Von Natasha A. Kelly

Als die Black-Lives-Matter-Bewegung im Sommer 2020 durch deutsche Straßen zog, war es schwer zu leugnen, dass es auch hierzulande ein jahrhundertealtes Rassismusproblem gibt. Noch nie hatte das Thema so viel Aufmerksamkeit bekommen – weder von der weißen Mehrheitsgesellschaft noch von den weißen Medien. Verständlich, dass viele Schwarze Menschen nach den gewaltvollen Bildern des Mordes an George Floyd ein Ventil suchten, um ihrer Wut über eigene angestaute rassistische Erfahrungen Luft zu machen. Das Live-Video, das zufällig während der Tat von einer Passantin gefilmt wurde, ging in Sekunden um die Welt. Bei vielen betroffenen Zuschauer*innen führte es zu Retraumatisierungen und zur Reinszenierung der kolonialen Vergangenheit in der Gegenwart, wie die Schwarze Psychologin Grada Kilomba einst schrieb.
 George Floyds öffentliche Exekution durch einen weißen Polizisten ist auch an mir nicht spurlos vorbeigegangen. Zur besten Sendezeit wurde ich durch RTL unfreiwillig und ohne Triggerwarnung zur Zeugin der vollen Brutalität und Komplexität des strukturellen Rassismus. In einem einzelnen Bericht thematisierte der Privatsender den Rassismus in den USA – als würde es bei uns keinen Rassismus geben. Der Schwarze Jogger Ahmaud Arbery war von rassistischen Fundamentalisten erschossen worden. Die so unscheinbar wirkende Amy Cooper hatte im New Yorker Central Park bei der Polizei angerufen und den Vogelbeobachter Christian Cooper beschuldigt, „ein bedrohlicher Schwarzer Mann“ zu sein, nachdem dieser sie darum gebeten hatte, ihren Hund anzuleinen. Und dann die Ermordung von George Floyd. Von dem rassistischen Terroranschlag in Hanau oder der antisemitischen Gewalttat in Halle kein Wort. NSU und Oury Jalloh waren vergessen.

missy magazine 03/21,Essay, beitrag
©Hernan J. Martin / Shutterstock

Als ich wenig später zwischen 20.000 Menschen am Alexanderplatz in Berlin stand, überkam mich für einen kurzen Moment das Gefühl der Überwältigung. Noch nie zuvor in der Geschichte Deutschlands waren so viele Menschen für die Leben Schwarzer Menschen eingestanden. Gleichzeitig war mir bewusst, dass nicht alle Anwesenden gekommen waren, um gegen Rassismus und rassistische Polizeigewalt zu demonstrieren. Der erste Lockdown war soeben zu Ende, was viele Menschen auf die Straße gezogen hatte. Die jungen Aktivist*innen, die die Federführung bei der Organisation übernommen hatten, waren wenig informiert über den über dreißig Jahre andauernden Kampf um Schwarze Identität, Schwarze Sichtbarkeit und Schwarze Geschichte in Deutschland.

Was dann vonseiten der Politik und Medien folgte, führte mit Vollgas in eine Sackgasse. Es fehlten Fakten, weitgreifende Definitionen und strukturelle Zusammenhänge. Genau genommen hatte sich die öffentliche und politische Diskussion zu Rassismus jeder Form der Professionalisierung entledigt. Der Kabinettsausschuss gegen Rechtsextremismus und Rassismus, der sich nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau gegründet hatte, legte im Schnellverfahren seinen „89-Punkte-Plan“ vor. Welche Wissenschaftler*innen bei der Erarbeitung mitgewirkt haben, können wir uns denken, richtet sich doch der Blick weniger auf die Strukturen, die zwingend geändert werden müssen, und mehr auf individuelle Handlungen. Damit bleiben weiße Macht und weiße Privilegien gesichert. Ergebnisse von Schwarzen Wissenschaftler*innen scheinen nicht genügend Relevanz gefunden zu haben, wenn wir bspw. Punkt 36 in den Blick nehmen: „Neuformulierung Art. 3 Grundgesetz, Ersetzung des Begriffs ‚Rasse‘“. Dabei sind „Rasse“ und „Nation“ aufs Engste miteinander verstrickt. Damit wir, Schwarze Deutsche, irgendwann nicht mehr gefragt werden, woher wir kommen und wann wir dorthin zurückgehen, muss doch der „Rassebegriff “ auf seine Historizität und Wirkmächtigkeit für alle betroffenen Gruppen untersucht werden und nicht ohne grundlegende Aufklärung und Aufarbeitung gestrichen werden.

Strukturellen Rassismus auf Fragen der Integration und Migration zu reduzieren, was mit der dauerhaften Stärkung und dem langfristigen Ausbau des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (Punkt 49) heraufbeschworen wird, verhaftet uns in einer generationsübergreifenden Migrationsgeschichte, wodurch wir neudeutsch als „Menschen mit Migrationshintergrund“ kategorisiert werden. Dabei haben wir immerwährenden „Migrant*innen“ den Rassismus nicht nach Deutschland gebracht. Er war schon fest in den Strukturen der deutschen Gesellschaft verankert, als wir hier ankamen. Mehr noch: Rassismus ist ein europäisches Exportprodukt, das von hier in die ganze Welt hinausgetragen wurde. Wenn wir also in die USA (Segregation) oder nach Südafrika (Apartheid) schauen, dann sehen wir in diesen Ländern das Ergebnis europäischer Geschichten und Diskurse.

Selbstverständlich sind wir alle Expert*innen unserer eigenen Erfahrungen. Und Erfahrungswissen ist im Kontext von Rassismus wesentlich, z. B. um Alltagsrassismus zu ahnden. Allerdings dürfen wir Schwarzes Fachwissen nicht aus der Debatte exkludieren, das seit vielen Jahrzehnten von Schwarzen Wissenschaftler*innen und Expert*innen produziert wird. Denn Rassismus ist diskursiv und nicht biologisch! Er ist eine Ideologie, die auf derselben strukturellen Ebene steht wie der Kapitalismus und das Patriarchat – ein Indiz dafür, dass wir sowohl die sozialen Kategorien Class und Gender als auch die von Race zum Abbau diskriminierender Strukturen benötigen. Wenn wir also eine Strukturveränderung anstreben, müssen wir ein Umdenken anregen. Und das Umdenken beginnt bekanntlich mit dem Nachdenken und Verstehen. Eine Anleitung dazu möchte ich mit meinem neuen Buch geben, das entlang unterschiedlicher Beispiele aus der Praxis die rassistischen Strukturen der deutschen Gesellschaft aufzeigt. Vielleicht hilft uns das, auch strukturelle Lösungen zu finden.

Natasha A. Kelly „Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!“ —  Atrium, 80 S., 9 Euro

Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/21.