Staus und Behinderungen von Marie Minkov

Wenn ich in meinem Schreibstudium autobiografische Texte über Behinderung schreibe, prophezeien mir meine Kommiliton*innen und Dozierenden, dass sich „so etwas“ sicher gut verkaufen wird. Autobiografien seien en vogue, wir sehen sie gerade überall, einige sind aus mehrfach marginalisierten Perspektiven geschrieben. In Seminaren sprechen wir über homosexuelle Autor*innen aus Arbeiter*innenfamilien, Annie Ernaux, Ocean Vuong oder Édouard Louis, wir, die akademisierten Studierenden unterhalten uns über Klassismus und empfinden solche Perspektiven als besonders wertvoll, weil sie andere Geschichten erzählen.

Als einzige sichtbar behinderte Studentin meines Studiengangs habe auch ich eine andere Geschichte zu erzählen – so heißt es. Dabei ist es keine Überraschung, dass ich die Einzige bin. Behinderte Menschen werden systematisch von akademischen Bildungswegen ausgeschlossen, nicht zuletzt ist mein Campus nicht barrierefrei, wir müssen uns also nicht wundern. Gleichzeitig raten Dozierende mir, mich auf das Schreiben über Behinderung zu konzentrieren und andere Schreibprojekte ruhen zu lassen. Ich hätte einen Vorteil gegenüber anderen Studierenden, einen Schreibanlass in Form einer Biografie, die genug von der Norm abweicht, dass sie die Leute ergreifen, inspirieren kann; sich gut verlegen lässt.

„Also soll ich meine Behinderung ausschlachten?“, witzele ich und sie nicken. Aus Autor*innenperspektive macht das nur Sinn. Auch ich erwische mich bei diesem marktorientierten Denken, frage mich, ob ich mich nicht mit dem Schreiben beeilen sollte, bevor es jemand anderes tut, jemand, der eine ähnliche Geschichte hat wie ich und mir den Unikatwert meiner Biografie nimmt. Schließlich sind marginalisierte Menschen auf dem Literaturmarkt häufig Repräsentant*innen ihrer Community – mehr als eine Stimme wird nicht benötigt.

In der diesjährigen Staffel von „Germany’s Next Topmodel“ ermutigen die Juror*innen Soulin, die mit elf Jahren aus Syrien geflohen ist, Kund*innen unbedingt von ihrer Fluchtvergangenheit zu erzählen, weil es sie interessant mache. Als sie es einmal nicht erzählt, bekommt sie im Feedbackgespräch gesagt, dass sie dadurch ihre Chance vertan hat, das Interesse beim Kunden zu wecken. „Modeln ist Personality, es ist Geschichten erzählen – und ich hab genug Geschichten zu erzählen“, sagt Soulin selbst. Allerdings scheinen von diesen Geschichten eben nur jene gefragt zu sein, die mit Flucht und Krieg zu tun haben. Anders gesagt: Trauma sells.

© El Boum

 

Und das muss nicht unbedingt verwerflich sein. Genau genommen kann die Vermarktung der eigenen Identität sogar ein Akt der Selbstermächtigung sein. Schließlich geht es ja gerade darum, selbstbestimmt zu handeln, und wie das genau aussieht, kann einem niemand vorschreiben. Wie es für Soulin ist, kann sie nur selbst wissen – spricht sie über ihre Fluchterfahrungen, weil sie es will, oder reagiert sie nur auf den Voyeurismus der Medien?

Für mich ist Empowerment häufig die Entscheidung gegen das Schweigen und für das Sprechen. Das liegt daran, dass ich immer geschwiegen habe, immer über meinen Kopf hinweg entscheiden lassen habe, meine Bedürfnisse und Erfahrungen nie geteilt habe, diskriminierendes Verhalten nie angesprochen habe und nie für meine Rechte eingestanden bin. Wenn ich mich heute empowert fühle, dann meistens, wenn es mir gelingt, mein großes Schweigen zu brechen. Genauso gut kann ich mir aber in bestimmten Situationen das Recht einholen, zu schweigen, und mir erlauben, mich dafür nicht schlecht zu fühlen.

Zum Schreiben einer Autobiografie muss ich mich in Erinnerungen aufhalten, die ich eigentlich vergessen wollte. Oft bin ich blockiert, setze mich lieber an andere Schreibprojekte, aber es zieht mich trotzdem immer wieder zu diesem Text. Nicht, weil mir meine Kommiliton*innen und Dozierenden dazu raten, und auch nicht, um die Leute zu berühren oder zu schockieren, sondern ganz einfach, weil ich ihn schreiben will.

Dass ich dabei am Ende des Tages mein eigenes Trauma verkaufe, ist etwas, das ich wohl kaum umgehen kann. Aber ich initiiere lieber selbst diesen Verkauf, als dass andere Profit daraus schlagen. Ich begebe mich freiwillig in diese Position, mache mich durch mein Schreiben selbst zu dem Anderen, dessen Leid fasziniert. Der voyeuristische Blick von nicht behinderten Menschen objektiviert mich, aber er spielt mir auch in die Karten, weil er das Interesse an meiner Geschichte pusht. Schreibend entscheide ich selbst über die Worte, werde nicht unterbrochen und muss mir den Raum mit niemandem teilen. Das Format der Autobiografie ermöglicht mir dadurch eine Kontrolle, die ich normalerweise nicht habe. Für mich fühlt sich nichts ermächtigender an, als über etwas zu schreiben, für das ich mich schäme, und dieses Schreiben dann anderen Menschen zu zeigen. Die Überwindung zahlt sich also meistens aus.

Ob ich es will oder nicht, ist das Ganze dann auch gleichzeitig politische Bildungsarbeit, was mir zwar eine gewisse Macht zuschreibt, aber auch ziemlich nerven kann. Ich muss damit rechnen, dass Leser*innen das, was sie über mich erfahren, auf andere Menschen mit Behinderung übertragen. Und ich muss mich fragen, wie ich ein positives Selbstbild nicht nur von mir, sondern auch von meiner Community erschaffe. In erster Linie hoffe ich, dass ich – indem ich mir selbst den Raum nehme – auch andere dazu ermutige. So wie auch ich zuvor von anderen ermutigt wurde. Selbstermächtigung ist irgendwie ja auch ansteckend.