Text: Sascha Rijkeboer
Illustration: EL BOUM

TW: vulgäre Sprache, Fäkalien, Genitalien, Phallus

Ich setze das ceruleanblaue Plastik an meine Vulva. Es schließt sie schön ein, umfasst äußere Vulvalippen und Klitoris und hält sie geborgen. Es dauert ein bisschen, bis der Urin kommt, ich stütze meine Hand auf der Wand über der Toilette, fühle die kalte Fliese, die Oberfläche ist zärtlich matt. Aber nun fließt er, der Urin, er füllt sich in den großzügigen Schnabel und strömt allmählich den schmalen Schaft nach vorne: Ich uriniere stehend in die Toilette meiner Wohngemeinschaft. Wie laut das ist! Ob mich jemand hört?

Die blaue Pinkelhilfe habe ich von meiner kürzlich zugezogenen Mitbewohnerin geschenkt bekommen. Sie hatte sie seit der Pride 2016 in San Francisco. Dort geht die Pride angeblich vier Tage und jeder Tag ist einem Buchstaben aus LGBT gewidmet. Den Auftakt hätte „T“ gemacht, was für trans steht, und da seien eben Pinkelhilfen verteilt worden. Sie hatte die Pinkelhilfe aufbewahrt, vielleicht würde sie sie brauchen, vielleicht aus Nostalgie behalten, aber jetzt würde sie sie mir gerne schenken.

Vor ungefähr zehn Jahren las ich in einem Lifestyle-Magazin, das an junge Frauen adressiert ist und jeden Freitag gratis in der Deutschschweiz an allen Bahnhöfen ausgelegt wurde, von zwei Dudes, die eine Pinkelhilfe entwickelt hätten. Sie hieß „Pibella“, ich erinnere mich noch genau. Vater und Sohn entwickelten, inspiriert von der krebskranken Mutter, eine Pinkelhilfe. Ich erfuhr davon im besagten „Friday“ und wusste: Ich will das! Aber ich wusste auch: Das steht mir nicht zu. So was darf ich nicht mögen! Es wurde als Abhilfe z. B. beim Wandern angepriesen – da ich nie wanderte, war die Hürde, sie für privates lustvolles Pinkeln zu bestellen, zu groß. Also habe ich immer und immer wieder verstohlen an „Pibella“ gedacht – auf Festivals, an der Aare, bei der Riesenschlange beim Damen-WC im Kino, basically anywhere!

Eine Pinkelhilfe, um im Stehen urinieren zu können, war und ist für mich schambehaftet. Der blaue, an mich weitergeschobene Plastikschnabel lachte mich erst zwei Wochen lang an, bevor ich mich überwinden konnte, ihn anzusetzen. Ich eigne mir hier prothesenhaft einen Habitus an, der mir nicht zusteht, der mich doch lächerlich aussehen lässt? Nach drei Versuchen zu Hause, zweimal nackt (ich fürchtete, mich einzunässen) und ein letztes Mal komplett eingekleidet durch den Hosenschlitz, nehme ich meinen neuen blauen Pinkelschaft selbstbewusst mit an den Rhein: Ich kann jetzt durch den Schlitz der Hose an eine Straßenlaterne pissen!

Ein guter Freund und ich trinken Bier, ich trinke absichtlich viel Bier – es ist urintreibend. Ich sage ihm: „Ich muss jetzt richtig hart pissen. Und ich habe eine Pinkelhilfe! Ich werde an eine Wand pissen, wie ein cis Dude!“ Er freut sich für mich und weist mich darauf hin, dass das eigentlich bescheuert und verboten ist, und empfiehlt mir darum, einen Straßengulli zu benutzen. Ja, ok, ich probiere und probiere. Kehre zu ihm zurück, nehme ein paar Schlucke mehr und probiere noch einmal. Immer und immer wieder laufen Leute hinter mir vorbei. Ich schäme mich. „Ich bin gehemmt! Es kommt nichts!“, rufe ich ihm zu. Er nippt an seiner Dose Bier. „Ich finde es schön, diesen Moment mit dir erleben zu dürfen.“ Ich finde es auch schön, ich fühle mich aufgehoben und verstanden. Es bedeutet mir viel, dass ein cis Mann non-judgemental an meiner Euphorie teilnehmen möchte. Er versucht, mich zu unterstützen. „Wir können zusammen zu einem Pissoir unweit von hier gehen? Vielleicht fällt’s dir dort leichter?“ „Das nächste Mal!“, sage ich. Ich schäme mich, ich habe bei der Aneignung unkomplizierter öffentlich urinierender Männlichkeit versagt. Denn ich musste sooo dringend pinkeln und es ging nicht. Ich gebe auf. Ich rufe ihm zu: „Ich geh jetzt in die Hocke hinter dieser Mauer da – haha! – mit eingezogenem Schwanz!“

Ich ärgere mich darüber, in eine vulnerable Hocke gegangen zu sein. Schon Simone de Beauvoir hob dies als einen der ersten geschlechterunterscheidenen Akt von Dominanz hervor, nämlich, dass Knaben mit der Idee bestückt und darin gefördert würden, immer und überall und gezielt urinieren zu können. Potent halt. Mädchen hingegen müssen immer in eine Hocke gehen, sich dabei bedecken, eine vulnerable Position einnehmen und ohne Zugriff auf Steuerung urinieren.

Für mich ist meine ceruleanblaue Prothese darum ein Akt der Emanzipation: Ich kann hier auch pissen und zielen und ich muss nirgends anstehen! Ich kann so viel Bier am Rhein trinken, wie ich will. Ich bin selbstständiger, ich bin nicht auf eine Toilette angewiesen. Wenn ich es denn nur auch hinkriegen würde.

Es gab eine Zeit, als ich Simone de Beauvoirs Einordnung und krasse Abwertung von Weiblichkeit qua Urinierermächtigung las, da lehnte ich die Aneignung einer „Pibella“ oder eines vergleichbaren Produkts aus patriarchatskritischen Motiven ab. Eine Appropriation des Phallischen ist doch eine Stütze des Patriarchats? Heute denke ich: Hej, es ist doch superwichtig, einen Gender-Data-Gap zu überwinden. Menschen, die im Sitzen pinkeln müssen, erhalten viel weniger Space dafür als Menschen, die im Stehen pinkeln können. Das sind bautechnische Sexismen, die überwunden werden sollten. Im Stehen pinkeln zu können, kann aber wahnsinnig euphorisch sein – und es sollte gerade den Menschen, die sich dazu Prothesen aneignen wollen, nicht abgesprochen werden, dass es ihnen zusteht. Ein euphorischer Gebrauch sollte propagiert werden! Da soll nie und nimmer Scham sein. Ob nun eine cis Frau, ein trans Mann oder eine non-binäre Person so pissen möchte.

Ich denke nun darüber nach, mir einen Packer zu kaufen – das ist eine penisförmige Pinkelhilfe. Ich find’s recht absurd, einen weißen, schlabbrigen Silikonschwanz aus meiner Hose zu ziehen, aber ich merke: Ich könnte ungehemmter auf einem Pissoir oder in einen Straßengulli urinieren. Dass ein*e Passant*in denken könnte „Was treibt diese Person mit ihrem blauen Plastikrohr für einen Schwachsinn?“, ist nämlich, was mich am Rhein hemmte. Vielleicht brauche ich also eine im vergeschlechtlichten System akzeptierte Prothese, bis wir in einer fernen Utopie dort sind, wo Geschlecht und Symbole keinen Wert mehr haben.

Abschließend ist mir wichtig zu sagen, dass meine Schilderung in vielerlei Hinsicht ableistisch ist: Menschen mit Behinderung haben eine andere Perspektive,  weil sie z. B. Harnkatheter tragen oder rollstuhlgängige Toiletten benötigen. Meine Gedanken sind also, auch wenn sie eine Norm pervertieren, immer noch wahnsinnig konform.