Season“ und konzentriert sich statt auf Tanzbarkeit mehr auf epische Energien. Kein Wunder, das Album referiert auf die „The Broken Earth“-Triologie der Fantasy-Autorin N.K. Jemisin. Eine herausstechende erzählerische Rolle übernehmen Tuba und Posaune, die mal kriegerisch, mal melancholisch klingen. Wie beim Vorgänger werden Worte nicht allein ihrer Bedeutung wegen genutzt. So zeigt Lafawndah im düsteren Cover von Beverly Glenn-Copelands „Don’t Despair“ ihre Virtuosität und erzeugt durch Wiederholung der Zeile „Tomorrow may bring roses/love“ Schmerz und Ekstase zugleich. „The Fifth Season“ öffnet wieder das Tor zu dieser begehrenswerten neuen Galaxy, nur ist das Album sanfter und trägt mehr Poesie in sich. Yuki Schubert

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/20.