PSYCHIATRIE
In einer Welt ohne Psychiatrie muss ich autoritäre Gewalt oder Isolierung nicht fürchten. Ich muss nicht fürchten, dass niemand meine Erlebensweisen versteht oder dass meine Kritiken abgewehrt und meine Wahrnehmungen grundsätzlich infrage gestellt werden. Ich werde nicht mehr mittels Pathologisierung retraumatisiert und verrückt gemacht. Die diskriminierende Wirklichkeit wird nicht länger als „normal“ bezeichnet. In dieser Welt sind hochkonzentrierte Machträume, in denen Grenzüberschreitungen sich entlang von hierarchischen Beziehungen institutionalisieren, abgeschafft. Gewalt wird nicht länger naturalisiert und legitimiert. BIPoC, Asylsuchende, Menschen mit geringen

Deutschkenntnissen, mit Migrationsgeschichte oder HIV-Erkrankung, LGBTIQ, dicke, arme, junge und alte Menschen sowie Menschen, die be_hindert werden, werden nicht schlechter behandelt. Rechte, weiße Täter*innen werden nicht mehr geschützt. Die Bedürfnisse der weißen Mittelschicht stehen nicht länger im Zentrum und alles, was von den Normen der Dominanzgesellschaft abweicht, wird nicht mehr mithilfe von Diagnosen problematisiert. Ursachen psychischen Leidens werden nicht mehr ausschließlich am Individuum verhandelt und Betroffene nicht entlang neoliberaler Maßstäbe beschämt. (Post-)koloniale und (post-)nationalsozialistische Verbrechen werden nicht länger verleugnet. Rassismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus und ihr intersektionales Zusammenwirken werden nicht nur als traumatische Stressfaktoren anerkannt, sondern auch als Ursachen für psychische Schwierigkeiten. In einer Welt ohne Psychiatrie ist der Umgang mit Eigensinn kein strafender mehr. Wir haben weniger Angst vor dem Unbekannten in uns. Wir nehmen unser Erleben…