Loud’n Jewcy von Debora Antmann

Wir sagen das Gleiche, aber meinen nicht dasselbe – aus Hören wird erst Zuhören, wenn wir die unterschiedlichen Lebensrealitäten, Bedarfe und Tools unterschiedlicher marginalisierter Gruppen wahrnehmen.

Wie malt man eine Leerstelle, wenn man nicht alles andere drum rum zeichnet? Wie mache ich Wortlosigkeit deutlich, wenn nicht durch das Nutzen von noch viel mehr Worten, um das eine auszugleichen, das es nicht zu geben scheint? Wie mache ich Unsichtbarkeit sichtbar, wenn keine*r hinschaut? Hier bringt das „wenn“ keine Lösung.

Wie verorte ich mich in der Ortlosigkeit? Wie finde ich meine Identität in der Nichtexistenz? Wie bin ich jüdisch unter den Augen aller anderen? Was bedeutet dann Jüdischsein, wenn niemand hinsieht, und warum ist das relevant, wenn wir doch so unsichtbar sind?

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

Fragen jüdischer Realität in Deutschland. Nur ein paar. Vielleicht ein paar der wichtigsten in meiner Arbeit. Meine Arbeit … Das kann in meinem Fall inzwischen so vieles heißen, dass es fast eine unzulässig-vage Aussage für einen solchen Text ist. Und weil ich mir sicher bin, dass mir das als Koketterie ausgelegt wird: bestimmt. Auch. Aber die Wahrheit ist: „Meine Arbeit“ ist nicht nur aufgrund meines Geltungsbedürfnisses inzwischen so vielschichtig, sondern weil die Realität, die ich vorfinde, mir kaum eine andere Wahl lässt.

Jüdischer Aktivismus befindet sich in einer anderen Zeitrechnung. Die meisten marginalisierten Bewegungen befinden sich ca. im Jahre 40 nach Anbruch der Intersektionalität in Deutschland. Jüdischem Aktivismus wurden über zwanzig Jahre davon genommen. Sowohl von der gesamtdeutschen Situation als auch spezifisch durch die Frauen- und Lesbenbewegungen. Hier fehlt so viel Aufarbeitung zu einer feministischen Ära und den intersektionalen Bewegungen, die neben all ihren Verdiensten und Errungenschaften und Kämpfen mit ihrem Antisemitismus auch den Untergang jüdischer Bewegung mitgetragen haben. Aber das ist ein anderer Text. All dies führt uns jedoch zu unserem ersten Übersetzungsfehler – einen False Friend, wie wir sie im Englischunterricht nannten – im Dialog mit anderen Communitys.

Übersetzungsfehler 1 – Bildungsarbeit und politische Bildung vs. Bildungsarbeit und politische Bildung

Natürlich bedeutet Bildungsarbeit im jüdischen Aktivismus häufig auch das, was wir zunächst alle darunter verstehen: Wissensvermittlung. Meistens für jene, die diese Lebensrealität nicht teilen. Um aufzuklären, zu sensibilisieren, sichtbar zu machen und unsere Bedarfe auf das politische Tableau zu bringen.

Im jüdischen Kontext bedeutet es aber für viele von uns auch ganz wortwörtlich bildendende Arbeit, im Sinne von schaffende Arbeit. Weil es eine dermaßen Unterversorgung an Räumen, Möglichkeiten, Plattformen und Infrastruktur gibt, dass viele von uns nicht umhinkommen, für alles, was sie tun, erst die Umgebung schaffen, bauen, BILDEN zu müssen. Und das auf zweierlei Ebenen: Wir beginnen in vielen Dingen und als politische Bewegung das erste Mal seit über zwanzig Jahren wieder zu bilden, im Sinne von „eine Gruppe bilden“, uns etwas aufzubauen, etwas zu erschaffen, was nicht nur an aktivistischen Einzelpersonen hängt. Bilden, wie die bildenden Künste. Wir müssen Wissen schaffen. Es uns nicht aneignen oder vermitteln, sondern es generieren, weil es an vielen Stellen gänzlich fehlt. Wir müssen eine politische Sprache bilden, um unseren Alltag, unsere Erfahrungen, unser Erleben überhaupt verbalisieren und im nächsten Schritt adressieren zu können. Wir BILDEN unsere politischen Grundlagen, die in den Bewegungen anderer marginalisierter Communitys über die letzten Jahrzehnte wachsen konnten. Wir bilden UNS – nicht im Sinne von Lernen, sondern im Sinne von der Erschaffung von uns selbst als jüdische Aktivist*innen in der Selbstwahrnehmung, im Selbstverständnis. Wir bilden eine Idee, was das bedeuten kann und was wir wollen, was es nach außen hin bedeutet. Und das alles müssen wir bilden, weil unsere Bewegungsgeschichte unterbrochen wurde. Uns genommen wurde. Weil dies ein weiterer Neubeginn ist. Politische Bildung bedeutet politische Werdung einer zwangsentpolitisierten und fremdpolitisierten Identität. Bildungsarbeit betreiben wir, weil wir keine politische Infrastruktur haben. Weil wir keine Orte, Räume oder Plattformen für uns als politische Bewegung haben. Weil Community keinen Raum hat zu existieren. Und das führt uns zu unserem zweiten Übersetzungsfehler.

Übersetzungsfehler 2 – Community vs. Community

Wenn ich an Veranstaltungen teilnehme, die mit Vertreter*innen unterschiedlicher Lebensrealitäten besetzt sind, passiert es in der Regel relativ schnell, dass wir von Communitys – in der Regel von unseren Communitys sprechen. Als behinderte, lesbische, dicke, jüdische Aktivistin enthülle ich jetzt ein Geheimnis: Egal, wer von Community redet, es meint etwas vollkommen anderes, als wenn Jüd*innen von Community sprechen, und meistens ist das allen Beteiligten gar nicht bewusst. In Deutschland gibt es keine jüdischen Communitys, wie andere marginalisierte Gruppen sie kennen. Für Jüd*innen gibt es ausschließlich Institutionen. Das ist das Einzige, was die meisten Jüd*innen, die in Deutschland aufgewachsen sind, als Community kennen. Es meint Gemeinde, Studierendenunion, Zentralrat, ZWST (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland). Jüd*innen in Deutschland haben keine Infrastruktur außerhalb der künstlich geschaffenen, zentralisierten, institutionalisierten Strukturen, die in Deutschland als jüdische Community gelten. Das macht politischen Aktivismus nicht nur schwierig, es bedeutet, als Jüd*innen in einer komplett institutionalisierten Welt oder isoliert aufzuwachsen. Ich weiß als Lesbe, als Krüppel, als dicke Person, dass Community normalerweise die Gemeinschaft AUßERHALB der Institutionen ist, die Gemeinschaft, die im Alltag stattfindet. Ob nun im privaten, politischen oder aktivistischen Alltag. Diese Realität gibt es für Jüd*innen nicht. Weil es keinen jüdischen Alltag in diesem Land gibt. Während jüdische Community eher einer Plattenbausiedlung gleicht, wo alles durchgeplant und funktional ist, auf den ersten Blick bis ins Letzte für den (normativen) Bedarf konstruiert, aber wenig Platz jenseits dieser stadtplanerischen Ambitionen, gleichen die meisten anderen Communitys eher Altbauvierteln: organisch gewachsen, es mangelt hier und da an Dingen, vieles ist improvisiert, aber es gibt Raum, Platz für Wiederholung und Interpretation (kommt ins Erdgeschoss eine Kita oder ein Lebensmittelgeschäft, sechs Cafés – alle für andere Bedürfnisse). Das mag auch daran liegen, dass es einfach so wenige Jüd*innen gibt, vor allem liegt es aber daran, dass diese Strukturen künstlich geschaffen wurden, nachdem alles Jüdische zuvor zerstört wurde. Und als Folge, dass Deutschland – nicht unbedingt Jüd*innen – bei diesem Wiederaufbau jüdisches Leben zentralisiert hat. Man stelle sich das so vor: Für alle marginalisierten Gruppen wären die einzigen Möglichkeiten, aktivistisch zu sein, EINE Institution und ihre Unterinstitutionen. Deren Räume, deren Veranstaltungen. Als wären die Angebote dieser Institution/en die EINZIGE Möglichkeit, anderen Menschen mit der eigenen Lebensrealität zu begegnen. Die einzigen Kulturangebote, die sich an mich richten, kommen von dieser Institution. Keine Cafés, wo zufällig viele mit gleichen Erfahrungen rumhängen, keine Studiengänge, wo ich dann nicht mehr nicht die Einzige bin, keine Partys – im Grunde ist das jüdische Identität. Und natürlich war das mal anders.

Aber es reicht nicht, die Gründe für mangelnden Raum nur außerhalb von Bewegungsgeschichte zu denken. All das liegt auch daran, dass wir bei Kämpfen, die Räume geschaffen haben, nicht mitgedacht oder explizit ausgeladen wurden, keine Allies hatten – gehen mussten. Community entsteht auch durch Widerstandsgeschichte/n und in Deutschland wurde uns immer wieder der Boden für diese entzogen oder wir wurden nachträglich rausgeschrieben. Ironischerweise wegen der antisemitischen Idee, wir hätten eh schon alles. Nach wie vor.

© El Boum

Übersetzungsfehler 3 – Let’s play: „Eines ist nicht wie die anderen“

Queers, PoCs, Krüppel, Jüd*innen, Lesben, Schwule, trans* Personen, Schwarze Menschen – eines ist nicht wie die anderen.
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Und trotzdem werden sie ohne einen Hauch der Irritation, ohne Markierung oder Bewusstsein für den Unterschied gemeinsam auf Plakate, Flyer, in Ankündigungen gereiht.

Vermutlich ist den meisten immer noch nicht ganz klar, was ich meine. Sie rätseln rum und kommen zu dem vagen Resultat, dass es irgendwas damit zu tun haben muss, dass das Judentum eine Religion ist. Ich hake hier gleich ein: Das Judentum ist keine Religion. Ein Teil von Judentum kann Religion sein – aber auch das ist ein anderer Text. Darum geht es hier nicht.

Ich fange mal an, dann wird es sicherlich schnell deutlich:

Queer: ist ein politischer Begriff, der aus einem Widerstandskampf heraus entstanden ist.

PoC: ist ein politischer Begriff, der aus einem Widerstandskampf heraus entstanden ist.

Krüppel: ist ein politischer Begriff, der aus einem Widerstandskampf heraus entstanden ist.

Lesbe: ist ein politischer Begriff, der aus einem Widerstandskampf heraus entstanden ist.

schwul: ist ein politischer Begriff, der aus einem Widerstandskampf heraus entstanden ist.

trans*: ist ein politischer Begriff, der aus einem Widerstandskampf heraus entstanden ist.

Schwarz: ist ein politischer Begriff, der aus einem Widerstandskampf heraus entstanden ist.

Jüd*innen, jüdisch: Well, so widerständig das Judentum auch ist, es sind keine politischen Widerstandsbegriffe. Wenn jemand „Schwarz“ für sich verwendet, macht diese Person damit zeitgleich auch eine politische Einordnung. Benutze ich „Lesbe“ als Selbstbezeichnung, ziehe ich, egal, ob mir das bewusst ist oder nicht, Linien politischer Selbstwerdung, politischer Kämpfe und Referenzen zu Bewegungsgeschichte nach. Denn nur so konnte der Begriff zu einer Selbstbezeichnung werden. Nenne ich mich Jüdin, kann ich auf Widerstandsgeschichte zurückschauen, beschreibt das an vielen Orten eine Lebensrealität, die Differenzerfahrungen macht, aber die Selbstbezeichnung ist weder durch diese Differenzerfahrungen noch durch die Widerstandsgeschichte entstanden. Dass Jüd*innen oder jüdisch permanent dahin gehend fehlanalogisiert wird, zeigt, dass unsere Perspektiven fehlen.

Übersetzungsfehler entstehen, weil jüdische Lebensrealitäten kein Teil des aktivistischen Kanons sind, weil jüdische Stimmen Aktivismus immer noch nicht mitgestalten, sondern nur zum Gespräch geladen werden.

Die Frage ist aber: Wie politisch sind diese Gespräche, wenn wir vergessen zu fragen, ob wir, nur weil wir das Gleiche sagen, auch wirklich das Gleiche meinen. Die Antwort ist immer nein. Vierzig Jahre Intersektionalitätsgeschichte in Deutschland sollten uns gelehrt haben, dass auch für die einfachsten Dinge kein Universalismus greift. Vielleicht halten wir deswegen in den jüdischen Kulturtraditionen die Frage für den Ursprung allen Wissens und niemals die Antwort?

Das führt uns an den Anfang zurück:

Wie malt man eine Leerstelle, wenn man nicht alles andere drum rum zeichnet? Wie mache ich Wortlosigkeit deutlich, wenn nicht durch das Nutzen von noch viel mehr Worten, um das eine auszugleichen, dass es nicht zu geben scheint? Wie mache ich Unsichtbarkeit sichtbar, wenn keiner hinschaut? Hier bringt das „wenn“ keine Lösung.

Wie verorte ich mich in der Ortlosigkeit? Wie finde ich meine Identität in der Nichtexistenz? Wie bin ich jüdisch unter den Augen aller anderen. Was bedeutet dann Jüdischsein, wenn niemand hinsieht, und warum ist das relevant, wenn wir doch so unsichtbar sind?