Wer die letzten Wochen an meiner Wohnungstür vorbeiläuft, hört ungefähr das: WHAAAAAAAAT THE FUUUUUUUUUCK!!! ARE YOU FUCKING KIDDING ME???? AAAAAAAAAARGGGGHHHAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!

Denn mein gebeuteltes Gemüt findet keine Ruhe mehr.

Dass von pseudointellektueller Selbstbefriedigung in den Öffentlich-Rechtlichen nicht viel zu erwarten ist, ist nichts Neues. Jüngst beweist das „Literarische Quartett“, das Shoah-Relativierung unter dem Vorwand der bildungselitären Spitzfindigkeiten nach wie vor en vogue ist. Und das ZDF hält es nach wie vor nicht für notwendig, auf die antisemitischen Entgleisungen des deutschen Schriftstellers Marko Martin zu reagieren, geschweige denn sich zu positionieren. Während Martin mit Empörung die Aussage „Deutschland, wo das Blut der ermordeten Juden noch in jeder Gasse klebt“ zitiert und entrüstet fortfährt: „Es gibt kein Blut in deutschen Gassen, weil die deutschen Juden wurden ermordet in Teilen Osteuropas und sie sind in Rauch aufgegangen“, nickt die Moderatorin Thea Dorn. Später widersprechen ihm Dörte Hansen, Moritz von Uslar und Thea Dorn bezüglich der literarischen Intention des Schriftstellers Christian Kracht, der im Roman „Eurotrash“ von der Nazi-Vergangenheit seiner Eltern schreibt, aber seine Shoah-Relativierung bleibt unkommentiert und in jeder Form unkritisiert.

Das „Literarische Quartett“ ist keine Livesendung. Das bedeutet, dieser Zynismus an Pseudo-Metapher-Analyse, der den Holocaust verharmlost und ignoriert, dass Jüd*innen in Massen in deutschen Straßen ermordet, in deutschen Arbeitslagern verreckt, in deutschen Konzentrationslagern hingerichtet, während der Novemberpogrome massakriert, vor deutschen Wohnungen, deutschen Läden, auf deutschen Gehwegen, in deutschen Gassen, auf deutschem Pflaster totgeschlagen, erschossen, getötet wurden, muss einmal durch die ZDF-Redaktion gegangen und abgenommen worden. Mit Erlaubnis des ZDF schraubt Martin weiter an dem Relativierungsmärchen, dass es in Deutschland keine KZs und Vernichtungslager gegeben hätte. Deutschland hatte Konzentrationslager, Arbeitslager, Vernichtungslager, Hunderttausende sind darin gestorben: Ahrensbök, Alt-Daber, Arbeitsdorf-Fallersleben, Bad Sulza, Benninghausen, Bergen-Belsen, Börnicke, Brandenburg an der Havel, Breitenau, Buchenwald, Colditz, Columbia-Haus, Dachau, Emslandlager, Eutin, Flossenbürg, Heuberg, Hinzert, Hohnstein, Kemna, Kislau, Königstein-Halbestadt, Kuhlen, Leschwitz, Lichtenburg, Meisnerhof, Mittelbau, Mißler, Moringen, Neuengamme, Neustadt an der Haardt, Niederhagen/Wewelsburg, Ulm-Oberer Kuhberg, Oranienburg, Osthofen, SA-Gefängnis Papestraße, Perleberg, Plaue, Ravensbrück, Sachsenburg, Sachsenhausen, Senftenberg, Wasserturm Berlin-Prenzlauer Berg, Vechta. Marko Martin hat Geschichte studiert, Höcke und Gauland auch. Ich lasse das mal nebeneinander stehen.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Der Nachsatz „und sie sind in Rauch aufgegangen“ ist so eine Verhöhnung der industriell organisierten Ermordung von Jüd*innen und der Entsorgung ihrer Leichen, dass das ZDF persönlich eine Strafanzeige auf Grundlage von § 130 und § 189 des Strafgesetzbuches hätte stellen müssen, aber das war ja mit Lächeln beschäftigt.

Normalerweise schaffe ich es, solche Ereignisse auf Abstand zu halten, weil sie viel zu regelmäßig vorkommen, als dass ich permanent emotional involviert sein könnte. Deutschland zwingt mich zum Abgestumpftsein. Deutschland zwingt mich in ein Kartoffel-Dasein. Und wenn das mal nicht klappt, weil es mich dann doch gelegentlich unerwartet trifft, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender nicht mal mit der Wimper zuckt; nicht mal meint, sich mit einer standardisierten Antwort dazu äußern zu müssen, bleibt mir normalerweise die Flucht in die aktivistischen Sphären der Sozialen Medien. Kluge, wundervolle Menschen, die wundervolle Dinge posten. Normalerweise. Denn was mich mental aus der Fassung bringt, ist, dass in den Sozialen Medien gerade antisemitische Kontinuitäten viral gehen und hart gefeiert werden. Und meine Social Media Save Havens sind alle mit vollem Enthusiasmus dabei. Es ist so fucking …

Ich sollte mich freuen, dass es ein Revival der Nazi-Erbe-Debatte gibt, aber stell dir vor, es gibt einen antisemitischen Reboot und niemand bekommt es mit. Den Antisemitismus-Teil. Und das ist kompletter Abfuck, denn wie kann man allen Ernstes über Nazihintergrund sprechen wollen und gleichzeitig antisemitische Kontinuitäten fortsetzen?!?

Es ist super, dass eine euphorische Masse durch die Arbeit von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah angefangen hat, sich mit Nazihintergründen auseinanderzusetzen. Congratulations!

Aber jedes Mal, wenn jemand sagt, Hilal und Varatharajah haben die Debatte angestoßen, heißt das in Wirklichkeit, ihr habt die letzten Jahrzehnte einfach keinen Fuck auf Jüd*innen gegeben! Ihnen nicht zugehört, euch nicht für sie und ihre Debatten interessiert; es bedeutet, ihr wart die letzten Jahrzehnte einfach beschissene Allies. Und es bedeutet auch, ihr seid es immer noch, denn ihr habt kein Problem, sie und ihre Arbeit auch weiterhin unsichtbar zu machen. Andererseits würde es zumindest JETZT ein Bewusstsein dafür geben, dass das seit Jahrzehnten eine jüdische Debatte ist, und es wäre die Verantwortung, das spätestens JETZT zu benennen. Aber das passiert eben nicht. Stattdessen wird das Ganze als fresher neuer Diskurs gefeiert.

Jüd*innen und ihre Arbeit unsichtbar zu machen, sie aus feministischer und linker Geschichte rauszuschreiben, ist antisemitische Tradition. Jetzt zu sagen, Hilal und Varatharajah haben die Debatte angestoßen, ist ein Fortschreiben dieser Kontinuität. Es ist nicht nur Unwissenheit, es ist Ignoranz und antisemitisch und schreibt Jüd*innen ERNEUT aktiv aus linker, feministischer und antifaschistischer Bewegung raus. Macht Jüd*innen unsichtbar, die ihr gesamtes Leben diesem Diskurs gewidmet, Stiftungen gegründet und selbst organisiert und die dafür nur Ignoranz und Antisemitismus geerntet haben, und macht die Arbeit unsichtbar, die Jüd*innen geleistet haben, damit Hilal und Varatharajah ÜBERHAUPT das Material hatten, um diesen Talk machen zu können. Hilal und Varatharajah kennen die Kritik, erwähnen sie aber mit keinem Wort. Stattdessen sagen sie selbst, dass sie die beiden sind, die die Debatte angestoßen haben. Solidarität, Intersektionalität und Allyship sehen anders aus. Aber alle finden’s geil.

Was bleibt, wenn „Bildungsfernsehen“ Shoah-Relativierung für intellektuelle Edgyness und die Verhöhnung der Shoah-Opfer für Literaturkritik hält? Was bleibt, wenn alternative Wissensvermittlung in ihrer Wokeness euphorisch über uns drüber klatscht, völlig ignorant, was sie da tun und desinteressiert über welche marginalisierte Bewegung sie da drüber applaudieren? Was bleibt, wenn Antisemitismus im Außen immer noch zum guten Ton gehört und in den eigenen Communitys so selbstverständlich fortgesetzt wird, dass es nicht mal eine Debatte wert ist?

Was bleibt, wenn es sich nicht lohnt, über antisemitische TV-Formate in den digitalen Polit-Space zu ranten, weil dort gerade das antisemitische Spektakel des Jahres stattfindet, in dem jüdische Debatten, Bewegung und Stimmen in aller Selbstverständlichkeit ausradiert werden, und alle machen mit?

Richtig: WHAAAAAAAAT THE FUUUUUUUUUCK!!! ARE YOU FUCKING KIDDING ME???? AAAAAAAAAARGGGGHHHAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!

Schreien in den eigenen vier Wänden. Weil Konversation mit dem Hund, ist die einzige, die ich aktuell noch ertrage. Sie tut immerhin erst gar nicht so, als wollte sie irgendwas anderes, als an ihrem eigenen Arsch zu riechen.