Hündin

Damaris lebt mit ihrem Mann Rogelio an der Pazifikküste Kolumbiens am Rande eines Dorfs bei Buenaventura. Sie kümmert sich um die Ferienhäuser und Grundstücke der reichen weißen Städter*innen, Rogelio arbeitet auf einem Fischkutter. Die beiden leben in einem großen verlassenen Strandhaus mit einer dunklen Vorgeschichte. Es ist ein bescheidenes Leben, das Damaris in steter Angst vor dem Tag führt, an dem die reichen weißen Besitzer zurückkehren und ihre Putz- und Aufräumarbeiten inspizieren werden, obwohl diese schon seit Jahrzehnten nicht mehr an die Steilküste zurückgekehrt sind. Die beiderseitige große Enttäuschung über den unerfüllten Kinderwunsch entfremdet das Ehepaar schließlich voneinander und lässt beide mehr zu Mitbewohner*innen werden. Als Damaris einen verwaisten Welpen adoptiert, soll alles anders werden: Endlich ist eine passende Rezipientin für Damaris’ Liebe und Hingabe gefunden. Doch die Hündin will sich partout nicht von Damaris so lieben lassen, wie diese sich das vorstellt. Ein Buch über Liebe und Zurückweisung, über große Hoffnungen und noch größere Enttäuschungen. Über widerspenstige Schutzbefohlene und Fragen der Autonomie. Muss man wirklich alles, was man liebt, loslassen können? Olja Alvir

Pilar Quintana „Hündin“ Aus dem Spanischen von Mayela Gerhardt. Aufbau, 151 S., 18 Euro

Selbstverteidigung

Wenn es nach den polizeilichen „Hüter*innen der Sicherheit“ geht, zählen anscheinend nicht alle Leben gleich. Oury Jalloh, Breonna Taylor, William Tonou-Mbobda – drei Namen auf einer langen Liste von Menschen, die durch ebenjene ermordet wurden. Elsa Dorlin untersucht in ihrem philosophischen Essay die historische Kluft zwischen „verteidigungswürdigen“ und wehrlosen Körpern, die den strukturellen Rassismus unserer heutigen Gesellschaft nach wie vor unterfüttert. Das preisgekrönte Buch entwirft eine Genealogie der politischen Selbstverteidigung und reflektiert, wie Politik in Körper eingeschrieben wird. Ausgangspunkt der Analyse sind dabei die widerständigen Körper der historisch Beherrschten. Dorlin spannt einen Bogen vom Widerstand der Versklavten bis zum Aufstand im Warschauer Ghetto. Die Philosophieprofessorin verdeutlicht durch ihre sensiblen Beobachtungen, dass Pazifismus ein Privileg ist, und zeigt, wie Selbstverteidigung eine politische Revolution sein kann. Sie gräbt sich durch die Geschichte der Gewalt und lässt politische Philosoph*innen wie Frantz Fanon, Michel Foucault, Malcom X und Judith Butler miteinander streiten, um ihre Thesen neu zu interpretieren. Die so entstehende Historie wirft ein kritisches Licht auf heutige Sicherheitspolitik – egal, ob in deutschen Großstädten oder an den europäischen Außengrenzen. Sarah Kailuweit

Elsa Dorlin „Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt“ Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp, 315 S., 32 Euro

 

Roter Affe

Ka ́ska Brylas Debütroman spielt zwischen Warschau und Wien, der JVA Moabit in Berlin und einer Autofahrt durch Polen – immer wieder durchkreuzt von der Kindheitserinnerung an einen See. Die unterschiedlichen Orte verweben die Biografien und Erinnerungen der Protagonist*innen miteinander. Mania, Ruth, Tomek und Zahit nähern sich großen Fragen nach einer „Theorie des Bösen“ und wählen unterschiedliche Wege im Umgang mit ihren persönlichen Traumata. Der Roman spielt dabei nie im luftleeren Raum. Bryla verankert das Geschehen stets in einem konkreten politischen Kontext: Zahit migrierte 2015 nach Europa, die queere Hauptprotagonistin Mania fuhr damals das Auto über die österreichische Grenze. Bryla, die 2015 die Literaturzeitschrift „PS: Politisch Schreiben“ mitgründete, setzt ihren Anspruch um, „das Andere zum Allgemeinen“ zu machen. Migration und queeres Leben werden in die Handlung eingeflochten, ohne explizit Thema zu sein. Die Protagonist*innen sprechen Polnisch miteinander und nicht alles wird ins Deutsche übersetzt. Auch was das Genre betrifft, lässt sich „Roter Affe“ nicht mit herkömmlichen Kategorien greifen: mal Krimi, mal Road-Novel, mal Dialoge wie für eine Theaterbühne geschrieben. Ganz schön viel, aber es lohnt sich. Juri Wasenmüller 

Kaśka Bryla „Roter Affe“ Residenz, 240 S., 22 Euro

Phänomenale Frauen

Literaturübersetzung ist ein wichtiger, aber kaum beachteter Beruf, der große sprachliche Expertise und viel Durchhaltevermögen erfordert. Zugespitzt wird das Ganze bei der Lyrikübersetzung. Mit der Verdichtung des Sprachmaterials und der transportierten Bilder, auch mit der stärkeren Bedeutung von Rhythmus, wird die Übersetzung eines Texts in eine andere Sprache sowie andere gesellschaftliche und kulturelle Horizonte zur regelrechten Denksportaufgabe. Eine der wichtigsten afroamerikanischen Stimmen, Maya Angelou, übersetzte nun Judith Zander für den Suhrkamp Verlag. „Phänomenale Frauen“, ursprünglich 1995 erschienen, ist eine Gedichtsammlung und darunter sind etwa auch bekannte, mittlerweile zu Klassikern, geflügelten Worten und Instagram- Motivationsposts gewordene Meisterinnenwerke wie „Life Doesn’t Frighten Me“ und „Still I Rise“. Doch leider wirkt die deutsche Übersetzung heute, ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen des Werks, in einer globalisierten Welt, wo Angelous Worte im Original die Grenzen der US- amerikanischen kulturellen Sphäre schon längst durchbrochen haben, etwas merkwürdig. Zusammenfassen lässt sich dieser Umstand am besten mit Maya Angelous eigenen Worten aus „Unmeasured Tempo“: „You did arrive, smiling, but too late.“ Olja Alvir

Maya Angelou „Phänomenale Frauen. Gedichte“ Aus dem Englischen von Judith Zander. Suhrkamp, 95 S., 14 Euro

 

Unverblümt!

Von Bienchen und Blümchen ist heutzutage beim Thema Sex und Aufklärung ja längst nicht mehr die Rede. Die Kanadierin Myriam Daguzan Bernier geht einen Schritt weiter und liefert ein ausführliches und sehr zeitgemäßes Nachschlagewerk. Von A wie Analsex bis Z wie Zustimmung werden einschlägige Begriffe alphabetisch durchgegangen, ebenso wie verwandte Themenbereiche von Diversität, Genderidentität, Menstruationstasse über Rassismus bis zu Slut Shaming. Die Sprache ist klar und empowernd, wunderbar ins Deutsche übersetzt von Maren Illinger. Vermittelt werden sollen Freude und Offenheit beim Entdecken des eigenen Körpers und der eigenen Lust, dabei werden als Voraussetzungen Respekt und Einverständnis immer wieder betont. Zielgruppe sind junge unaufgeklärte Leser*innen, doch die Lektüre bildet auch bereits Aufgeklärte weiter. Denn hier werden auch komplexe Begriffe in wenigen Sätzen erklärt, mit Mythen aufgeräumt und Tipps zum Weiterlesen gegeben. Ein ausführliches Glossar mit Literatur zu allen angesprochenen Themen gibt es obendrein. Bebildert ist der gut 270 Seiten starke Band mit abstrakten grafischen Illustrationen von Cécile Gariépy. Verspielte kurvige Körperformen in Orangerot, Blau und Lila erstrecken sich über die Seiten. Empfohlen ist der Band ab 14 Jahren und sollte allen zur Verfügung stehen, die voller Fragen sind zum Thema Sexualität, sowie denen, die Aufklärung zur Aufgabe haben. So unverblümt macht es wirklich Spaß! Amelie Persson

Myriam Daguzan Bernier „Unverblümt! Klare Fakten zu Sex und Aufklärung“Aus dem Englischen von Maren Illinger. Fischer Sauerländer, 272 S., 16 Euro

 

Good Night Stories For Rebel Girls

Nach den großen Erfolgen der ersten beiden Teile der crowdfundingbasierten „Good Night Stories For Rebel Girls“ hat die italienisch- amerikanische Autorin Elena Favilli (dieses Mal im Alleingang) einen dritten Band nachgelegt. Dieser holt nun ausschließlich Frauen, die ihre Geburtsländer verließen, vor den Vorhang. Gemeinsam haben sie zudem, dass ihre Taten und Ideen die Welt veränderten – aber auch die Tatsache, dass die allermeisten von ihnen aus unterschiedlichsten Ländern in die USA oder nach Westeuropa zogen, was einen sehr einseitig und westlich geprägten Blick auf weltweite Migrationsbewegungen wirft. Abgesehen davon ist die Auswahl der Frauen durchaus vielfältig. In literarisch nicht besonders herausragenden, aber von großartigen Illustrator*innen bebilderten Texten werden bemerkenswerte Frauen vorgestellt, u. a. Laskarina „Bouboulina“ Pinotsis, die Ende des 18. Jahrhunderts als Schiffskommandeurin in Griechenland wirkte, die Anwältin Pnina Tamano-Shata, die als erste in Äthiopien geborene Jüdin in die israelische Knesset gewählt wurde, sowie Jawahir Jewels Roble, die in Mogadischu Fußballspielen lernte und mittlerweile in England als Schiedsrichterin arbeitet. Favilli hat es mit ihren Projekten geschafft, feministischen Wind in die Mainstream-Kinder- und Jugendbuchwelt zu bringen, und ist mit ihrem neuesten Werk einen konsequenten Schritt weitergegangen: Im Hinblick auf die negative mediale Konnotation des Begriffs „Migrantin“ ist das ein ziemlich empowerndes Unterfangen. Carla Heher

Elena Favilli „Good Night Stories For Rebel Girls. 100 Migrantinnen, die die Welt verändern“ Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann. Hanser, 224 S., 24 Euro, ab 10 Jahren

 

Eine fremde Tochter

Sie hat die Schule mit Bestnote abgeschlossen und wird deswegen als Aushängeschild der Integration in ihrer kleinen katalanischen Stadt präsentiert – doch möchten sie und ihre Mutter eine größere Wohnung mieten, bleibt ihnen das aufgrund ihres marokkanischen Namens verwehrt. Am liebsten beschäftigt sich die namenlose Ich-Erzählerin in Najat El Hachmis Roman mit sinnlichen Dingen, mit Literatur, Gerüchen und Geschmack oder Masturbation. Doch jetzt, fast 19, ist sie im Alter, um endlich zu heiraten, wie ihre Mutter findet. Die geplante Ehe mit ihrem Cousin ist weniger Zwang denn gesellschaftliche Konvention – einer Gesellschaft allerdings, in der die junge Frau und ihre Mutter seit vielen Jahren nicht mehr leben: Marokko, zumeist umschrieben mit „da unten“. Um ihre Mutter glücklich zu machen, willigt sie ein. Dabei träumt sie heimlich davon, nach Barcelona zu ziehen. El Hachmi, selbst in Marokko geboren, gehört heute zu den bekanntesten auf Katalanisch schreibenden Autor*innen. In „Eine fremde Tochter“ bleibt sie sehr nahe bei ihrer Erzählerin, die in innerem Monolog vom Leben zwischen der Kultur und Sprache ihrer Mutter (nie sagt sie „Muttersprache“) und der katalanischen Heimat berichtet. Frei von Klischees, Sentimentalitäten oder Anklage erzählt der Roman von ihren nicht ausgesprochenen Wünschen und Sehnsüchten, von der Bedeutung von Sprache, von ihrer Zerrissenheit und vom zaghaften Versuch der Emanzipation einer jungen Frau. Isabella Caldart

Najat El Hachmi „Eine fremde Tochter“Aus dem Katalanischen von Michael Ebmeyer. Orlanda, 232 S., 22 Euro

Grundlagenforschung

Die Erzählungen von Anke Stelling handeln von ganz alltäglichen Begebenheiten und Sorgen. Da ist eine, die hofft, dass ihr Freund anruft; die andere, die glaubt, bei ihr werde alles anders als bei der ätzenden Ex; sowie andere Frauen, die sich ihren Platz im Leben neu suchen müssen. Die Kurzgeschichten zeigen, wie viel Unangenehmes und auch Grenzüberschreitendes, das man niemals so nennen würde, es im Leben gibt. Wie bei der Protagonistin Carina, die ein Kind bekommt und dabei sowohl von Jens, der nicht Vater des Kindes und auch nicht Partner von Carina ist, als auch von ihrer Mutter unterstützt wird, wobei beide so aufdringlich sind, dass es beim Lesen nur schwer auszuhalten ist. Eine andere Geschichte berichtet von Franziska und ihrer Familie, in der sie immer weniger zu sagen hat. Besonders beeindruckend ist oftmals der Blickwinkel. Mal sind es Reaktionen von Freund*innen, mal Einblicke in Gedanken, die für ganz unterschiedliche Perspektiven innerhalb einer Erzählung sorgen. Anke Stelling trifft den berüchtigten Nagel auf den Kopf, wenn sie über zwischenmenschliche Beziehungen schreibt. Gemeinsam haben die Erzählungen, dass ihre Protagonist*innen mit den Themen Kindererziehung, Beziehung und dem Älterwerden konfrontiert sind. Ähnlich wie schon ihre bekannten Romane „Bodentiefe Fenster“ und „Schäfchen im Trockenen“ schaffen es Stellings Erzählungen, zum Reflektieren des eigenen akademisch geprägten alternativen Lebens anzuregen. Lisa-Marie Davies

Anke Stelling „Grundlagenforschung“ Verbrecher Verlag, 192 S., 20 Euro

 

Love Addict

Kein Sex, tödliche Langeweile im Job und die professionelle Tanzkarriere für immer vorbei: Die 26-jährige Londonerin Julia versinkt im Selbstmitleid. Nach einer weiteren unbefriedigenden Erfahrung mit einem cis Mann lernt sie auf einer Party Sam kennen. Nachdem sie einmal Sex mit der charismatischen Künstlerin hatte, verliebt sie sich unsterblich in sie. Julia lernt eine für sie völlig neue Welt kennen: lesbischen Sex, Sexpartys, Polyamorie. Von jetzt auf gleich wird sie von ihren Freund*innen und Kolleg*innen für ihren aufregenden Lebensstil beneidet. Doch Sam gibt nicht nur den Gentleman – für ihre Liebe verlangt sie Julia auch einiges ab und bringt sie immer wieder an ihre Grenzen. Langsam merkt Julia, wie sehr Sam sie mehr und mehr kontrolliert. Autorin Kate Davies schafft es, nicht nur sehr überzeugend zu beschreiben, wie diese Beziehung ins Toxische abdriftet. Als Leser*in ist man ganz nah dran an Julia, wie sie dem Ganzen nur langsam auf die Schliche kommt. So nah, dass man regelrecht mitfiebert, als Julia sich aus dieser Beziehung wieder lösen will. Und trotz der Ernsthaftigkeit des Themas gelingt es Davies auch immer wieder, Situationen herzustellen, die voll von Selbstironie sind und das Drama keineswegs verdrängen, sie koexistieren wunderbar. Tamara Marszalkowski

Kate Davies „Love Addict“
Aus dem Englischen von
Britt Somann-Jung. S. Fischer, 512 S., 23 Euro

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 06/20.