FKA twigs trägt es, Lizzo trägt es, Nura trägt es – sogar auf dem letzten Missy-Cover: ein Korsett. Was jahrzehntelang als patriarchales Folterinstrument verschrien war, das Frauen nicht nur metaphorisch, sondern buchstäblich die Luft abschnürte, ist heute ein selbstverständlicher Gast in vielen feministischen Glamourgarderoben. Schon 2017 feierte das eng sitzende, die Taille betonende Kleidungsstück sein Comeback, und 2020 scheint endgültig klar: Das Korsett bleibt – ob nun im einfarbigen Unterwäschelook, als reißverschlussverziertes schwarzes Lederteil, als teures Designermodell von Brands wie Burberry, Jason Wu oder Mugler, als Budgetvariante oder als DIY-Produkt aus alten Sofabezügen wie bei Kristin Mallison.

Wie konnte dieses in den Augen vieler völlig überflüssige Kleidungsstück, das wie kein anderes Symbol für Unterdrückung und Sexismus war und für dessen Abschaffung Feminist*innen vor mehr als hundert Jahren leidenschaftlich kämpften, einen solchen Bedeutungswandel hinlegen? Wenn heute in einem historischen Kontext vom Korsett gesprochen wird, sind damit meist Varianten aus dem europäischen 19. Jahrhundert gemeint, die Frauenkörper, getreu dem damaligen Diktat von weiblicher Wohlanständigkeit, unter Lagen schwerer Kleidung zusammendrückten. Durch die Möglichkeiten zur Massenanfertigung dank der industriellen Revolution waren diese Körperformer nun für beinahe alle Bevölkerungsschichten zugänglich und konnten ohne fremde Hilfe angezogen werden. Doch es finden sich schon lange zuvor Beispiele von korsettähnlichen Kleidungsstücken: So trägt die vor ca. 3500 Jahren auf Kreta angefertigte Statuette der Schlangengöttin von Knossos über einem wallenden, bodenlangen Rock eine Art geschnürtes Mieder, das ihre nackten Brüste über der Taille durchaus sexy hochpresst.

Geformt durch Unterbekleidung wurden Frauenkörper danach quasi immer: ob durch brustverkleinernde Bänder in der Antike, durch Mieder im Mittelalter oder durch die mit Fischbein verstärkten Korsette ab dem Rokoko, später sogar mit Stahl. Die Figur sollte so der modischen Silhouette angepasst werden, der BH, wie wir ihn heute kennen, war noch nicht erfunden. Man ging davon aus, dass Frauenkörper – zumindest die der privilegierten Frauen, die nicht auf dem Feld oder im Handwerk arbeiten mussten – so schwach seien, dass sie die vielen Lagen von schweren Samt- oder Brokatstoffen nicht ohne Hilfe tragen könnten. Als während der französischen Revolution und im nachfolgenden Directoire mit seinem klassizistischen Kleidungsideal von lose fließenden Musselingewändern korsettlose Silhouetten en vogue wurden, waren manche Menschen entsetzt darüber, Frauenkörper in „Reinform“ zu sehen. Die Reformbewegung rund um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die viele feministische Bestrebungen stützte, setzte sich mit wallenden Kunstkitteln, wie denen der Wienerin Emilie Flöge, für mehr weibliche Bewegungsfreiheit und damit auch für die Abschaffung des Korsetts ein. 1892 veröffentlichte der liberale amerikanische Journalist Benjamin Orange Flower ein Pamphlet mit dem Titel „Fashion’s Slaves“, in dem er schrieb: „Das enge Schnüren, das es für eine Wespentaille benötigt, hat Generationen von Invaliden erzeugt und der Nachwelt ein Leiden beschert, das für viele Jahrzehnte nicht verschwinden wird.“ Drastische Vorher-Nachher-Zeichnungen von komplett verformten Rippen mit verrutschten Organen oder Berichte über ständig in Ohnmacht fallende Frauen sollten nun das Ende dieser „lebensgefährlichen“ Mode einläuten. Dabei sind sich heute die meisten Expert*innen einig, dass die gesundheitlichen Effekte des Korsetts insgesamt relativ harmlos waren bzw. die Extremschnürungen auf Taillen mit einem Umfang von 40 cm entweder extrem selten oder übertriebene Horrormeldungen waren.

Die US-amerikanische Modehistorikerin Valerie Steele bringt in ihrem 2001 erschienenen Buch „The Corset. A Cultural History“ provokant eine andere Deutung ins Spiel: Was, wenn die Frauen des 19. Jahrhunderts die Zuschnürung nicht primär als Zumutung empfunden hätten, sondern als einen der wenigen damals akzeptierten Wege, weibliche Lust und Erotik auszudrücken – mit enger Taille, wallendem Busen und sexy Ohnmachtsseufzern? Ob Frauenkörper nach dem weitgehenden Ende des Korsetts mit dem Ersten Weltkrieg, wo sie männliche Arbeitskraft ersetzen mussten und mehr Bewegungsfreiheit brauchten, wirklich „freier“ wurden, wird aus heutiger Perspektive auch bezweifelt: Der britische Soziologe Mike Featherstone führte 1982 in seinem Aufsatz „The Body In Consumer Culture“ das Konzept des „inner body“ ein, der durch ein Regime aus Diäten und Sport diszipliniert werde. Schon in den 1920er-Jahren wurde immer wieder vom „inneren Korsett der Muskeln“ gesprochen, das das äußere Korsett durch ein ebenso einengendes Fitness- und Ernährungsprogramm ersetzt.

Sind die Frauen, die das Korsett heute selbstbewusst als sichtbares Kleidungsstück und nicht als Unterwäsche tragen, vielleicht sogar radikal, weil sie die gesellschaftlich erwartete Arbeit am Körper einfach an ein Stück Stoff delegieren? Fakt ist jedenfalls, dass das umkämpfte Piece von vielen modernen Korsettträger*innen wie Lizzo oder der philippinischen Modedesignerin und Riot-Grrrl-Musikerin Mich Dulce als Empowerment verstanden wird. Weil es ihnen, vor allem als kurvige WoC, die sich immer wieder mit exotisierenden, kolonialistischen Blicken auf ihre Körper herumschlagen müssen, nicht nur ein Gefühl von selbstbestimmter Sexiness, sondern auch von Unverwundbarkeit gibt. Nicht umsonst wurde das Korsett immer wieder auch als eine Art Panzer beschrieben. An männlichen Schauspielern wie Timothée Chalamet oder dem gerade verstorbenen Chadwick Boseman war unlängst eine zarte Variante des Korsetts, in Form eines von Virgil Abloh für Vuitton designten Harness, auf dem Red Carpet zu sehen. Im 19. Jahrhundert wurde der „Figurformer“, heute den meisten unbekannt, übrigens auch von vielen Männern getragen. Da geht also noch was.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 05/20.