„Wir sind nur 15 Minuten von Buchenwald entfernt. Wir sollten hinfahren.“ „Nein!“ „Du hat gesagt, du warst noch nie in einer KZ-Gedenkstätte. Wir sollten das wirklich machen.“ „Nein!“ „Du kannst nicht immer nur Nein sagen. Du kannst dich nicht einerseits als linke Aktivistin bezeichnen und dich dann weigern, dich mit KZ-Gedenkstätten auseinanderzusetzen.“ Ich starre aus dem Beifahrer*innenfenster und denke: „Dieses ganze Land ist für mich eine KZ-Gedenkstätte.“ Wir fahren nicht nach Buchenwald, aber für meine Begleitung habe ich gerade mindestens fünfzig Prozent meiner Aktivismus-Credits verloren. Dieser Dialog ist stellvertretend für etliche ähnliche Gespräche, die ich geführt habe.

„Jede*r sollte einmal ein KZ wie Auschwitz oder Buchenwald besucht haben.“ Du suchst ein Hobby? – „Geh was Gutes tun und Stolpersteine putzen.“ „NIEMAND darf DAS jemals vergessen.“ Bei fast jedem Satz, den ich zu Holocaust-Gedenkstätten, Mahnmälern oder Erinnerungskultur von Goyim* jemals gehört habe, wird deutlich, dass sie bei ihrer Performance keine Sekunde lang tatsächlich an Jüd*innen denken. Zumindest nicht an lebende. Diese allgemeinen Aufforderungen begleiten mich, wie die meisten Jüd*innen, die in Deutschland aufwachsen, das ganze Leben. Mit völliger Entrüstung wird mir Ignoranz oder Bequemlichkeit, linke Performanz statt linkes Commitment vorgeworfen, weil ich noch nie ein ehemaliges KZ besucht habe und es auch nicht vorhabe.

Willkürliche Aufforderungen des „niemals Vergessens“ und ganz besonders des „NIEMAND darf jemals Vergessens“ ignorieren komplett, wer überhaupt eine Möglichkeit hat, die Shoah zu vergessen und wer dagegen ein Recht hätte, dies zu tun. Diese ganzen Plattitüden, die besonders Deutsche gerne rund um die Shoah und KZs an die Allgemeinheit abgeben oder auch gerne wie Chipstüten im Freund:innenkreis teilen, sind deutsche Selbstdarstellung. Es ist kein – wie so gerne behauptet wird –  tiefgehendes Aus-der-Geschichte-gelernt-Haben, sonst würde man nicht glauben, wir – Jüd*innen – wären nicht mehr als ein paar graue Ascheberge und vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos. Nur den toten Juden im Kopf zu haben ist deutsche Tradition.

„Wc-Deutsche sollten KZ-Gedenkstätten besuchen“, „alle Nazi-Nachkommen sollten Stolpersteine putzen“, „Deutsche dürfen niemals vergessen“: Es wäre so einfach, jene zu adressieren, die gemeint sind, statt deutsche Verantwortung allen überzustülpen und so bspw. Jüd*innen mindestens kognitiv erneut auszuradieren.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Wc**-Deutsche sollten sich beim Besuch von Gedenkstätten vielleicht nicht nur ihrem heldenhaften Gefühl von Geschichtsbewältigung hingeben, sondern sich vorstellen, wie es für uns Jüd*innen ist, in einem Land zu leben, das für die Grausamkeit dieser Orte verantwortlich ist, statt sich immer nur um den eigenen Bauchnabel zu drehen. Und da sind wir bisher nur bei Auseinandersetzungen, die mehr oder weniger erwachsene Personen führen. Ich kenne kaum Jüd*innen, die während ihrer Schulzeit nicht von Lehrer*innen im Klassenverband in Gedenkstätten geschleppt wurden. Im besten Fall aus Ignoranz oder Unwissenheit, im schlimmsten Fall mit der Erwartung, dass Miriam dann als klasseneigenes Anschauungsmaterial vor Ort ja was von ihrer Familie erzählen kann.

Ich erinnere mich noch sehr plastisch an einen Wandertag zum Mahnmal Gleis 17 in der Oberstufe. Ich wollte mit einer anderen Klasse in der Schule bleiben und mein Lehrer wusste, dass ich Jüdin bin. Das hielt ihn aber nicht davon ab, mir mitzuteilen, dass ich teilnehmen muss. Und mir einen sehr wütenden Vortrag zu halten. Über den demokratischen Bildungsauftrag und DEMOKRATISCHE Verantwortung (das Wort sagte er besonders nah und laut).

Illustration: El Boum

Ich muss als deutsche Jüdin nicht an einem Gleis stehen, an dem 50.000 Jüd*innen deportiert wurden, um mir der Ausmaße und der Grausamkeit des Nationalsozialismus bewusst zu sein. Ich muss nicht mal mit meiner Großtante und meinem Großonkel sprechen, um mir dem gewahr zu werden. Es reicht der Umstand, dass von allen meinen jüdischen Familienmitgliedern nur noch diese beiden übrig sind, weil die Shoah-Toten in meiner Familie nach ’45 nicht aufhörten.

Es ist nicht so, dass Jüd*innen nicht regelmäßig von ihren schulisch orchestrierten Erfahrungen in KZ- und Deportationsgedenkstätten berichten würden. Und trotzdem: Erzählen sie von dieser missverstandenen politischen Bildung, die dazu führt, dass sie sich irgendwann verwirrt, erschüttert oder entblößt als Jüd*innen zum Anfassen für Fragen und Antworten in Szenarien verschiedener Katastrophengrade wiederfanden, reagieren wc-Deutsche erstaunt.

Sie alle waren auch an diesen Orten, kennen diese schulischen Bildungsausflüge und sind gleichzeitig überrascht über die Berichte. Sie kommen nicht mal auf die Idee, dass es sich um die gleichen Ausflüge handeln könnte. Aber mit irgendwem müssen diese Jüd:innen ja zur Schule gegangen sein. Und jenen, denen die Anwesenheit jüdischer Mitschüler:innen bewusst war: Dachten sie bis dahin wirklich, es wären für diese dieselben Erfahrungen gewesen wie für sie selbst?

Und dann gibt es die wc-Deutschen, die über diese Erfahrungen versuchen zu bonden. Sie seien ja nicht jüdisch, aber sie finden eben auch, dass man nicht jedem diese Belastung zumuten könnte. Sie seien auch noch nie in einer KZ-Gedenkstätte gewesen. Genau aus diesem Grund. Das lässt sich steigern bis zu der Idee, unsere Erzählungen würden legitimieren, dass wc-Deutsche sich überhaupt nicht mit der Shoah und dem Nationalsozialismus auseinandersetzen – einfach zu belastend. Und wieder verstehen wc-Deutsche nicht, dass wir hier nicht von der gleichen Ausgangssituation sprechen. Unsere Familien sind unsere NS-Mahnmäler. Denn auch die jüdischen Familien, die nicht unmittelbar von der Shoah betroffen waren, sind nicht unbehelligt von ihr geblieben. Die Shoah hat in unserer aller Familien, in unser aller Selbstwahrnehmung und unseren Selbstverständlichkeiten Spuren hinterlassen. Selbst für jene, die auf anderen Kontinenten saßen und erst nach dem Krieg verstanden haben, was hier vor sich ging, war die Shoah eine Erschütterung, die irreversible Risse, Furchen und Brüche zurückgelassen hat. Wc-Deutsche können sich aktiv dafür entscheiden, sich mit der Shoah zu beschäftigen, oder es einfach lassen. Sie können überhaupt „gegen das Vergessen“ sagen, weil es für sie eine Option ist. Jüd*innen können sich aktiv dafür entscheiden, zu versuchen sich nicht mit der Shoah auseinanderzusetzen und sich nicht damit zu beschäftigen. Wc-Deutsche glauben, das sei das Gleiche. Jüd*innen wissen, das ist es nicht. Wc-Deutsche glauben, das eine legitimiert das andere. Sie sollten lernen: Das tut es nicht.

Als Abschluss der Satz, der deutlich macht, wie unterschiedlich die Realitäten sind, in denen viele von uns leben. Ich habe in meinem Leben Dutzende Male den Satz gehört:

„Ich bin (damals) mit der/meiner Klasse im KZ gewesen.“

Ich glaube nicht.

* Goi, oder Goj, im Plural Gojim, ist eine jiddische Bezeichnung für nicht jüdische Menschen
** wc-deutsch = weiß und christlich (sozialisiert)