Jewish Frustration
Kolumnist*in:
Fotos/Illustration: Tine Fetz
„Ich habe es so satt!“ Ich sitze auf dem Bett und weine. Eine Mischung aus Wut und Erschöpfung. Meine Partnerin sitzt neben mir und schaut mich verständnisvoll an. Ich weiß, dass sie weiß, dass ich morgen oder übermorgen ohnehin mit dem weitermache, was ich eh nicht lassen kann: vehement jüdische Sichtbarkeit fordern, Defizite aufzeigen, sensibilisieren, wenn gewollt, streiten, wenn nicht. Aber heute ist einer dieser Tage, an denen ich das Gefühl habe, dass ich gegen Windmühlen ankämpfe und Frust und Enttäuschung mehr wiegen als mein Idealismus.
Eine jüdische Kneipe in Berlin wurde von Rechten niedergebrannt und niemanden hat es interessiert. Die Hygienedemos machen Berlin zum Spielplatz rechter Akteur*innen und niemand scheint bei der Bedrohung, die in diesen Tagen durch Berlin marschiert, Jüd*innen mit im Bewusstsein zu haben. Ich schweife durch die Sozialen Medien und mir wird immer klarer, was mir fehlt: ein klares Bewusstsein dafür, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus uns alle angeht und die Ablehnung von Antisemitismus bedingungslos sein muss. Ich bin gefrustet, weil wichtige Accounts mit Reichweite nicht auf den Brandanschlag aufmerksam machen wollen, weil sie ihre Feeds ausschließlich mit Schwarzem und Content of Color füttern. Ich habe das so stehen lassen, bleibe aber fassungslos, geht es hier doch nicht um Promotion für eine Bar, sondern darum, einen rechten Brandanschlag auf eine jüdische Kneipe sichtbar zu machen. Allyship ist keine Einbahnstraße.
Ähnlich ging es mir mit den Hygienedemos in den Sozialen Medien. Überall Posts und Tweets, die zu Recht ganz deutlich gesagt haben: Am 29. August ist es nicht sicher für BIPoCs und Migras auf den Berliner Straßen. Die gleichen Bubbles sind voll mit der offensichtlich abstrakten Floskel der antisemitischen Verschwörungsmythen, denn das Bewusstsein, dass auch wir nicht auf die Straße können, fehlt. Ich bin müde, denn egal, wohin man schaut, es gibt keine Selbstverständlichkeiten, geht es um jüdische Lebensrealitäten. Selbst in den Communitys, in denen die Auseinandersetzung mit bspw. Rassismus, Ableismus, Klassismus und Heteronormativität als Selbstverpflichtung verstanden wird, fehlt das Verständnis, dass dieselbe Verantwortung, sich zu reflektieren und zu bilden, auch für Antisemitismus gelten muss. Dass Antisemitismus alle angeht. Dass die Verantwortung keine Community ausschließt, egal, wie links, egal, wie queer, egal, wie PoC, egal, wie Black, egal, wie feministisch, egal, wie was auch immer. Das alles schreibe ich vor dem Hintergrund der rechten Demos in Berlin am 03. Oktober und dem Angriff vor der Synagoge Hamburg am 04. Oktober.
Und selbst wenn Räume glauben, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, wird schon an den Formaten deutlich, wie sehr er rationalisiert wird. Veranstaltungen zu Antisemitismus sind Info- oder Diskussionsveranstaltungen. Konzepte, die sich aus der Theorie rausbewegen, gibt es kaum. Aber das scheint niemandem aufzufallen oder gar zu beunruhigen. Oder wann habt ihr das letzte Mal einen Antisemitismus-Awareness-Workshop für euch und euer Umfeld organisiert? Habt ihr euch (spätestens) nach Halle und Hanau in euren Communitys zu Strategien rund um Anti-Antisemitismus oder gegen antisemitische Gewalt ausgetauscht oder schon mal überlegt, wie Räume zugänglicher für uns werden?
Ich sehe keine Veranstaltungen zu „critical goyness“ oder selbstverantwortliche Formate, in denen sich zu Jewish-Allyship gebildet wird. Demonstrieren gehen und ein bisschen Plakate schwingen reicht nicht, um Strukturen INNERHALB unserer Communitys zu verändern. Und ohne systematisch, mithilfe politisch bildenden Jüd*innen in die methodische Selbstreflexion zu gehen, bleibt Antisemitismus etwas, das man wie bisher worthülsenhaft und ohne Wissen, was es für Jüd*innen im Alltag, strukturell und institutionell bedeutet, effektlos verurteilt.
Die meisten Communitys erwarten ZU RECHT eine Auseinandersetzung mit ihren Lebenswirklichkeiten in Deutschland. Aber für die meisten Communitys gehört es nicht zum aktivistischen Selbstverständnis, sich mit jüdischen Wirklichkeiten und Antisemitismus in Deutschland zu befassen. Und weil Antisemitismus nicht als Problem verstanden wird, weil man immer noch glaubt, Jüd*innen könnten es irgendwie ein bisschen mehr ab als alle anderen marginalisierten Gruppen, ist Antisemitismuskritik fatalerweise auch nicht bedingungslos.
Dass rassistische, ableistische, transfeindliche etc. Beleidigungen und Repressionen keine Option sind, egal, wie problematisch jemand ist, ist in den jeweiligen aktivistischen Kontexten Common Sense. Aber dass antisemitische Beleidigungen und Repressionen nicht ignoriert werden können, weil jemand kontrovers ist, nicht. Antisemitische Angriffe werden toleriert, weil die Person es scheinbar nicht anders verdient hat oder es egal ist, weil die Person selbst ungute Dinge sagt. Dass Antisemitismus niemals unter keinen Umständen legitim ist, egal, gegen wen, egal, warum, egal, von wem, ist kein aktivistischer Automatismus, sondern bleibt im besten Fall Verhandlungssache.
Es ist frustrierend zu sehen, dass wir in politischen Communitys diese wabernde Grundhaltung haben, dass Anti-Antisemitismus nicht Aufgabe aller und nicht bedingungslos sein muss, weil internalisierter Antisemitismus, der eher über Gefühlsebenen als über klare Vorstellungen funktioniert, dazu führt, dass da dieses Gefühl ist: dass Jüd*innen eh mehr Ressourcen hätten, Diskriminierung wegzustecken, bzw. es im Grunde eh nicht schlimm wäre, weil es gar keine „echte Diskriminierung“ ist. Hinter diesem gefühlten „bei Juden ist es nicht so schlimm“ und „die haben es eh besser“ beruht die diffuse Idee der Privilegiertheit und Ressourcennähe auf der antisemitischen Vorstellung, dass Jüd*innen ressourcenstark und mächtig genug seien, um das schon abzukönnen. Faktisch gibt es jedoch für Jüd*innen außerhalb der Gemeinden im Grunde keine jüdischen Räume, keine Infrastruktur, kaum Sichtbarkeit und kaum Sensibilisierung in queeren, linken, antirassistischen … Communitys. Das Narrativ der vielen mächtigen Juden sorgt auch dafür, dass fast überall eine Vorstellung davon fehlt, wie klein die jüdische Community in Deutschland tatsächlich ist.
Es ist erschöpfend, weil ich manchmal die Hoffnung verliere, dass Räume ihre Defizite und ihre Verantwortung realisieren. Denn ohne diese Einsicht kann Wissen zu jüdischen Realitäten auch nicht Teil des politischen Grundkanons werden. Aber zu dieser Einsicht zu kommen ist ohne Wissen zu jüdischen Realitäten fast ausgeschlossen, denn wie sollten die Werkzeuge für diese Selbstreflexion gebildet werden, wenn nicht allein durch jüdische Stimmen, die gehört werden. Die Relevanz jüdischer Stimmen als Teil intersektionaler Politiken bleibt aber ungesehen, solange wabernde antisemitische Nicht-Bilder verhindern, dass Jüd*innen statt als privilegierte Zentren der Macht als jene marginalisierte Gruppe betrachtet werden, die sie sind.
Und da wären wir wieder am Anfang. An Tagen wie diesen, wenn ich weinend vor Frust und Müdigkeit im Bett sitze und meiner Freundin erkläre, dass ich keine Lust mehr habe, wird mir vor allem eines schmerzlich bewusst: Ich bin nicht die erste Generation aktivistischer Jüd*innen, die versucht, grundlegend Awareness in aktivistischen Räumen zu schaffen, und es wäre überraschend, wenn ich die erste Generation wäre, die nicht scheitert. Es gab immer einzelne Akteur*innen, die sich solidarisch gezeigt haben, aber linke, feministische, antirassistische, intersektionale Communitys haben es bis jetzt nicht geschafft, Strukturen und selbstverantwortliche Formate zu entwickeln oder auch nur die Vorstellung davon, dass es diese braucht. Jüdische Wirklichkeiten zu hören und anzuerkennen, als feministische, als intersektionale, als linke Aufgabe, Anti-Antisemitismus, als Selbstverpflichtung und Ausgangspunkt zur Selbstreflexion und zwar aktiv und in der Tiefe, Allyship im Bewusstsein, dass Goyim unsere Lebensrealitäten niemals nachvollziehen können, aber zumindest versuchen können, sie zu verstehen, all dies scheint schmollend auf meinem Bett eine Utopie.
Das Problem ist, wenn ich mir morgen oder übermorgen nicht wieder das Krönchen aufsetzte – um eine wundervolle Freundin zu zitieren – und von vorne anfange, freundliche, differenzierte, zugängliche und weniger unbequem-frustrierte Texte als diesen hier zu schreiben, wenn ich mir die Frusttränen nicht aus dem Gesicht wische, um mit Humor und Charme und Sympathie wieder zu versuchen, Aktivist*innen dort abzuholen, wo sie stehen, dann würde ich jetzt schon zu den Gescheiterten zählen und ich bin noch nicht so weit. Vielleicht in ein paar Wochen oder nächstes Jahr, vielleicht in dreißig Jahren. Alternativ könntet ihr aber auch anfangen, hinzuschauen und aktiv zu werden, Antisemitismus als Problem zu verstehen, das uns alle betrifft, und zu begreifen, dass Anti-Antisemitismus bedingungslos sein muss. Und damit meine ich IHR ALLE, jene, die glauben, ihre Hausaufgaben schon gemacht zu haben, aber oft dort bleiben, wo es ihnen selbst nicht weh tut oder ihren eigenen Politiken nutzt, sie sich persönlich nicht berühren müssen.
Ich meine jene, die glauben, sie seien nicht gemeint und Wege und Erklärungen finden, der Aufforderung mit Gleichgültigkeit aus dem Weg zu gehen. Ich meine jene, die der Text wütend macht und das Unwohlsein in Abwehr umschwingt. Ich meine jene, die den einen Logikfehler, das falsche Wort, die falsche Formulierung suchen, um den ganzen Text zu verwerfen und somit den Bedarf der Auseinandersetzung, den Umstand der Schieflage diskreditieren und negieren zu können. Ich meine jene, die jetzt das Bedürfnis haben, mit dem Finger lieber auf andere zu zeigen, als auf sich selbst zu schauen. Jene, die glauben, mit dem Lesen dieses Texts hätten sie vielleicht ihre Aufgabe schon erfüllt. Jene, die glauben, weil sie das Wort Antisemitismus auf Plakate schreiben, in Diskussionen einwerfen, hinter „uns“ klatschen, müssten sich nicht mehr mit den Wirklichkeiten und Widersprüchen und Komplexitäten dahinter befassen. Ihr seht die Leerstellen nicht, weil ihr in sie reingewachsen seid. Aber es ist eure Aufgabe, uns zu glauben, dass es ein Problem gibt, und es ist eure Aufgabe, es (mit uns) anzugehen. Solidarität ist das Schlüsselwort.
Gute Nacht!