Von Sibel Schick

Was Migration wirklich ist, weißt du nicht, bevor du sie durchmachst.

Kaum putze ich mir die Zähne, werde ich hellwach. Ich lege mich trotzdem ins Bett. Mein Kopfkissen ist neu, ich habe mich noch nicht ganz daran gewöhnt. Ich liege wach im Bett und denke an das Gespräch heute, an das, was ich zurückließ. Was ich früher hatte, in einem anderen Leben, in einer anderen Zeit. War ich es? Bin ich noch die Person?

Meine bisher engsten und langwierigsten Freund*innenschaften in Deutschland knüpfte ich mit Menschen, mit denen ich in einem Café gekellnert habe. Es war eine Gruppe einigermaßen zufällig zusammengewürfelter Menschen. Eine recht heterogene Gruppe. Die gemeinsamen Tage, Abende, Nächte, das Gelächter, die Wutanfälle waren so schön … Aber es fehlte etwas. Ich wusste nur nie was. Und dann sagte es mir jemand gnadenlos: „Wir sind hier zusammen aufgewachsen. Dabei hörten wir dieselbe Musik, trugen dieselben Schuhe, verliebten uns in denselben Jungen. Diese Ebene kannst du nicht teilen, weil du woanders aufgewachsen bist.“

Sibel Schick

ist 1985 in der Türkei geboren und wohnt seit 2009 in Deutschland. Seit 2016 arbeitet sie als freie Autorin, Journalistin und Social-Media-Redakteurin. In ihren Texten provoziert sie gern und bezeichnet sich als ein "offenes, peinliches Buch". Auf Twitter und Instagram ist sie als @sibelschick unterwegs.

Das klingt jetzt verletzend, aber die Person reagierte bloß auf meine Äußerung, dass mir in meinen Freund*innenschaften in Deutschland immer was fehlte. Und sie hatte recht. Die Personen, mit denen ich zusammen aufwuchs und dieselbe Musik hörte, verließ ich, als ich nach Deutschland zog.

Es war am Tag vor meiner Anreise, am 31. Dezember 2008, an meinem letzten Tag in Antalya. Ich stand in meinem Zimmer und packte meine Kleidung in meinen Koffer. Bis zu diesem Moment war mir nicht klar, dass nach Deutschland zu ziehen vor allem eins bedeutete: meine beste Freundin nicht mehr so oft sehen zu können, wie ich gewohnt war, wie ich am liebsten hätte. Dass nach Deutschland zu ziehen eine Trennung bedeutete. Erst an diesem letzten Tag leuchtete mir das ein wie ein rasendes Auto nachts an der Landstraße. Ich war der Hase, der von der Realität überfahren wurde, bevor er sie überhaupt in ihrer ganzen Dimension wahrnahm.

Ich erinnere mich: Ich stand in meinem Zimmer, packte meinen Koffer, meine Mutter saß hinter mir auf meinem Bett und schaute mir zu. Ich weinte. Sie sagte: „Du wirst dort großartige Menschen kennenlernen.“ Und sie hatte recht, ich habe in Deutschland großartige Menschen kennengelernt. Darum geht’s aber nicht.

 

© El Boum

Die Menschen, die ich in Deutschland kennenlernen durfte, sind zwar großartig, die Beziehungen zu ihnen allerdings … lückenhaft. Unvollständig. Sie sind gut, aber etwas fehlt. Es ist wie eine Speise, die leicht untersalzen ist. Sie ist zwar lecker, eine andere Person fände sie sogar vermutlich genau richtig, aber es ist eben, wie es ist: leicht untersalzen.

Ich packte meine Sachen in meinen Koffer ein und dachte an sie, meine beste Freundin, die Hälfte meines Lebens. Ich weinte, meine Mutter saß hinter mir. Ich merkte, sie wurde unruhig. Vielleicht fürchtete sie sich davor, dass ich es mir im letzten Moment anders überlegen und bleiben würde. Ich sollte ja schon vor Jahren weg, aber überlegte es mir eben im letzten Moment anders und blieb. Das war jetzt der zweite Versuch, mich nach Europa zu schicken, dieses Mal stand ich kurz davor, bereits morgen sollte ich fliegen. Meine Mutter wusste, dass ich hier weg sollte. Ich bin ihr einziges Kind und die einzige Familie, die sie hier hatte, alle anderen lebten im Ausland. Sie sollte alleine zurückbleiben. Ich ließ sie alleine zurück. Alles halb so tragisch: Sie kam wenige Jahre später nach und immerhin mussten wir nicht fliehen, sondern konnten in Ruhe auswandern. Dennoch bedeutete diese Auswanderung, vieles zurückzulassen. Sich von vielem zu trennen. Von einem ganzen Leben, z.B., und von einer ganzen Welt.

Ich habe es mir diesmal nicht anders überlegt, ich bin am nächsten Tag nach Deutschland gezogen. Aber ich frage mich ganz oft, ob ich heute dieselbe Entscheidung getroffen hätte, wenn mich jemand auf diese Erfahrung vorbereitet hätte. Wenn ich gewusst hätte, dass eine Migration zwar eine Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände bedeuten kann, gleichzeitig aber auch eine Entwurzelung, einen Identitätsverlust, einen (partiellen) Verlust der Persönlichkeit durch eine neue Sprache und Kultur und mehr. Außerdem frage ich mich, ob ich jemals zurückkehren würde. Ob ich dort noch existieren könnte. Ob die Person, die ich mal war, wirklich schon tot ist, ob ich jetzt für immer zu diesem neuen, unvollständigen Ich verdammt bin. Ob meine Freundin, um die ich weinte, noch dieselbe ist.

Ich schrieb meiner besten Freundin heute eine Nachricht. Sie schrieb sofort zurück – gut geht’s ihr, sie wartet zu Hause die Pandemie ab. Wann ich komme, will sie wissen. Ich habe sie das letzte Mal entweder 2014 oder 2015 gesehen – wir wissen es nicht genau, aber wir beide glauben, es ist zu lange her. Wir schreiben uns den ganzen Tag hin und her. Du bist mein Zuhause, sage ich. Und du meins, schreibt sie zurück. Wir erzählen uns, wir fragen uns, wir albern rum. Für einen kurzen Moment fühlt es sich an, als könnte ich spontan losziehen und an ihrer Tür klopfen. Ich versuche, es mir vorzustellen. Ich kann’s mir nicht vorstellen. Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Straßen, die zu ihr führten. Und ich fürchte davor, dass es nicht mehr so sein könnte zwischen uns wie früher.

Ich lege mich ins Bett, vielleicht hätte ich mir nicht die Zähne putzen sollen, jetzt bin ich so hellwach. Ich denke an den letzten Tag, den wir zusammen am Strand verbrachten. Ich habe ein Foto aus dem Tag, Kieselsteine, Sand, Meer, ihr Rücken, Berge. Ich erinnere mich daran, welche Kleidung sie trug, was wir tranken, wie sie die Füße in den Sand steckte. Wie das Meer roch, wie sich die Möwen anhörten. Wie wir uns sattlachten.

Bald. Ich glaube, bald schaffe ich das.