Nicht aufzuhalten
Von Naira Estevez
Illustration: Daiana Ruiz
Ein Menschenmeer, das morgens um 04.12 Uhr auf der Plaza del Congreso in Buenos Aires auf und ab springt, inbrünstig vom Sturz des Patriarchats und ein Hoch auf den Feminismus singt – diese in den Sozialen Medien verbreiteten Bilder zeigen den Freudentaumel über einen historischen Moment. Der argentinische Senat hat am 30. Dezember 2020 das Gesetz 27.610 verabschiedet. Diese „Ley de Interrupción Voluntaria del Embarazo“, also das Gesetz des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs, hebt ein bis dahin geltendes Verbot auf und legalisiert Abtreibungen innerhalb der ersten 14 Schwangerschaftswochen.
Etwa 15 Jahre ist es her, seit Aktivist*innen in Argentinien die nationale Kampagne für das Recht auf eine legale, sichere und kostenfreie Abtreibung gestartet haben, die mit der Zeit zur „grünen Flut“ (marea verde) wurde. Grün, weil die Abtreibungsbefürworter*innen grüne Stofftücher zu ihrem Symbol gemacht haben. Flut, weil diese Bewegung immer stärker wurde und letztlich so viel Druck erzeugen konnte, dass 2018 ein entsprechender Gesetzesentwurf im Parlament diskutiert und in erster Instanz angenommen wurde. In letzter Instanz lehnte der damalige Senat diesen jedoch ab. Dass das Gesetz 2020 wieder verhandelt und dann auch beschlossen wurde, liegt mitunter daran, dass mit Alberto Ángel Fernández diesmal ein Präsident im Amt ist, der die Legalisierung von Abtreibungen zu einem seiner Wahlversprechen gemacht hatte.
Aktuelle Diskurse und parlamentarische Entscheidungen zum Thema in Deutschland wirken dagegen beinah mittelalterlich. Schwangerschaftsabbrüche im Wahlkampf befürworten und damit gewinnen? Undenkbar. Noch beeindruckender ist allerdings Argentiniens gesetzlicher Quantensprung, von einer Kriminalisierung vor dem Senatsbeschluss hin zu einer ganzheitlichen und verhältnismäßig inklusiven Regelung freiwilliger Abtreibungen. So verpflichtet der Staat sich bspw. dazu, proaktiv den Zugang zu Informationen über Abtreibungen zu ermöglichen, während in Deutschland der kürzlich reformierte § 219a die Informationsfreiheit zum Thema stark einschränkt und Ärzt*innen kriminalisiert, die trotzdem aufklären. In Argentinien wurden zudem der Anspruch auf eine umfassende Beratung vor einem Eingriff, aber auch eine vorurteilsfreie Nachsorge juristisch verankert. Und vor allem kann dort eine schwangere Person eine Abtreibung selbstbestimmt verlangen. Ohne eine vorgeschriebene „Schwangerschaftskonfliktberatung“, wie es in Deutschland der Fall ist.
Hierzulande haben Personen, die abtreiben möchten, nicht die Möglichkeit, sondern die Pflicht, sich beraten und dann eine dreitägige „Bedenkzeit“ verstreichen zu lassen. Ganz gleich, wie sicher sie sich ihrer Entscheidung sind. Diese Form der Bevormundung spricht Schwangeren ihre Entscheidungsfähigkeit ab und schränkt sie in ihrer körperlichen Selbstbestimmung ein. Diese Pflicht ist das Ergebnis einer Politik, die sich im Kern nicht von einer missbilligenden Haltung gegenüber Abtreibungen lösen möchte. Eine Art juristischer Kompromiss, der das Spektrum „straffreier Ausnahmen“ für eine Abtreibung lediglich erweitert, statt zu entkriminalisieren. Denn Schwangerschaftsabbrüche werden im § 218 des deutschen Strafgesetzbuchs geregelt und sind als sogenannte Straftaten gegen das Leben eigentlich rechtswidrig. Argentiniens Abtreibungsbewegung hat ihre Regierung dazu gebracht, den direkteren Weg zu gehen.
Die progressive politische Herangehensweise an Themen körperlicher und sexueller Autonomie habe die marea verde nicht zuletzt einer „trans Welle“ zu verdanken, wie es Francisco Fernández ausdrückt: „Sowohl transmaskuline als auch transfeminine Aktivist*innen haben aufgezeigt, dass körperliche Selbstbestimmung ein gemeinsames Anliegen zwischen trans Bewegung und Abtreibungsbewegung ist.“ Fernández selbst ist trans- maskuliner Aktivist und setzt sich wissenschaftlich u. a. mit dem Beitrag queerer Gruppierungen im Kampf um das Abtreibungsrecht auseinander. Er versteht dieses als Teil einer größeren Agenda: Körperliche Selbstbestimmung und reproduktive Gerechtigkeit seien der gemeinsame politische Horizont transaktivistischer und feministischer Bestrebungen und eröffneten die Möglichkeit, Allianzen zu bilden.
Die transaktivistische Bewegung hatte es bereits im Jahr 2012 geschafft, ein Gesetz für Geschlechtsidentität zu erwirken: Es ermöglicht die freie Entscheidung über den eigenen Geschlechtseintrag. Wenn der gewünschte Eintrag von dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht abweicht, kann dieser ohne medizinische, psychologische und psychiatrische Prüfung und ohne ein gerichtliches Verfahren entsprechend angepasst werden. Eine solche Entscheidung geht nun auch nicht mehr mit einer Zwangssterilisation einher, wie es zuvor der Fall war. Außerdem wurde eine Pflicht zur gerichtlichen Autorisierung von geschlechtsangleichenden Hormonbehandlungen und operativen Eingriffen abgeschafft. Stattdessen ist nun ein Anspruch auf kostenlosen Zugang zu dieser Form medizinischer Versorgung rechtlich gesichert.
Aktivistische Gruppen wie die Frente de Trans Maculinidades, also die Front der trans Maskulinitäten, hatten im Kampf um die Abtreibungslegalisierung dargelegt, dass das neue Gesetz für Geschlechtsidentität ein Beispiel sei, dem die Abtreibungsbewegung folgen sollte. „Sie haben gezeigt, dass die argentinische trans Bewegung ein Gesetz erwirkt hat, das nicht pathologisiert und Menschen die Möglichkeit gibt, über den eigenen Körper zu entscheiden. Wir sollten nicht weniger von einem Abtreibungsgesetz verlangen“, sagt Fernández. Einige transfeminine Aktivistinnen hätten eine weitere Analogie hervorgehoben: „Bevor das Neue Gesetz für Geschlechtsidentität in Kraft getreten war, starben viele mittellose trans Personen und Transvestiten, weil sie sich auf illegalem Weg Silikon spritzen lassen mussten, wenn sie ihren Körper verändern wollten. Das passiert heute deutlich weniger. Transfeminine Aktivistinnen glauben, dass eine Abtreibungslegalisierung ähnlich positive Auswirkungen auf die Sterberate bei Schwangerschaftsabbrüchen haben könnte.“
Seit 2018 hatten stetig wachsende Teile nicht-binärer und transaktivistischer Communitys innerhalb der Abtreibungsbewegung herausgestellt, dass das Thema Schwangerschaft auch Personen betrifft, die keine cis Frauen sind. Diese Stimmen waren zwar in Massendemonstrationen und Medien vertreten, in den offiziellen Verhandlungen um das Gesetz jedoch unterrepräsentiert. Letztlich wurden zu den öffentlichen Anhörungen der Abgeordnetenkammer insgesamt 738 Personen eingeladen, darunter Blas Radi und Diego Watkins als Vertreter transmännlicher sowie Claudia Vázquez Haro und Florencia Trinidad als Vertreterinnen transweiblicher Perspektiven. Blas Radi wies in seiner Rede auf die durch das Gesetz für Geschlechtsidentität entstandene Existenz von juristisch als Männer anerkannten Personen hin, die gebären bzw. abtreiben können. Deshalb forderte er von den für die Gesetzgebung Verantwortlichen ein, die Teilhabe von Vertreter*innen aller Personengruppen zu gewährleisten, die von dem Gesetz betroffen sein werden, und sie im Gesetzestext sichtbar zu machen.
In den letzten Entwürfen und schließlich auch in der verabschiedeten Fassung des Gesetzes werden „Frauen und andere Identitäten mit der Fähigkeit zu gebären“ adressiert. Diese Formulierung ist ein erster und wichtiger Schritt in die richtige Richtung, inhaltlich aber weder ganz richtig (weil Frausein nicht gleichbedeutend damit ist, gebären zu können) noch wirklich inklusiv (weil eine Identitätskategorie expliziert wird, während alle anderen Identitäten als undifferenzierte Gruppe gebärfähiger Körper zusammengefasst werden). Der politische Prozess, Gesetze an die reale gesellschaftliche Diversität anzupassen, sollte deshalb nicht dort aufhören, darin sind sich Radi und Fernández einig. „Aber Gesetze allein reichen niemals aus“, sagt Fernández. Das Gesetz für Geschlechtsidentität ist z. B. so formuliert, dass keine bestimmten Geschlechter genannt werden, damit theoretisch alle Optionen angegeben werden können. Real wird dieser absichtliche Freiraum jedoch unterschiedlich ausgelegt. In manchen Provinzen sind Einträge wie „Transvestit“ oder „nicht-binär“ in der Geburtsurkunde zulässig, im Personalausweis aber nur die Optionen „weiblich“ und „männlich“. Der Kampf um mehr reproduktive Gerechtigkeit und körperliche Selbstbestimmung muss also weitergehen – auch beim Abtreibungsgesetz. Neben der problematischen Adressierung stößt ein weiterer Aspekt auf: Ähnlich wie in Deutschland steht es medizinischem Personal zu, grundsätzlich keine Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, wenn es das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Sollten viele Mediziner*innen von diesem Recht Gebrauch machen, kann das negative Folgen für Betroffene haben.
Was können wir also aus den Entwicklungen des letzten Jahrzehnts in Argentinien für den Kampf um körperliche Selbstbestimmung in Deutschland mitnehmen? Erstens: Wir müssen solidarisch sein und uns verbünden. Jede*r wird stärker, wenn wir die Gemeinsamkeiten mitdenken, die unseren diversen Kämpfen zugrunde liegen. Und zweitens: Es ist möglich, gerechtere Gesetze zu machen. Keine Reformen und Kompromisse, sondern: §§ 218 ff. und § 219a abschaffen; ein Gesetz für das Recht auf legale, sichere und kostenfreie Abtreibung für alle; eine antragsfreie, bedingungslose und offene dritte Option im Personenstandsregister und eine kostenfreie Übernahme geschlechtsangleichender Maßnahmen.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/21.