Ich habe Angst vor der Stange. Ich nehme mir fest vor, es diesmal zu schaffen, hole Schwung und stolpere dann doch wieder peinlich im Kreis. Sie zeigt mir, wie es geht. Nur an einer Hand hält sie die Polestange fest, die mitten im chaotischen Sportraum steht, und übergibt ihren Körper der Fliehkraft. Ich beobachte, wie ihre fransige, bunte Frisur und ihre punkigen Klamotten durch den Raum kreiseln. Wenn ich nicht gerade ungeschickt gegen die Stange donnere, drillt sie mich mit allen möglichen Übungen, damit ich wenigstens schon mal die Muskeln für unser Poletraining aufbauen kann.
Wir sind in der Liebig 34, es ist Sommer, schon ein paar Jahre her, und eine Sexarbeiterin gibt mir Privatunterricht im Poledance. Sie ballert Dancehall aus dem Handy. Wir reden über Selbstbewusstsein und Körpergefühl und besprechen, dass ich einerseits als ich, Christian, dieser unbeholfene, queere trans Boy, Poledance lernen werde, und andererseits als meine Sexwork-Persönlichkeit, eine selbstsichere, erotische Fantasiefigur. Diese beiden haben verschiedene Verkörperungen, in der Welt sowie beim Tanzen.
Dann machen wir Pause. Sitzen verschwitzt auf einem der Balkone, die durch die Fotos von der Räumung so bekannt geworden sind. Ich rauche, sie beantwortet E-Mails von devoten Kunden, indem sie sie beschimpft und herumkommandiert. Ich erzähle ihr, wie es im Bordell so abläuft. Sie würde da auch gern mal arbeiten, hat aber keine Arbeitserlaubnis. Deshalb kann sie in Deutschland auch nicht strippen, sondern hustlet auf anderen Wegen. Wir ziehen jede*r eine Line – sie, damit sie härter und länger trainieren kann, ich, damit ich beim Üben mutiger werde. Später zeigt sie mir noch ihre selbst gemachten kinky Accessoires und erzählt von Aktionen antifaschistischer Sexarbeiter*innen, bei denen sie dabei war. Von außen kann sich niemand vorstellen, wie komplex und prekär, wie niederschmetternd und hoffnungsvoll es in diesem Haus zugegangen ist. Weder die Selbstorganisation noch die Community-interne Gewalt sind für die Bürgis da draußen nachvollziehbar. Trotzdem haben die Liebig-Leute in den letzten Monaten und dann, bei der Räumung am 09. Oktober, eine Geschichte in die Köpfe der Bürgerlichen, Linksliberalen, cis Heten, Kartoffeln und und und da draußen gepflanzt. Die Hausbesetzung ist eine direkte Aktion, die sich selbst erklärt: Eine Gruppe von Leuten bezieht ein Haus, ohne sich die Erlaubnis dafür abzuholen und ohne Miete zu bezahlen. Die Aussage ist: Wir haben ein Recht darauf, zu wohnen und zu leben. Und: Wir setzen dieses Recht in die Wirklichkeit um, egal, was andere dazu sagen.

Wohnraumknappheit und Gentrifizierung sind Themen, die inzwischen in jeder Stadt in Deutschland breit besprochen werden. Betroffen ist nämlich inzwischen auch die Mittelklasse. Mensch sollte dementsprechend meinen, dass eine Hausbesetzung von den Massen der unglücklichen Mieter*innen unterstützt wird. Dass jede noch so winzige Hausbesetzung die anschlussfähigste linke Aktion des Jahres werden müsste. Aber so ist es nicht. Wenn wir mal ehrlich sind, hält sich die Begeisterung der Anwohner*innen meistens in Grenzen. Maximal sagt mal jemand, mich stört ihr nicht, das Haus stand ja sowieso leer. Doch auf die Politisierung der Mitmenschen und die Akzeptanz der direkten Aktion kann sich niemand verlassen, außer vielleicht Nazis, wenn sie Hetzjagden veranstalten. Denn momentan können sich nur Rechte drauf verlassen, dass ihre direkten Aktionen von Anwohner*innen geduldet oder sogar gefeiert werden. Die Liebig zahlte zwar jahrzehntelang Miete, zuletzt an den sketchy Vermieter Padovicz, war jedoch seit Anfang 2019 wieder ein besetztes Haus. Padovicz hatte einem Verein, der das Haus angeblich angemietet hatte, zum Ende des Jahres 2018 gekündigt. Das akzeptierten die Bewohner*innen nicht. So wurde aus dem bekanntesten FLINT*-Hausprojekt im deutschsprachigen Raum wieder eine Besetzung. Die Geschichte der Liebig-Räumung, die über anarcha-autonome-queerfeministische Kreise hinausgedrungen ist, geht ungefähr so: Eine Gemeinschaft von Misfits nimmt sich, was sie braucht, und kämpft darum, es behalten zu können. Eine Gruppe von witzigen, mutigen Leuten mit neonfarbenen Perücken und Tierkostümen in einem bunt bemalten Haus widersteht ohne toxische Männlichkeit Tausenden von Bullen.

Eine andere eindrückliche Bildergeschichte, die anarchistisches Gedankengut in die Normalowelt ballerte, entstand bei der Räumung des Hambacher Forsts 2018. Ich werde nie vergessen, wie die Kolleg*innen im Puff, die sich normalerweise ablehnend gegenüber allem zeigten, das irgendwie linksversifft rüberkam, von diesem einen, viral gegangenen Video schwärmten. Darin sprach Winter, frisch aus dem Baumhaus gezerrt und flankiert von behelmten Cops, von Leben und Kämpfen der Besetzer*innen im Wald. Meine Kolleg*innen zeigten mir Fotostrecken von Baumhäusern und ich erklärte, was die Rote Hilfe ist. Fast surreal, wie eine Welt in die andere hineinglitt. Einen Tag lang hatte ich das Gefühl, mich mit ihnen über meine eigenen Träume und Gedanken austauschen zu können. Der Backlash auf die Liebig-Räumung war und ist harsch. Ein Freund beschrieb ihn als Anzeichen dafür, dass die Liebig-Bewohner*innen ihre militanten Ideen gefährlich gut vermittelt haben. Weil sie zu sympathisch, zu cool, zu empowernd und zu sehr Underdog waren, rasteten die Bürgis – von Liberalo bis Rechte – komplett aus. Mit misogynen Sprüchen unter dem Hashtag „Drecksloch“ wollten sie das Haus und alles, was es symbolisiert, zum Schweigen bringen. 

Christian Schmacht

Christian Schmacht, geboren 1989, ist queerer Autor und Sexarbeiter. Seine Novelle „Fleisch mit weißer Soße" erschien 2017 bei der Edition Assemblage. Er mag Geld und Sex, aber am liebsten beides zusammen. Er mag es außerdem sehr, das hart verdiente Geld für Luxusartikel auszugeben. Auf Twitter schreibt er unter @hurentheorie.

Geteilte Bilder des Hauses vermitteln zwar keine komplizierten anarchistische, intersektionale Idee, doch sie eröffnen positive, träumerische Bezüge auf ein Leben ohne Staat und Kapital, ohne Faschos und Bullen. Und sie kommen eventuell bei Leuten an, die keine schwarze Regenjacke von The Northface im Kleiderschrank haben. Die Polestange im Sportraum der Liebig 34 gibt es nicht mehr. Vielleicht wird sie noch gerächt werden. Jedes Haus habe seinen Preis, liest mensch in anonymen Aufrufen. Dieses soll 34 Millionen Euro kosten, der Betrag wird in Sachschaden bemessen. So sind bereits brennende Autos, Graffiti, Farbbeutel, Kabelbrand im öffentlichen Nahverkehr und andere Aktionen der geräumten Liebig gewidmet worden.