Text: Sibel Schick
Illustration: EL BOUM

Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rassist in Hanau Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu. Als der Täter nach seinem Terroranschlag zu Hause ankam, erschoss er seine Mutter und dann sich selber. Dass seine Mutter nicht im gleichen Atemzug mit jenen Ermordeten, die der Täter zur Zielscheibe des Rassismus machte, genannt wird, stört so manche – nicht nur Rechte, sondern teilweise auch selbsternannte Feministinnen.

Das Wort „Derailing“ wird im politischen Zusammenhang oft verwendet. Es bedeutet „entgleisen“ und soll beschreiben, dass das Gespräch bewusst in eine falsche Richtung gelenkt wird, um das Thema zu wechseln bzw. zu beenden. Dabei geht es allerdings nicht um Fragen wie „Was essen wir heute zu Mittag?“, sondern um Diskriminierungen, Machtungleichheiten, unangenehme gesellschaftspolitische Themen eben. Das Wort „Derailing“ weist also auch auf ungleich verteilte Machtverhältnisse in Gesprächen hin: Diskriminierende bestimmen das Thema, während Diskriminierte über ihre Probleme und mögliche Lösungen sprechen wollen.

Sibel Schick

ist 1985 in der Türkei geboren und wohnt seit 2009 in Deutschland. Seit 2016 arbeitet sie als freie Autorin, Journalistin und Social-Media-Redakteurin. In ihren Texten provoziert sie gern und bezeichnet sich als ein "offenes, peinliches Buch". Auf Twitter und Instagram ist sie als @sibelschick unterwegs.

Am 19. Februar 2021 jährte sich der rassistische Anschlag in Hanau zum ersten Mal. Viele deutschsprachige Medien berichteten darüber, in Reportagen, in Interviews mit Überlebenden und Angehörigen der Ermordeten oder mit rassismuskritischen Akteur*innen bzw. Aktivist*innen. Auch in den sozialen Netzwerken war der Hanau-Anschlag das wichtigste Thema, über das vor allem Menschen, die von Rassismus betroffen sind, sprechen wollten. Um den Tag herum fanden außerdem in vielen deutschen Städten Gedenkveranstaltungen und Demonstrationen statt. Dass am 19. Februar so viel über Hanau gesprochen werden konnte, ist allerdings der Verdienst der Angehörigen der Ermordeten und der Überlebenden des Anschlags. Sie leisten seit über einem Jahr tagtäglich unfassbar viel dafür, damit dieser Terroranschlag nicht unter den Teppich des rassistischen Mordens gekehrt wird. Anstatt in Ruhe zu trauern, stellen sie wichtige Fragen und fordern Konsequenzen.

Durch rechte Nutzer*innen wurde am 19. Februar in den sozialen Netzwerken eine skurrile Diskussion ausgelöst. Es wurde problematisiert, dass die Mutter des Täters nicht mit den neun wegen Rassismus Ermordeten zusammen erwähnt wird, manche posteten ihren Namen an Stellen, an denen ihnen der Name der Mutter fehlte. Auf einem Shareable mit Hashtag #saytheirnames nahm die CDU auch den Namen der Mutter auf, als gehöre sie dazu. Dass Rechte wahre Probleme wie misogyne Gewalt für ihre Zwecke missbrauchen, ist ja nichts Neues. An dem Tag blieb es allerdings nicht bei einer rechten Sprengaktion, es gab auch vermeintliche Feminist*innen, die dasselbe forderten: Sichtbarkeit für die Mutter des Täters. Aber warum ist das ein Problem? Schließlich wurde sie doch auch Opfer.

Dass der Täter auch seine Mutter tötete, liegt vermutlich an der niedrigen Hemmschwelle, Frauen zu töten. Das macht diesen Mord trotzdem nicht per se zu einem rassistischen oder rechtsextremen Mord. In Deutschland wird im Schnitt jeden Tag eine Frau getötet, die Öffentlichkeit redet dennoch davon, dass Femiziden nur an jedem dritten Tag vorkämen, weil in Deutschland nur die sogenannten „Partnerschaftstaten“ unter Femizid verstanden werden, obwohl diese darüber hinausgehen. Das ist natürlich ein Problem, ein sehr großes sogar. Das heißt aber auch gleichzeitig, dass weißen cis Feministinnen 364 Tage im Jahr zur Verfügung stehen, an denen sie Femizide sichtbar machen können. Warum wollen sie gerade an dem Tag, an dem sich der Hanau-Anschlag zum ersten Mal jährt, an dem der rassistische Terroranschlag und die politisch Verantwortlichen sichtbar gemacht werden sollen, lieber die Mutter des Hanau-Täters sichtbarer machen? Das zeugt davon, dass den wegen Rassismus Ermordeten keine Sichtbarkeit gegönnt wird. Es handelt sich dabei um Derailing: Indem die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gelenkt wird, soll das Gespräch über die rassistische Qualität dieses Anschlags geblockt werden.

Nun, so leisten diese selbsternannten Feminist*innen den Rassist*innen Beihilfe, ob es ihnen gefällt oder nicht. Sie machen deutlich, auf wessen Seite sie stehen.

Wenn Betroffene und andere rassismuskritische Menschen sagen, dass wir den Hanau-Anschlag nicht als punktuelles Ereignis betrachten dürfen, weil rassistische Strukturen diesen Anschlag begünstigten, dann meinen sie u. a. auch die Entgleisungsmanöver und die dadurch entstandene Unsichtbarmachung rechten Terrors und Mordens in Deutschland. Am 19. Februar über die Mutter des Täters zu sprechen ist Teil des Rassismusproblems in Deutschland. Ein Feminismus, der ein Problem mit Rassismuskritik hat, ist per Definition kein Feminismus. Feminismus setzt sich nämlich gegen Machtungleichheiten ein, daher ist Rassismuskritik dessen natürlicher und untrennbarer Bestandteil. Ein Feminismus, der rassistisch ist, ist kein Feminismus, weil Rassismus, genauso wie Sexismus, nur unter ungleichen Machtverhältnissen existieren kann. Ein Feminismus, der mit Rechtsextremen kooperiert und ihnen Beihilfe leistet, um die weiße Vorherrschaft aufrechtzuerhalten, ist kein Feminismus, sondern bloß eine Ausrede für Gewaltausübung und kann sich abschaffen.