Von Fränzi Spengler und Joanna Bedersdorfer
Fotos: Sitara Thalia Ambrosio

Es ist ruhig, wenn mensch morgens Wasserkanister zur Küche schleppt. Noch ist es dunkel draußen – wären da nicht die Flutlichter der Baustelle. Abgesichert mit Bauzäunen und Stacheldraht hält sie in ihrem Inneren die gerodete Trasse. Wo zuvor Baumhausdörfer waren, hat sich „Isengard“ ausgebreitet – so wird die Containerburg der Polizei im Camp genannt. Die Generatoren haben die ganze Nacht gebrummt. Die Präsenz der Polizei ist durchgängig zu spüren. Ein Grund, warum einige Aktivisti* sich nach der Räumung entschieden haben, das Camp zu verlassen. Anfang Dezember 2020 wurde der letzte Baum im Baumhausdorf „Oben“ gefällt. Die Menschenmengen, die den Protest gegen die A49 in den vergangenen Monaten unterstützt haben, sind abgereist. Am Jungle Camp, dem gemeinschaftlichen Zeltplatz, bleiben dennoch einige Solizelte stehen: für diejenigen, die es weiterhin in den Danni zieht.

Die Straße, die vom Jungle Camp zum Infopoint führt, ist menschenleer. Die Luft ist feucht und kalt, kleine Atemnebel steigen auf. Das Protestcamp befindet sich am Rand von Dannenrod, einem Stadtteil von Homberg im mittelhessischen Vogelsbergkreis. Anfangs stand hier nur ein kleiner Bauwagen, die Mahnwache unter den großen Pappeln. Heute haben sich mehrere Zelte auf dem Sportplatz und den umliegenden Feldern angesiedelt. Der Infopoint ist Tag und Nacht besetzt und erreichbar. Gerade wird die Nachtschicht abgelöst. In der KüFa, der Küche für alle, wird ein riesiger Topf Porridge zubereitet. Einige hier protestieren schon seit September 2019 für den Erhalt des Dannenröder Forsts, von dem ein Teil für den Bau eines Abschnitts der Autobahn A49 zwischen Kassel und Gießen gerodet wurde. Die ersten Baumhausdörfer, auch Barrios genannt, wurden entlang der geplanten Autobahntrasse gebaut. Das Camp am Rande des Walds folgte ein Jahr später. Menschen aus anderen Bewegungen oder Bündnissen wie Ende Gelände oder Aktion Schlagloch unterstützten die Aktivisti in den Baumhäusern durch ihre Großaktionen am Boden. Die Swing Force hielt zu Hochzeiten der Räumung täglich Workshops über Knoten und freies Klettern ab. Mit den Schaukeln unterm Arm ging es mitten in der Nacht in den Wald, um bei Tagesanbruch rechtzeitig im Baum zu hängen.

Missy Magazine 02/21; Reportage Dannröder Forst, Text
© Sitara Thalia Ambrosio

Der Protest dreht sich aber nicht nur um den Schutz des Walds oder den Kampf für eine Verkehrswende. Der Danni ist auch ein Raum für alternative Lebenskonzepte geworden. „Dabei gab es mindestens so viele verschiedene Ideen für Lebenskonzepte wie Menschen an diesem Ort“, meint Chirimía nach 15 Monaten im Danni. Die Gemeinschaft ist autonom organisiert und es wird ein solidarisches und hierarchiefreies Miteinander angestrebt. Alle haben Zugang zu den Ressourcen im Camp und Aktivitäten basieren auf Freiwilligkeit, es entsteht sofort ein neues Lebensgefühl: „Ich komme an den Ort und der Ort lebt vom Zusammenleben und deshalb bin ich direkt Teil davon, ohne Gaststatus“, sagt Lilo, der*die aus einer Projektreise vom Hambacher Forst aus in den Danni gefunden hat. Abgesehen vom respektvollen Umgang miteinander gibt es keine festgelegten Regeln oder Verbote. „Das Leben in der Besetzung ermöglicht uns, eine Art des freieren Zusammenlebens zu erproben, welches wir selbst organisieren, und dabei zu versuchen, auf unsere Bedürfnisse zu achten und aufeinander Rücksicht zu nehmen, jenseits von Sachzwängen und vermeintlichen Zwängen, die die kapitalistische Verwertungsgesellschaft uns auferlegt“, sagt Fiete, die seit dem Ende der Räumung nicht mehr im Danni lebt. Trotz unterschiedlicher Vorstellungen bleibt der leitende Gedanke, dass aus der Bewegung ein Wandel entstehen kann, im Sinne von: „System change, not climate change!“

Systemwandel bedeutet für viele eine wachstumskritische Alternative zu gegenwärtigen patriarchalen Macht-, Natur- und Geschlechterverhältnissen zu schaffen. Konkret bedeutet das, dass Fähigkeiten untereinander weitergegeben und Wissen geteilt wird. Hierarchien, die z.B. durch Fachwissen, technische und soziale Fähigkeiten oder sozialisierte Verhaltensweisen entstehen, sollen reflektiert werden. „Wir versuchen, gemeinsam eine Utopie aufzubauen und gleichzeitig gegen die bestehenden Verhältnisse anzukämpfen, das ist nicht immer einfach und bringt auch Widersprüche mit sich“, gibt Fiete zu. Ist es in einer solchen Gemeinschaft möglich, eine Utopie des herrschaftsfreien Zusammenseins zu leben? Viele Ansätze dafür sind da. Um 10.30 Uhr ist Camp-Plenum auf dem Sportplatz: Was gibt es heute im Camp zu erledigen? Die KüFa braucht einen Shuttle für fünfzig Kilogramm Gemüse ab Gießen. Könnte jemensch einen Unterstand für Feuerholz bauen? Nachtschicht am Infopoint, wer will? Es gibt noch viel dreckige Wäsche. Wo können wir eine große Menge davon waschen, bevor die Menschen von der Seebrücke die Klamottenspenden abholen? Eine Person beschriftet mit Kreide die große schwarze Tafel am Infopoint: Das Programm für den heutigen Tag steht.

Missy Magazine 02/21; Reportage Dannröder Forst, Text und Vorschau
© Sitara Thalia Ambrosio

Das Camp-Plenum ist nur eine von vielen Zusammenkünften im Protestcamp. Es gibt zahlreiche Arbeitsgruppen und Workshops, die das gemeinsame Zusammenleben im Camp organisieren. Im Awarenesszelt können Probleme und traumatische Erfahrungen besprochen werden. Verschiedenste Arbeitsgruppen und Workshops werden ins Leben gerufen, die sich z. B. für Belange von trans Personen oder gegen Dominanz- und Patriarchatsstrukturen einsetzen. Alle, die den politischen Protest mitgestalten wollen, können sich in den Strukturen einbringen oder neue aufbauen. Jede*r soll sich eingeladen fühlen, mitzumachen. Auf der Internetstartseite des Camps gibt es ein Willkommensvideo, das Menschen dazu aufruft, in den Danni zu kommen.

In ihrer Kommunikationskultur legen die Aktivisti Wert auf eine genderneutrale Sprache. Viele Aktivisti verwenden statt „man“ „mensch“, einige sprechen von „männlich und weiblich gelesenen Personen“. Das Pronomen mensch sei allerdings nicht universell und auch der Ausdruck „männlich oder weiblich gelesen“ reproduziere schlussendlich wieder binäre Geschlechterkategorien, räumen einige der Befragten ein. Für Chirimía beeinflussen diese bewussten Umgangsformen das eigene Denken und Handeln: „Die Verwendung einer gender- neutralen Sprache unternimmt den Versuch, alle Personen gleichermaßen anzusprechen – auch ohne deren Geschlechtsidentität zu kennen oder gar darüber zu urteilen.“ Schäfchen lebt schon seit letztem Herbst im Camp, der Danni ist mittlerweile ihr Zuhause geworden. „Es ist eine große Gemeinschaft, mensch lernt ganz viel hier, es gibt ständig neue Einblicke ins Miteinander. Es ist schön, akzeptiert, gemocht und wertgeschätzt zu werden, wie mensch ist“, sagt Schäfchen. Wie Schäfchen lebt auch Tatjana Tanne seit einigen Monaten im Camp. „Die Idee, dass alle gleich behandelt werden, ist ja erst mal eine Utopie. Wir arbeiten daran, eine Utopie zu erschaffen, aber es war in der Vergangenheit etwas gefährlich, weil gesagt wurde, wir leben das schon, aber es ist leider nicht die Realität“, meint Tatjana trotz großer Begeisterung für das Zusammenleben vor Ort.

Besonders, was den Sexismus angeht, sehen alle Aktivisti, mit denen wir gesprochen haben, Handlungsbedarf. Sie berichten von Sitzungsrunden, in denen cis Männer große Redeanteile einnähmen, nicht zuhörten und die anderen Teilnehmenden häufig unterbrechen würden, während FLINT-Personen die Vermittlungsrollen einnehmen müssten. Auch Klettern und Baumhäuserbauen seien oft mit einem gewissen „Mackertum“ verbunden, während männlich gelesene Personen außerdem viel öfter nach ihrer Meinung gefragt würden. Chirimía berichtet von einer Situation, in der Chirimía sich reflexhaft bei einer männlich statt weiblich gelesenen Person einen Rat zu Holzarbeiten holte, dabei stellte sich später heraus, dass die andere Person deutlich mehr Ahnung vom Thema hatte.

Missy Magazine 02/21; Reportage Dannröder Forst, Text
© Sitara Thalia Ambrosio

Vor allem in stressigen Phasen während der Räumung seien durch unterschiedliches Wissen und Können, aber auch durch sozialisierte Verhaltensweisen Hierarchien entstanden, die nur von denen problematisiert worden seien, die betroffen waren. So würden Awarenessstrukturen überwiegend von Menschen initiiert, die selbst Opfer von Diskriminierung seien. Viele Strukturen verliefen sich wieder, weil sie nicht von anderen, nicht betroffenen, Personen weitergeführt würden. Deswegen müsse systematische Unterdrückung auch von Menschen thematisiert werden, die nicht selbst diskriminiert würden, meint Chirimía. „Ansonsten findet eine doppelte Belastung derer statt, die betroffen sind.“ Bisher sei diese Form der Care-Arbeit vor allem von Menschen übernommen worden, die nicht cismännlich seien. Auch Lilo berichtet, dass es nur wenig Raum für Care-Arbeit gab und diese nicht als sinnvolle Tätigkeit, wenn überhaupt als Tätigkeit, angesehen wurde: „Ich kann mich an eine Situation erinnern, in der es mir superschlecht ging und eine andere Person bei mir war und mit mir geredet hat. Daraufhin kamen fluchende Menschen an uns vorbei, die sich darüber aufgeregt haben, dass hier niemand außer ihnen etwas tue.“ Eine solche Szene erinnert daran, dass Care Work eben auch gesamtgesellschaftlich meist unter- oder unbezahlt bleibt oder eben erst gar nicht als „richtige“ Arbeit wahrgenommen wird.

Eine Utopie ist wörtlich ein „Nicht-Ort“, ein Gegenentwurf zum real Existierenden. Die Protestbewegung am Dannenröder Forst ist aber kein von der restlichen Gesellschaft und historisch-kulturellen Bedingungen unabhängiger Ort, sondern ein Ort inmitten ebenjener Gesellschaft, vor der manch ein*e Aktivisti gerne mal entfliehen würde. Diskriminierende Denkmuster und Verhaltensweisen gibt es also auch im Danni. Diese Muster aufzubrechen, gehört zu den größten Herausforderungen, dessen sind sich auch die Aktivisti bewusst. Sie zu erkennen, ist der erste Schritt. „Unsere Sozialisation im Patriarchat, die lassen wir ja nicht zu Hause, die nehmen wir mit in die Gemeinschaft. Selbst wenn Menschen reflektiert darüber sind, heißt das ja nicht, dass es im Alltag funktioniert“, sagt Schäfchen. Das führt dazu, dass neben Sexismus auch Klassismus eine Rolle im Camp spielt. Lilo vermutet, dass fast alle Personen aus einem akademischen Elternhaus kommen oder zumindest selbst studieren. Zeit und die nötigen finanziellen Rücklagen zu haben, um sich langfristig in dem Protest zu engagieren, sei ein Privileg, welches große Teile der Gesellschaft nicht besäßen. Das gilt besonders auch für nicht weiße Personen. „Was BIPoC betrifft, finde ich, ist es nicht möglich, davon zu sprechen, wie divers die Szene ist, weil sie nicht divers ist“, kritisiert Lilo. Dass Klima- und Umweltschutzbewegungen oft eher weiß und bürgerlich sind, liegt dabei nicht nur daran, dass es sich nicht alle leisten können, an Protesten teilzunehmen. Kritiker*innen beklagen, dass weiße bürgerliche Umweltschützer*innen vor allem bezüglich des Konsumverhaltens bestimmte Verhaltensweisen einforderten und arme Menschen und BIPoC ausschließen würden, wenn sie davon abweichten. Und auch in der Umweltschutz- und Klimabewegung gibt es Rassismus, der teils durch die mangelnde Reflexion über weiße Privilegien begünstigt wird. Das kritisiert z. B. die Ökonomin und Aktivistin Tonny Nowshin in der „taz“, die selbst als PoC in der Klimabewegung Diskriminierung erfahren musste. Natur- und Klimaschutz sind weder von Queerfeminismus noch von Antirassismus, Antiklassismus und Dekolonialismus zu trennen. Vandana Shiva, eine indische Wissenschaftlerin, Aktivistin und Ökofeministin, beschrieb das Mensch-Natur-Verhältnis in einem TED-Talk ganz simpel: „Nature is not out there, we’re part of it.“

Anstatt dieser holistischen Sicht werden uns in einer kapitalistischen patriarchalen Gesellschaft aber Dualismen aufgedrängt: So wie Mann und Frau als Gegensätze postuliert werden, wird auch der Mensch der Natur gegenübergestellt. Doch wir sind Teil der Natur und so auch abhängig von der natürlichen Welt, die uns umgibt. Dessen ist sich Aktivisti Tatjana Tanne bewusst: „Ich persönlich verstehe alles, was ich mache, als eine Frage der Klimagerechtigkeit, weil es einfach nicht möglich ist, soziale Fragen von Klimawandelfragen zu trennen.“ Während sich jedoch reiche weiße Menschen aus dem sogenannten Globalen Norden Sicherungssysteme aufgebaut haben, um sich von den Auswirkungen von Umweltzerstörung und Klimawandel möglichst frei zu machen, spüren BIPoC und arme Menschen hier, aber besonders auch in Ländern des Globalen Südens, genau diese Auswirkungen besonders hart. Doch Umweltschutz war noch nie nur ein Anliegen weißer bürgerlicher Schichten, die es sich leisten konnten. Vandana Shiva selbst war z. B. in den 1970er-Jahren in der indischen Chipko-Bewegung aktiv, in der sich Dorfbewohner*innen, vorwiegend Frauen, aus der Region Uttarakhand erfolgreich gegen die Abholzung ihrer Wälder zur Wehr setzten. Bekanntheit erlangte die Bewegung durch ihre Methode, Bäume zu umarmen, um sie vor der Fällung zu bewahren. Die Chipko-Bewegung ist damit eine wichtige Vorläuferin von Protestbewegungen wie der im Danni.

Kritik zu verarbeiten ist Teil des Gestaltungsprozesses des gemeinsamen Zusammenlebens: „In Hinsicht auf Inklusivität hat die Klimagerechtigkeitsbewegung nicht unbedingt den besten Ruf – und das zu Recht. Zu weiß, zu bürgerlich, zu akademisch. Auch auf den Protest im Danni und auf unsere Gemeinschaft trifft das zu. Nicht ausschließlich, aber doch zu einem großen Teil. Die Kritik ist aber inzwischen in der Bewegung angekommen, und es tut sich was, zumindest nehme ich das so wahr. Es ist unsere Verantwortung, zu reflektieren, aus was für einer privilegierten Situation wir kommen“, meint Fiete und fordert dazu auf, Gespräche darüber im eigenen Umfeld anzustoßen. Laut Chirimía gab es in der Vergangenheit zwar Versuche, Awarenessstrukturen zu Rassismus und Antirassismus in der Klimabewegung aufzubauen, diese hätten sich aber nach einer Weile wieder verlaufen. Weitere Ideen, wie die Inklusivität der Bewegung praktisch gestärkt werden kann, scheint es bisher also noch nicht zu geben.

Missy Magazine 02/21; Reportage Dannröder Forst, Text
© Sitara Thalia Ambrosio

Im Kampf gegen patriarchale Strukturen hat sich aber nach der Rodung im Danni etwas getan. So wurde im Januar ein Antipat-Wochenende von der neu gegründeten ADAPTA-Struktur (antidominant-antipatriarchal- triggersensitive awareness) initiiert. Dazu gehörten Lesungen sowie Übungen zur Wahrnehmung von körperlichen Grenzen, aber auch der Austausch von Erfahrungen bezüglich Sexismus und sexuellen Übergriffen im Allgemeinen sowie spezifisch im Danni. Tatjana Tanne ist sich sicher, dass das Wochenende die Gemeinschaft gestärkt hat und hofft, dass die Kultur und der Umgang miteinander nachhaltig rücksichtsvoller und reflektierter werden.

Auch im Danni wird keine herrschaftsfreie egalitäre Utopie gelebt. Aber es wird darüber nachgedacht, danach gestrebt und damit in Ansätzen experimentiert. Dies geschieht gerade noch in einer relativ homogenen Gruppe. Eine inklusiver gestaltete Bewegung bietet die Chance, solidarische Strukturen auf eine holistische Weise zu leben, also die gesamte, menschliche und nicht menschliche, Umwelt zu berücksichtigen und in die eigene Idee vom herrschaftsfreien Leben miteinzubeziehen. Im Danni hat sich mittlerweile auch die Arbeitsgruppe Bildungszweige gegründet, die langfristig politische Bildungsarbeit im Wald, aber auch darüber hinaus leisten will und im April ein Klimacamp veranstaltet. Die Autobahntrasse im Danni ist zwar gerodet und die Baumhäuser sind abgerissen, aber die A49 ist noch lange nicht gebaut. Solange kein Asphalt liegt, kann das Trinkwasser- und Naturschutzgebiet noch gerettet werden. In diesem Frühjahr werden die Baumreste abtransportiert und die Wurzeln entfernt, Baustelle bleibt die Trasse bis 2024 – es gibt also viel Spielraum für weitere Aktionen.

*Aktivisti ist eine genderneutrale Bezeichnung für Aktivist*innen, die und Klimabewegungen verwendet wird.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/21.