Manchmal tue ich so, als sei ich nicht behindert. Ich nenne das „Able-Passing“, das Durchgehen als nicht behinderte Person vor Leuten, die von meiner Behinderung nichts wissen. Wenn man mir begegnet, sieht man es sofort an meinem Gang, an der Haltung meiner Füße, an den Krücken. Seitdem Begegnungen aber nur noch digital stattfinden, ist alles anders.

Ich bin jetzt nur ein weiteres Gesicht in einem Zoom-Meeting. Was man von mir sieht, entscheide ich. Letztens fragte mich meine neue Arbeitskollegin, mit der ich mich seit Monaten digital treffe, warum ich mich so für Barrierefreiheit interessiere, ob ich selbst betroffen sei.
Ich bin Mitglied in Arbeitsgruppen, teilweise treffen wir uns mehrmals die Woche, wir lachen miteinander und erzählen uns Dinge, freunden uns an und manchmal ziehe ich mein Bein an die Brust und zeige mein Knie, aber immer nur so viel, dass mein Körper noch als abled durchgehen würde. Als würde am anderen Ende des Zoom-Meetings jemand mit einer Lupe sitzen und jeden meiner Pixel nach einer sichtbaren Behinderung absuchen.

Im analogen Alltag geht das für mich nicht. Ich kann nicht „passen“, wenn ich physisch anwesend bin. Das führt dazu, dass die Leute ununterbrochen auf meine Behinderung reagieren, dass ich auf dem Campus angestarrt und angesprochen werde, dass man sich an mich erinnert. In der Uni bin ich „die, die auf Krücken läuft“ und Menschen, die ich noch nie gesehen habe, kennen meinen Namen. Meine Identität ist geprägt, noch bevor ich mich vorstelle und in Erwartungshaltung auf die Reaktionen, gebe ich mich von vornerein defensiv: Ich lächle selten, um niemandem das Gefühl zu geben, ich sei nett und würde gerne Fragen zu meinem Körper beantworten. Ich habe Kopfhörer im Ohr, damit mich bloß niemand anspricht. Ich tue so, als hätte ich gerade leider keine Zeit zu plaudern, wenn die „Was hast DU denn mit deinen BEINEN gemacht?“-Frage kommt.

Diese Reaktionen der Leute digital nicht zu erleben, ist eine Auszeit, die ich mir manchmal gerne erlaube. Es fühlt sich gut an, eine Realität zu erleben, in der ich einfach nur ich bin und nicht bei jeder ersten Begegnung Mitleid, Schock oder Bedauern erfahren muss. Ich muss meine neuen Freund*innen auf Zoom, die nichts von meiner Behinderung wissen, nicht auf dem Weg zur Haltestelle darum bitten, langsamer zu gehen. Ich muss mich nicht auf dem Weg zum Seminarraum mitten im Gespräch plötzlich von ihnen trennen, weil sie Treppen laufen und ich zum Fahrstuhl gehe. Ich bin offener, ich rede und lache mehr, lasse meine Schutzmauern runter. Es ist eine kleine Utopie, die nur in meinem Kopf existiert: Wie wäre eine Welt, in der ich meinen Körper nicht jeden Tag rechtfertigen muss?

Marie Minkov

Marie Minkov arbeitet als freie Autorin und Illustratorin und studiert Literarisches Schreiben in Hildesheim. In ihren Texten befasst sie sich mit Behinderung, Norm und Scham und untersucht das Inklusionspotential autobiografischer Texte.

„Passing“ hat, so groß die Vorteile sind, natürlich auch Nachteile. Manche Menschen „passen“ auch analog, weil ihre Behinderung unsichtbar ist. Aber was nicht sichtbar ist, wird angezweifelt, man nimmt ihnen ihre Behinderungen nicht so schnell ab. Sie sehen schließlich „ganz normal“ aus. Dadurch müssen sie mehr Aufwand betreiben, um ihre Bedürfnisse anderen Menschen zu erklären, müssen sich aktiver dafür einsetzen, dass jemand ihnen im Bus einen Platz frei macht oder dass ihnen die Teilhabe ermöglicht wird.

Für mich war „Passing“ dagegen schon immer eine Flucht. Denn egal, wo ich digital auftauche, überall herrscht dieselbe Erwartungshaltung: „Able-bodied until proven otherwise.“ Als unsicherer Teenie war es mein Schutzraum, ich suhlte mich in der Idee, meine ganz persönlichen digitalen Räume zu haben, in denen ich nicht behindert war. Aber es verleitete mich auch dazu, alles dafür zu tun, nicht aufzufliegen. Ich erzählte nie von meinen Erfahrungen, verheimlichte Arztbesuche, konnte nie Dampf ablassen, zensierte einen Großteil meines Alltags. Fotos postete ich nur, wenn ich darauf „normal genug“ aussah, mein Blick ist, was die Überprüfung der Sichtbarkeit meiner Behinderung angeht, enorm geschult. In dieser Hinsicht bin ich die ableistischste Person, die ich kenne: Ich ersticke jedes Anzeichen von Behinderung im Keim. Und das, obwohl ich eigentlich empowern will, sichtbar sein will, Awareness schaffen will.

Dass diese selbst erschaffene digitale Utopie am Ende des Tages eben nur das ist – eine Utopie –, merke ich dann spätestens beim analogen Kennenlernen. Ich habe kein Problem damit, wenn Leute von meiner Behinderung wissen, im Gegenteil, es erleichtert vieles. Aber es ist das Outing und die damit verbundenen Reaktionen, auf die ich keine Lust habe. Letztens erstellte ich einen neuen Instagram-Account, ich stellte ihn privat und das Kriterium, nach dem ich Follower*innen-Anfragen annehme, ist nicht: „Mag ich die Person?“, sondern: „Weiß sie von meiner Behinderung?“ Ich wollte mir einen kleinen digitalen Raum erschaffen, an dem nur Leute teilhaben, denen ich es nicht erklären muss, vor denen ich mich nicht outen muss.

Ich klaue hier den Begriff des Coming-outs, denn im Grunde ist es genau das. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich zu outen, sobald es um den Schritt geht, sich zu treffen – so richtig, in echt. Es ist jedes Mal die gleiche Situation, egal, ob ich mich mit 14 Jahren mit meiner Twitter-Emo-Bubble bei einem Konzert treffe oder mit 26 mit der Studentin aus meiner Arbeitsgruppe.

Bei meinem Coming-out habe ich zwei Optionen: Entweder ich warne sie vor, oder ich lasse es sein und sie sehen es selbst. Beides ist unangenehm und so oft ich beide Optionen auch schon durchlaufen bin, ist es immer noch schwer. Nicht selten habe ich Treffen abgesagt, weil ich es nicht über mich bringen konnte. Heutzutage schreibe ich meistens einfach eine ziemlich peinliche Mail, die etwa so aussieht:

Liebe Freundin,

ich wollte dir vor unserem Treffen morgen übrigens noch sagen, dass ich eine Gehbehinderung habe und auf Krücken laufe. Nur dass du dich nicht wunderst.

Ich freue mich auf dich

Marie

Das ist genauso unangenehm, wie es klingt, aber lange nicht so unangenehm wie die Reaktion der Leute, wenn ich sie nicht vorwarne. Sie sagen dann Sachen wie: „Hä? Das hab ich dir gar nicht angemerkt, dass du auf Krücken läufst!“ Ach nee.

Seit alles digital stattfindet, „passe“ ich mehr als je zuvor. Schon jetzt graut es mir davor, dass die ersten Präsenzveranstaltungen wieder beginnen, ich die Leute, die ich seit einem Jahr auf Zoom sehe, in echt treffe und mit Fragen bombardiert werde. Vielleicht fange ich an, mir vorzustellen, es würde all meinen neuen digitalen Freund*innen genauso gehen wie mir, sie hätten alle eine Behinderung, die sie verheimlichten. „Disabled until proven otherwise.“ Wenn ich sie dann in echt sehe und sie mich verwirrt ansehen, sehe ich genauso verwirrt zurück und sage: „Hä? Ich dachte die ganze Zeit, dass du behindert bist!“