Missy Magazine 01/21, Lieteraturrezis

Mein Name ist Ausländer
„Mein Name ist Ausländer / Ich arbeite hier / Ich weiß, wie ich arbeite / Ob die Deutschen es auch wissen?“ Mit diesen Zeilen beginnt „Mein Name ist Ausländer“, das bekannteste Gedicht der Aktivistin, Arbeiterin und Poetin Semra Ertan. Im Mai 1982 kündigte sie, damals 25 Jahre alt, beim NDR ihren Suizid an – als Protest gegen Rassismus. Am 24. Mai verbrannte sie sich auf St. Pauli, wo seit 2018 zu ihrem Todestag eine Gedenkveranstaltung organisiert wird. 1971 migrierte Semra Ertan mit ihren Eltern nach Kiel, mit 15 begann sie zu schreiben. In ihren Gedichten zeigt sie sich als kluge Beobachterin, als melancholische Denkerin. Auf Deutsch und Türkisch erscheint ihr Werk erstmals in einem eigenständigen Band. Zwar veröffentlichte sie bereits zu ihren Lebzeiten Texte, doch ihr Traum vom eigenen Buch erfüllt sich erst jetzt. Die Gedichte sind mit Daten versehen, häufig mit Ortsangaben, manchmal Uhrzeiten. Die Herausgeberinnen – ihre Schwester, die Therapeutin Zühal Bilir-Meier, sowie ihre Nichte, die Künstlerin Cana Bilir-Meier – haben ihre hinterlassene Arbeit kuratiert und übersetzt. Sie zeigen, wie kraftvoll Erinnerung ist. Semra Ertan lebt leider nicht mehr, doch ihr kämpferischer Geist begleitet uns weiterhin. Hengameh Yaghoobifarah

Semra Ertan „Mein Name ist Ausländer. Gedichte“ Edition Assemblage, 240 S., 18 Euro

 

 

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Die einsame Bodybuilderin
Eine brave japanische Ehefrau fängt plötzlich mit Bodybuilding an. Eine sonderbare Anziehung zu diesem Sport ergreift sie. Sie wird immer muskulöser, der Hals ist auf einmal so breit wie ihr Gesicht. Sie gewinnt neues Selbstbewusstsein, ihr Leben macht wieder Sinn. Doch ihr Ehemann merkt nichts von den Veränderungen, nicht einmal, als sie ihn mit der Nase darauf stößt. Das ist einer dieser wunderbar surrealen Momente bei Yukiko Motoya. Wie eine unsichtbare Wand scheint da etwas zwischen dem Ehepaar zu stehen, das die Einsamkeit der Protagonistin nur noch deutlicher zeigt. Und so absurd diese äußeren Umstände sind, so gut lässt sich das nachempfinden. Auch die anderen Kurzgeschichten von Yukiko Motoya sind von ebensolchen surrealen Momenten geprägt. Da ist eine Kundin, die nicht aus der Umkleide rauskommt, oder ein Ehepaar, dessen Gesichter sich immer ähnlicher sehen. Das Absurde in den Situationen hat eine ganz fantastische Eigentümlichkeit. Das macht den Charme und den Zauber ihrer Geschichten aus. Und immer sind die Protagonistinnen japanische Frauen, klischiert höflich und brav, die aber irgendwo ausbrechen und sich ihres Schicksals selbst ermächtigen. Tamara Marszalkowski

Yukiko Motoya „Die einsame Bodybuilderin. Storys“ Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Blumenbar, 256 S., 22 Euro

 

 

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Ungezähmt
Glennon ist eine gezähmte Frau, die wie gelähmt in einem Käfig festsitzt. Sie ist verletzt, weil sie jahrelang versuchte, die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen: eine gute Mutter, Tochter, Schwester und Ehefrau zu sein. Druck und Unterdrückung haben sie krank gemacht. Sie kämpft gegen Bulimie, Angst und Alkoholsucht. Doch was bedeutet es, gut zu sein? Andere glücklich zu machen oder sich selbst treu zu bleiben? Glennon gewinnt, als sie sich für sich selbst entscheidet, und ihr Leben wird ihr eigenes. Sie verlässt den Käfig und entdeckt ihre Wildheit wieder, die sie als zehnjähriges Mädchen verloren hat. Sie verliebt sich in eine Frau, findet ihr Glück und fängt an, mutig zu leben. „Ungezähmt“ handelt von Menschlichkeit und der Dualität des Lebens: Du kannst nur stark sein, wenn du auch schwach sein kannst. Die US-amerikanische Bestsellerautorin, Aktivistin und Mutter Glennon Doyle erzählt aus ihrem Leben und schreibt über Gesellschaft, Politik und Selbstfindung. Mit Weisheit, Stärke, Sensibilität und Poesie zeigt sie, wie Frauen wachsen, die ihrem inneren Ruf folgen. Sie verurteilt nicht, sondern zeigt Lösungen auf. Sie predigt nicht, sondern erzählt. Alem-Adina Weisbecker

Glennon Doyle „Ungezähmt“ Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld. Rowohlt, 352 S., 16 Euro

 

 

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Schau mich an
Istanbul, 1999. Im Fokus steht ein ungleiches Paar: Die 132 Kilo wiegende Protagonistin, deren Name unbekannt bleibt, ist mit einem achtzig Zentimeter kleinen Mann namens BC zusammen. Sie stopft sich bis zum Erbrechen voll. Er ist besessen davon, ein Lexikon der Blicke zu schreiben. Während sie aus Angst vor despektierlichen Blicken am liebsten nie das Haus verlassen würde, überredet BC sie, gemeinsam mit ihm inkognito und in vertauschten Geschlechterrollen auszugehen. Die Erzählung springt auf der Zeitachse zurück ins Konstantinopel des Jahres 1885, nach Sibirien um 1648 und nach Frankreich um 1868. Leser*innen begegnen etwa einem Halbwesen aus Zobel und Mensch, einer atemberaubenden Schönheit und Keramet Mumi Keşke Memiş Efendi – einem Wachsmenschen, der das Zobelmädchen und La Belle Annabelle in einem Zelt zur Schau stellt. „Schau mich an“ ist eine Geschichte von Diskriminierung, Essstörung, sexualisierter Gewalt und Kindheitstraumata. Die Autorin Elif Shafak erzählt nicht, sie illustriert in Metaphern. Dabei nehmen die Handlungsstränge märchenhafte, ja fast surrealistische Auswüchse an. Das Buch ist weniger politisch als das vorherige „Unerhörte Stimmen“ und nicht immer frei von diskriminierender Sprache. Verschnörkelt, weitschweifend und gar abdriftend ist „Schau mich an“ keine leichte, aber eine vielsagende Lektüre. Katrin Börsch

Elif Shafak „Schau mich an“ Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Kein & Aber, 398 S., 24 Euro

 

 

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Der Tod in ihren Händen
Ottessa Moshfeghs letzter Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ wurde ein Bestseller und weltweiter Hit, der die Autorin zu Recht in den Mittelpunkt der literarischen Aufmerksamkeit katapultierte. Das Buch über eine Frau, die ein Jahr lang in ein selbst gewähltes, medikamentös induziertes Koma geht, war eine noch nie da gewesene Spielart des männlich dominierten Genres der transgressiven Literatur, die Konventionen gegen den Strich bürstete, sie sich zumal auch ironisch-subversiv aneignete. In „Der Tod in ihren Händen“ widmet sich Moshfegh nun wieder Motiven, die auch schon in ihrem viel beachteten Erstling „Eileen“ aufschienen. Kurz gesagt geht es um einzelgängerische, vielleicht etwas einsame Frauen, die einer vage kriminologischen Spur nachgehen. Doch dabei verstricken sich Moshfeghs Protagonist*innen nie in eine klassische Krimihandlung. Alles bleibt vage, mehrdeutig, widersprüchlich, brüchig, instabil, unzuverlässig. Was Moshfegh interessiert, ist das Wesen der Gewalt und des Unheimlichen selbst, ihre Wurzeln im Alltäglichen. Als „Stimme einer Generation“, als „neues feministisches Wunderkind“ gebrandmarkt, ist es schwierig nachzulegen. An „Mein Jahr …“ kommt „Der Tod in ihren Händen“ auch nicht heran. Dennoch: ein schaurig passendes Buch über die losen Enden der Einsamkeit – und das in einer für uns alle besonders einsamen Zeit. Olja Alvir

Ottessa Moshfegh „Der Tod in ihren Händen“ Aus dem Englischen von Anke Burger. Hanser, 256 S., 22 Euro

 

 

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Die Gesellschaft der Anderen
2019 veröffentlichte die Migrationsforscherin Naika Foroutan eine kontroverse Studie darüber, inwiefern sich Migrant*innen und Ostdeutsche bezüglich ihrer Diskriminierungserfahrungen in Deutschland ähneln. Das Resultat: sehr. Über diese Vergleichbarkeit, wenn auch nicht Gleichheit, tritt sie ein Jahr später in einen verschriftlichten Dialog mit der in Ostdeutschland geborenen Autorin und Journalistin Jana Hensel. Ausgangspunkt ihres Gesprächsbands über die Analogie zwischen Ostdeutschen und Migrant*innen ist die Frage, inwiefern diese von der Mehrheitsgesellschaft zu „den Anderen“ gemacht werden. Foroutan und Hensel sind sich tatsächlich größtenteils sehr einig, sie treten in ihrem Dialog in kein Streitgespräch miteinander. Dafür aber mit der adressierten Leser*innenschaft. Sie diskutieren, inwiefern die vermeintliche Mehrheitsgesellschaft eigentlich eine Dominanzkultur weißer Westdeutscher ist, die gesellschaftliche Spitzen- und Machtpositionen bestimmt. Der Gesprächsband ist das Resultat einer bemerkenswerten Gesellschaftsanalyse, in der die Autorinnen gängige Hegemonien und Othering-Prozesse aufdecken, ohne dabei außer Acht zu lassen, dass auch sie selbst westdeutsche Migrant*innentochter und weiße Ostdeutsche sind. Christine Siedler 

Naika Foroutan & Jana Hensel „Die Gesellschaft der Anderen“ Aufbau, 356 S., 22 Euro

 

 

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Jede*r kann was!
Ein Gendersternchen leuchtet auf einem Kinderbuchcover! Das ist ein absolut seltener Anblick und eine große Freude! „Jede*r kann was“ ist, wenig überraschend, in einem kleinen Slow-Publishing-Verlag, der sich auf Herzensprojekte spezialisiert hat, erschienen. Maggie von Wegen hat die Texte geschrieben, die zauberhaften Illustrationen stammen von Navina Wienkämper. Gemeinsam haben die beiden 14 unterschiedliche Menschen liebevoll porträtiert. Sie alle haben verschiedene Persönlichkeiten, Leidenschaften und Talente und könnten an Protagonist*innen aus der linken Szene jeder x-beliebigen Stadt erinnern. Nima vom Nähbüdchen hat schon in der Schule Sachen genäht, die es vorher so noch nicht gegeben hat, mittlerweile versorgt er sein Umfeld mit seinen originellen Kreationen. Für Fritzi vom Fiets-Labor gibt es nichts Schöneres auf der Welt, als an Fahrrädern zu frickeln. Zou von Ziep-Tattoo tätowiert am liebsten Wale, denn „Wale sind sehr sozial und leben ihr Leben lang in Gruppen“. Und Rali vom Rabatz-Verein liebt es, Dinge zu organisieren – egal, ob Leseclub, Lebensmittelrettung oder Kleidertauschparty, Hauptsache für einen guten Zweck. Gemeinsam haben die Vorgestellten eines: Sie haben sich der DIY-Philosophie verschrieben, helfen einander und unterstützen sich gegenseitig. Auf der Ausklappseite am Ende des Buchs gibt es alle Figuren noch einmal auf einem Haufen zu betrachten – da treffen sie sich nämlich bei einer Party. Ein absolut liebenswürdiges und charmantes Kinderbuch abseits des Mainstreams. Carla Heher

Maggie von Wegen „Jede*r kann was“ Illustriert von Navina Wienkämper. Verlag von Wegen, 42 S., 19 Euro, ab 4 Jahren

 

 

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Lebende Bilder
Wer „Hungerplan“ im Internet sucht, findet eine Kriegsstrategie. Deutschland belagerte 1941 die Oblast Leningrad (Sankt Petersburg) mit dem Ziel, die Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen. Die Leningrader Blockade dauerte 872 Tage. Zweieinhalb Millionen Menschen waren in der Stadt eingeschlossen. Mehr als eine Million von ihnen starb, bevor die Stadt 1944 befreit wurde. Siebzig Jahre später veröffentlicht Polina Barskova „Živye kartiny“, einen Prosaband rund um Sankt Petersburg als imaginären Ort. Barskova besticht durch sensible Wortfindungen und eine fragmentarische Lyrik, die Alltag und Ewigkeit beseelt. Dabei spricht sie direkt auf Kriegsverbrechen und Geschichtsvergessenheit an. In elf Kurzgeschichten betört Barskova mit verlorenen Existenzen, philosophischen Gedanken und poetischen Momentaufnahmen. Ihre Sprache entzieht sich traditionellen Erzählformen und verwebt private Erinnerung mit kulturellem Gedächtnis. Lesende werden zwischen Lebensrealitäten hin- und hergeworfen, um sich immer wieder von zarten Sprachbildern auffangen zu lassen. Eine feinfühlige Sammlung, die Zeug*innen verlangt. Sarah Kailuweit

Polina Barskova „Lebende Bilder“ Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp, 218 S., 22 Euro

 

 

Missy Magazine 01/21, Lieteraturrezis

Dicht
„Aufzeichnungen einer Tagediebin“ steht auf dem Buchcover, das ansonsten nicht viel mehr zeigt als ein krakeliges Herz und den Titel „Dicht“, aber allein damit alles klarmacht: Das hier ist kein herkömmlicher Roman, die Protagonistin zeichnet gerne und ist oft besoffen. Es sind ihre Jugenderinnerungen, die Stefanie Sargnagel in dem Buch literarisch verarbeitet – und die sind erfreulich erfrischend verglichen mit anderen Jugenderinnerungen junger Frauen. Sargnagel schreibt kaum über Gefühle, sie thematisiert Sex und erste Liebe eher so nebenbei und legt den Fokus vielmehr auf all die Verrückten, die sie in ihrer Jugend getroffen hat. „Seltsame, aber fürsorgliche Vögel“. Steffi und ihre Freundin Sarah begegnen ihnen ohne Angst, offen und interessiert, schon allein weil sie halt interessanter sind als die Schule, die Steffi dann auch kurz vor der Matura abbricht. „Dicht“ erzählt die Abenteuer einer Teenagerin in der Großstadt, die naiv und erlebnishungrig durch die Kaschemmen, Parks und Sozialwohnungen der Stadt wandelt. Mit präziser Beobachtungsgabe und viel Witz zeigt Sargnagel, wie schön eine Jugend sein kann, die andere verpfuscht nennen würden. Juliane Streich

Stefanie Sargnagel „Dicht“ Rowohlt, 247 S., 20 Euro

 

 

Missy Magazine 01/21, Lieteraturrezis

Das Privileg
Bei Mary Adkins gibt es drei Protagonistinnen: Annie und Bea studieren an der renommierten Carter University, während Stayja dort auf dem Campus im Café arbeitet und auf ihre Krankenschwesternausbildung spart. Sie alle haben mit Tyler Brand zu tun, einem Studenten mit wohlhabenden und einflussreichen Eltern. Verhängnisvoll wird diese Begegnung nicht nur für Annie. Sie wird eines Abends von Tyler vergewaltigt, ist sich jedoch aufgrund des vielen Alkohols unsicher und datet ihn weiter. Zwischen Stayja und Tyler entspinnt sich eine Freundschaft Plus, von der sie sich mehr erhofft. Natürlich imponiert ihr auch Tylers Background, da sie selbst immer in Armut leben musste. Als Tyler ein zweites Mal übergriffig wird, meldet Annie das und die Dekanin leitet ein Verfahren ein. Studentischer Beistand für Tyler ist die Jurastudentin Bea. Trotz ihres unguten Gefühls hilft sie Tyler, Annie und ihre Aussagen als unglaubwürdig darzustellen. Jede der Protagonistinnen hat mit ihren eigenen Konflikten zu tun, doch alles ist miteinanderverwoben. Ihre Wegekreuzen sich und die Handlung läuft immer dramatischer auf einen Höhepunkt zu. Was anfangs noch konstruiert wirkt – die Protagonistinnen selbst, vor allem wie jede auf ihre Weise benachteiligt ist –, wird im Laufe des Romans raffinierter. Wie man als Leser*in immer eindringlicher merkt, wie die Machtstrukturen unter der Oberfläche wirken, ist so fesselnd wie schockierend. Tamara Marszalkowski

Mary Adkins „Das Privileg“ Aus dem Englischen von Marie Rahn. Kindler Verlag, 432 S., 20 Euro

 

 

Missy Magazine 01/21, Zines, Text, Über Anti-Asiatischen Rassismus

tiger.riots
Spätestens seit dem Hashtag #IchBinKeinVirus, unter dem Menschen asiatischer Herkunft von Übergriffen auf sie seit Aufkommen des Coronavirus berichten, wird in deutschsprachigen Medien auch über anti-asiatischen Rassismus diskutiert. Neu sind die Feindbilder über Asiat*innen (oder die, die für solche gehalten werden) freilich nicht, reihen sie sich doch in eine längere Tradition kolonialrassistischer Stereotypisierungen ein. Man denke etwa an Begriffe wie „gelbe Gefahr“ („yellow peril“), mit dem die USA und Europa im 19. Jahrhundert Vorurteile gegen Asiat*innen schürten. Bis heute existiert eine tagtägliche „Realität von Andersmachung, Gewalt und Ausgrenzung, von Bagatellisierung und Belächelung, von Exotisierung und Fetischisierung“ asiatischer Menschen, wie das Kunstkollektiv tiger.riots festhält. Als erstes Projekt hat die Gruppe aus Hamburg ein Zine gleichen Titels veröffentlicht, das „von uns – für uns“ Geschichte, Formen und Orte von Rassismus gegen asiatische bzw. asiatisch gelesene Menschen in Deutschland erforscht. Mit der Kritik an den eigenen Auslassungen und -Ismen gehen tiger.riots sehr transparent um, wie man auf ihrem Instagram-Kanal verfolgen kann – auch das gehört zur teils schmerzhaften Arbeit, mit der Normalität namens Rassismus zu brechen und zu neuen Narrativen zu finden. Vina Yun

tiger.riots #01 – „Über anti-asiatischen Rassismus“ 20 S., Spende 3–5 Euro zzgl. Versand, Infos/Bestellung an tiger.riots2020@gmail.com oder Instagram: @tiger.riots

 

 

 

Missy Magazine 01/21, Zines, Text, Das Jungfernhäutchen gibt es nicht

Das Jungfernhäutchen gibt es nicht
Beim ersten heterosexuellen, penetrativen Sex dringt der Penis in die Vagina und durchstößt dabei das Jungfernhäutchen, das wie eine Frischhaltefolie ihren Eingang verschließt. So ein Durchstoßen muss natürlich wehtun und es kann auch mal bluten, die Frau muss sich auf Schmerzen vorbereiten und der Mann muss sich anstrengen, denn der Durchstoß muss gelingen. So oder so ähnlich hat man sich jahrhundertelang den Akt der sogenannten „Entjungferung“ vorgestellt. In Wirklichkeit gibt es das Jungfernhäutchen nicht. Das, was als solches bezeichnet wird, ist eine ringartige Membran, die in den allermeisten Fällen weder durchstoßen werden noch einen Aufschluss darüber geben kann, ob ein Mensch schon mal Sex hatte oder nicht. Trotzdem lassen sich überall auf der Welt Menschen ihre Jungfräulichkeit ärztlich attestieren, denn diese wird so behütet und fetischisiert wie kaum etwas anderes. Die Autorin Oliwia Hälterlein dekonstruiert in ihrem Zine den Mythos um das Jungfernhäutchen, das so eigentlich gar nicht heißen dürfte. Auf 52 Seiten, illustriert von Aisha Franz, deckt sie Fehlinformationen auf und sucht nach neuen Bezeichnungen für Körperteile, die vom Patriarchat getauft worden sind. Erzählt es euren Freund*innen, Schwestern, Brüdern und Eltern: Das Jungfernhäutchen gibt es nicht! Marie Minkov

MaroHeft #02 – „Das Jungfernhäutchen gibt es nicht. Ein breitbeiniges Heft“ 52 S., 18 Euro, Bestellung unter maroverlag.de

 

 

Missy Magazine 01/21, Comicrezis

Die Vunderwollen
Jo ist ein aufsässiges kleines Mädchen, das von seiner Patchworkfamilie genervt ist. Bei einem Campingausflug verschwindet sie im Wald und schließt sich kurzerhand einem Wichtelpärchen an. Die beiden sind darüber nicht gerade begeistert, denn zusammen mit den anderen Bewohner*innen ihrer Wichtelkommune – kleine Krokodile, Füchse und viele weitere tier- und menschenartige Figürchen – müssen sie eine schwierige Mission erfüllen: verschollene Genoss*innen aus dem Verlies des bösen Kaisers, einer fiesen Katze, retten. Da keiner der Wichtel Kampferfahrung hat, geht der Plan jämmerlich schief – nur Jo und der schüchterne Fuchs Maurice können flüchten und sind nun allein für die Rettung zuständig. Sie machen sich auf eine aufregende Reise und treffen dabei auf Gestalten wie bonbonversessene Regenbogenpferdchen, tiefgründige Zauberinnen oder blutrünstige Sumpfratten. Camille Jourdy, die Schöpferin der Graphic Novel „Rosalie Blum“, hat sich mit „Die Vunderwollen“ erneut selbst übertroffen. Ihre fantasievolle, aber nie kitschige Parallelwelt platzt nur so vor lebensbejahenden Farben, originellen Geschöpfen, witzigen Dialogen und einer so spannenden wie rührenden Storyline. Sonja Eismann

Camille Jourdy „Die Vunderwollen“ Aus dem Französischen von Annette von der Weppen. Reprodukt, 160 S., 24 Euro, ab 8 Jahren

 

 

Missy Magazine 01/21, Comicrezis

Wie Dinge sind
Doppelgänger*innen und Spiegelbilder sind Motive, die Fragen zu Differenz, den Grenzen von Autonomie und (heimlichem) Begehren aufwerfen. Vor allem in der postmigrantischen Erfahrung ist die Vorstellung eines „zweiten Ichs“ bekannt: Was wäre, hätte ich oder meine Familie das Herkunftsland nicht verlassen? Die Verdoppelung des eigenen Ichs ist auch Thema in „Wie Dinge sind“ der asiatisch-kanadischen Künstlerin gg alias G. Wong. Rastlos streift die namenlose Protagonistin ihrer Graphic Novel durch eine anonyme Vorstadt und versucht, mit dem Fotoapparat Dinge festzuhalten, „wie sie sind“. Bis sie auf eine Doppelgängerin trifft. Oder ist es doch nur der Traum einer anderen Realität – ohne Verpflichtungen gegenüber den alternden Eltern und ohne das Trauma der Migration?
Was Wirklichkeit oder Fantasie ist, bleibt unklar, vergeblich sucht man nach einer ordnenden Erzählstimme, Sprechblasen und Captions fehlen gänzlich. Vieles liegt in den Pausen und der Stille, den Übergängen und Leerseiten. Im Kontrast zur enigmatischen Erzählweise stehen die für gg typischen klaren Linien und das minimalistische Erscheinungsbild. Immer wieder taucht die Metapher des Heims auf, immer wieder wird klar: Zu Hause ist kein Ort, sondern ein Gefühl, das gesucht werden will. Vina Yun

gg „Wie Dinge sind“ Aus dem Englischen von Johann Ulrich. Avant Verlag, 104 S., 14 Euro

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/21.