Von Eddi Steinfeldt-Mehrtens

Der Gender-Doppelpunkt tauchte wohl zuerst 2015 auf dem Fusion Festival auf und ist spätestens seit 2020 vielerorts zu finden, sogar als eine mögliche Variante im Duden – wenn auch immer noch nicht als offizieller Teil der amtlichen Rechtschreibung. Der Doppelpunkt scheint aktuell andere geschlechtergerechte Formulierungen zu verdrängen, er hat sich auch deswegen so schnell verbreitet, weil ihm nachgesagt wird, barriereärmer als andere Schreibweisen zu sein. Die Schreibungen Leser_in, Leser*in und Leser:in haben gemeinsam, dass sie alle gleich ausgesprochen werden (sollen), nämlich mit einer kurzen Sprechpause dort, wo eines der Sonderzeichen ist. Screenreader, Vorleseprogramme für blinde Menschen, lesen die drei Varianten jedoch teilweise unterschiedlich vor. Einige Screenreader lesen den Doppelpunkt als kurze Pause vor, deswegen wird aktuell häufig behauptet, der Doppelpunkt sei barrierefreier. Allerdings lesen nicht alle Screenreader den Doppelpunkt als Pause vor, manche lesen eben auch einfach „LeserDoppelpunktin“ vor. Momentan wird die Debatte um Web-Barrierefreiheit leider oft auf „Doppelpunkt: Ja oder Nein“ reduziert. Zur Barrierefreiheit gehört aber mehr als die Frage, ob der Doppelpunkt verwendet wird oder nicht. Wichtiger ist häufig, ob die Webseite oder das PDF überhaupt vorher für Screenreader aufgearbeitet wurden und ob es z. B. bei Bildern eine Unterschrift oder einen Alternativtext gibt.
Obwohl das Plus an Barrierefreiheit gegenüber anderen Varianten also fraglich ist, hält sich die Annahme, dass der Doppelpunkt besser – weil barriereärmer – sei. Dieses Narrativ bleibt auch deswegen bestehen, weil weite Teile der queeren Community und deren Allies sich bisher wenig mit Inklusion und Barrierefreiheit befasst haben. Die Verknüpfung von Doppelpunkt mit Barrierefreiheit führt in manchen Kreisen sogar dazu, dass Nutzer*innen des Unterstrichs oder Sternchens als Ewiggestrige abgestempelt werden, die die Relevanz von Inklusion noch nicht kapiert hätten.

So werden die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Be_hindertengerechtigkeit gegeneinander ausgespielt. Davon profitieren vor allem able-bodied cis Menschen, allen voran sehende cis Menschen. Vielleicht ist der Doppelpunkt für sehende cis Menschen auch deswegen so unkompliziert und cozy, weil damit scheinbar beide Themen abgehakt werden: zwei „lästige“ Dinge mit einem Doppelpunkt erledigt! Eine echte Auseinandersetzung und Solidarisierung mit den Anliegen be_hinderter und trans, inter und nicht-binärer Menschen nach dem altbekannten Motto „Nicht ohne uns über uns!“ sähe jedoch anders aus. Das zeigt sich auch daran, dass es in der trans/inter/ nicht-binären Community (TIN) nie eine Agenda gab, Doppelpunkt statt Sternchen oder Unterstrich zu fordern. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband lehnt bisher alle Formen der geschlechtergerechten Schreibung mit Sonderzeichen ab, zeigt sich aber ebenso verwundert über den Mythos des barrierefreien Doppelpunkts.

Der Doppelpunkt geht also an Forderungen beider Communitys vorbei. Und noch ein weiterer Punkt spricht eher gegen den Doppelpunkt: Sternchen und Unterstrich sind konzipiert worden, um zu einem Nachdenken über die binäre Vergeschlechtlichung der deutschen Sprache anzuregen. Bei Sternchen und Unterstrich geht es nicht um bloße Repräsentation, sondern um eine aktive Störung der Sprech-, Schreib- und Sehgewohnheiten. Der Doppelpunkt sieht für Sehende aus wie ein kleines i, sticht weniger hervor, kommt somit weniger radikal daher und stört sehende cis Menschen vermutlich viel weniger als Sternchen oder Unterstrich.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/21.