Missy Magazine 04/21, Filmrezis, IM FEUER ZWEI SCHWESTERN
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Im Feuer – Zwei Schwestern
Als Teenagerin blieb Rojda bei einer Verwandten in Deutschland, als ihre Familie in den Irak zurückkehrte, aus dem sie einst gemeinsam geflohen waren. Sie findet ihre Mutter Jahre später in einem griechischen Flüchtlingslager wieder, doch ihre jüngere Schwester Dilan ist im Irak zurückgeblieben, mitten im Krieg. Um sie zu suchen, lässt Rojda, nun Bundeswehrsoldatin, sich in den Irak nach Erbil versetzen. Mit ihren kurdischen Sprachkenntnissen hilft sie dort bei der Ausbildung einer Gruppe Peschmerga-Kämpferinnen für den Einsatz gegen den IS. Sie kehrt zurück in eine verwüstete Landschaft, in der zwischen den Trümmern nur noch Frauen und Kinder ums Überleben kämpfen. Die griechische Regisseurin Daphne Charizani zeichnet vor der Kulisse des brutalen Krieges Porträts der Verbundenheit zwischen Müttern, Töchtern und Schwestern – und in Wahlverwandtschaften. Besonders brillant ist die Verwendung von Sprachen: Ob Englisch, Deutsch als Protest gegen die Mutter oder kurdische Muttersprache – im sprachlichen Wirrwarr offenbaren sich Rojdas Verstrickungen. Ihre Rolle als Soldatin der Bundeswehr bleibt seltsam unreflektiert, ebenso ihre Position innerhalb der Organisation oder der Einsatz vor Ort. Doch diese Schwächen verzeiht man dem Film dank seines starken Ensembles an Frauenrollen. Holle Barbara Zoz

„Im Feuer – Zwei Schwestern“ DE / GR 2020 ( Regie: Daphne Charizani. Mit: Almila Bagriacik, Zübeyde Bulut, Maryam Boubani, Christoph Letkowski u. a., 93 Min., Start: 15.07. )

 

Missy Magazine 04/21, Filmrezis, Ein Frühling in Paris
© 2020 Avenue B Productions

Frühling in Paris
Ein Frühling in Montmartre aus der Perspektive der 16-jährigen Suzanne: In der Schule ist sie unterfordert, die Gespräche ihrer Mitschüler*innen langweilen sie. Sie meidet Partys und wenn sie sich doch auf einer wiederfindet, geht sie als Erste nach Hause. Ein Mädchen, das in ihrem Wesen dem „Bambi“ vom Poster, das an ihrer Zimmerwand hängt, gleicht: sensibel, schüchtern, liebenswert. Gedankenverloren streift sie durch die Straßen von Paris, als sie vor einem Theater den Schauspieler Raphaël (Arnaud Valois) bemerkt. Sie fühlt sich von ihm angezogen, obwohl er deutlich älter ist. Oder gerade deswegen. Regisseurin Suzanne Lindon selbst spielt die Hauptrolle. Das Debüt der 21-Jährigen hat es auf die Festspiele in Cannes, San Sebastián und Toronto geschafft. Doch der Film überzeugt weniger durch seine Handlung – die ja durchaus ein problematisches Klischee darstellen könnte – als durch die Sanftheit der schauspielerischen Performance. Eine Liebesgeschichte, die nicht sexualisiert, plump oder grob dargestellt wird. Sie zeigt ein vorsichtiges Herantasten zweier Menschen, denen eine zarte Seele innewohnt. Tanzsequenzen und die Musik von Vincent Delerm untermalen die Dynamiken des Paares, das sich zwischen Glückseligkeit und der dunklen Vorahnung bewegt, dass der Frühling bald vorbei sein wird. Carina Scherer

„Frühling in Paris“ FR 2020 ( Regie: Suzanne Lindon. Mit: Suzanne Lindon, Arnaud Valois u. a., 74 Min. )

 

 

Missy Magazine 04/21, Filmrezis;wir waren einmal Revoluzzer
© jip-film & verleih

Waren einmal Revoluzzer
Theoretisch kämpfen viele Menschen für eine gerechtere Welt, klagen über durchrationalisierte Empathielosigkeit und eine Gesellschaft, in der alle Scheuklappen zu tragen scheinen. Doch wer ist tatsächlich bereit, ein Stück der eigenen Komfortzone aufzugeben? In ihrem zweiten Langspielfilm erzählt Regisseurin Johanna Moder von zwei befreundeten Wiener Pärchen Ende dreißig , die an dieser Frage zu zerbrechen drohen. Klar, sie wollen Pavel helfen, den sie noch aus Studienzeiten kennen, und der aus politischen Gründen aus Russland illegal nach Wien kommt. Zunächst kein Problem, schließlich sind sie sozial eingestellt und alle recht privilegiert. Doch mit jedem Aufenthaltstag des geflüchteten, ehemaligen Freundes schieben sie sich gegenseitig die Verantwortung zu und werden mit immer neuen Problemen konfrontiert: ihrem Ego, zwischenmenschlichen Beziehungen und der Tatsache, dass sich Hilfesuchende nicht immer so verhalten, wie die Helfenden es gerne hätten. Schauspielerisch exzellent und vielschichtig, mit Josef Hader in einer Nebenrolle, hält „Waren einmal Revoluzzer“ jeder geheuchelten Courage den Spiegel vor und fordert auch von Zuschauer*innen knallharte Selbstreflexion ein. Laura Helene May

„Waren einmal Revoluzzer“ AT 2019 ( Regie: Johanna Moder. Mit: Julia Jentsch, Marcel Mohab, Manuel Rubey, Aenne Schwarz u. a., 102 Min., Start: 09.09. )

 

 

Missy Magazine 04/21, Filmrezis
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Gunpowder Milkshake
Als ihre Mutter Scarlet (Lena Headey) einst nach einem missglückten Auftrag verschwand, war Sam (Karen Gillan) noch eine Teenagerin. Mittlerweile sind 15 Jahre vergangen und Sam ist selbst zur gefürchteten Auftragskillerin beim einstigen Arbeitgeber ihrer Mutter geworden. Nun soll sie eine beträchtliche Summe an gestohlenem Geld zurückholen, entscheidet sich jedoch dazu, mit dem Koffer in der Hand lieber ein entführtes Kind (Chloe Coleman) zu retten. Damit beginnt eine Verfolgungsjagd, die immer mehr Ganoven auf den Plan ruft. Wohlgemerkt auch eine Gruppe an Assassinen (Angela Bassett, Michelle Yeoh, Carla Gugino), die der Unterdrückung den Kampf angesagt hat, auf deren Seite einst Scarlet stand. So sehr „Gunpowder Milkshake“ anfangs noch zäh und ein wenig zu gewollt wirkt, so rasant nimmt er an Fahrt auf, kaum, dass die Fäuste respektive Kofferteile und Bowlingkugeln fliegen. Regisseur Navot Papushado, der bis jetzt eher durch Horrorfilme bekannt war, hat stilistisch tief in die Neo-Noir-Kiste gegriffen, seinen Akteurinnen einen Haufen cooler Sprüche und Waffen verpasst und dem ausgelutschten Gangster- Genre die nötige Prise Klasse und Witz zurückgegeben. Auch wenn die eine oder andere Stelle vorhersehbar ist, ist der Film eine schöne feministische Kampfansage ans Action-Kino. Ava Weis

„Gunpowder Milkshade“ FR / USA 2021 ( Regie: Navot Papushado. Mit: Karen Gillan, Lena Headey, Angela Bassett, Michelle Yeoh, Chloe Coleman u. a., 114 Min., Start: 26.08. )

 

 

Missy Magazine 04/21, Filmrezis,HERR-BACHMANN-UND-SEINE-KLASSE
© Grandfilm

Herr Bachmann und seine Klasse
Nur die Leistung zählt: Das deutsche Schulsystem behandelt Ungleiche gleich und benachteiligt Benachteiligte so einmal mehr. Für Herrn Bachmann aber zählt der Mensch: Mit dieser Haltung geht er auf die Schüler*innen seiner sechsten Klasse zu, damit sie sich in einer Atmosphäre ohne Angst entfalten können. Das Klassenzimmer wird so zum Ort, an dem die Jugendlichen ihr Herz ausschütten. Seit 17 Jahren ist der kurz vor der Rente stehende Alt-Hippie Lehrer im nordhessischen Industriestandort Stadtallendorf, einem sozialen Minenfeld mit Niedriglohnarbeit. Siebzig Prozent der Bewohner*innen kommen aus Familien, die nach Deutschland geflüchtet oder immigriert sind. Maria Speths Dokumentation, die mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, setzt mit der Darstellung von Herrn Bachmanns Beziehung zu seiner Klasse eine ungemeine Energie frei. Energie, um dafür zu kämpfen, dass Selbststärkung wichtiger ist als Grammatik oder Mathe. Der rein beobachtende Film fragt mit viel Würde und Geduld, ob Schule ohne soziokulturelle Barrieren funktionieren kann. Im letzten Jahr vor der Oberschule entscheidet sich der weitere Weg der Schüler*innen. Unkonventionell ringt Herr Bachmann mit dem hölzernen Notensystem. Und kämpft dafür, mit der 6b zu entschlüsseln, wie die Welt funktioniert. Wenke Bruchmüller

„Herr Bachmann und seine Klasse“ DE 2021 ( Regie: Maria Speth. Mit: Dieter Bachmann, Aynur Bal, Önder Cavdar, den Schüler*innen der Klassen 6b und 6f u. a., 217 Min., Start: 16.09. )

 

 

Missy Magazine 04/21, Filmrezis,QUO VADIS, AIDA
© Deblokada, Foto von Christine A. Maier

Quo vadis, Aida?
Das Jugoslawienkriegsdrama folgt der Lehrerin Aida, einer bosnischen Muslimin, die 1995 in den letzten Tagen vor dem Massaker in Srebrenica für die UNO dolmetscht. Während die Stadt umzingelt wird, versucht Aida, ihre Familie zu retten. Doch selbst ihre spezifische Stellung lässt sich nicht in Schutz für ihren Mann und ihre Söhne übersetzen. Wenngleich der bedacht produzierte Spielfilm, der international ausgezeichnet und bei den Oscars nominiert wurde, zur weltweiten Bekanntmachung des Massakers an der muslimischen Bevölkerung beiträgt und auch die UNO in Mitverantwortung nimmt, so ist er nicht ohne Kontroversen. Der Übersetzer Hasan Nuhanović etwa, auf dessen Bericht die Handlung basiert, löste, unzufrieden mit vielen künstlerischen Entscheidungen Žbanić’, eine öffentliche Debatte zur kreativen Kontrolle über die eigene Biografie aus. „Quo vadis, Aida?“ ist aber genau dann am stärksten, wenn er sich ein Vor- und Weiterdenken Srebrenicas erlaubt: etwa der abgekapselte Rückblick zu einer Neujahrsfeier, einer Misswahl zur „schönsten Frisur Ostbosniens“ und einem hypnotischen Kolo-Tanz, dessen Inszenierung die tragischen Ereignisse vorwegzunehmen scheint. Und wenn am Ende Fragen des interethnischen Zusammenlebens in Gegenwart und Zukunft gestreift werden, so erreicht der Film sein höchstes gesellschaftskritisches Potenzial. Olja Alvir

„Quo vadis, Aida?“ BIH / AU / RO / NL / DE / PL / FR / NOR 2020 ( Regie: Jasmila Žbanić. Mit: Jasna Đuričić, Izudin Bajrović, Boris Isaković u. a., 102 Min., Start: 05.08. )

 

 

Missy Magazine 04/21, Filmrezis, Matthias & Maxime
© PRO-FUN MEDIA

 Matthias & Maxime
Matthias und Maxime, kurz Matt und Max, sind beste Freunde seit Kindheitstagen. Ihre Leben haben sich seither unterschiedlich entwickelt: Matt (Gabriel d’Almeida Freitas) geht mit Freundin, festem Job und toxisch männlichem Umfeld in seiner Anwaltskanzlei konservative Wege. Max (Xavier Dolan), der Care-Arbeit für seine drogenabhängige Mutter leistet und in einer Bar jobbt, wirkt dagegen eher orientierungslos und beschließt, für eine Weile nach Australien zu gehen. In der Woche vor Max’ Abreise trifft sich der gemeinsame Freund*innenkreis zur Abschiedsfeier in einem Ferienhaus. Nach einem eher unfreiwilligen Kuss für ein Kurzfilmprojekt regt sich bei Matt eine Anziehung zu Max, die er schwer mit seiner fragilen Männlichkeit vereinbaren kann. Nicht in der Lage, seine ambivalenten Empfindungen auszudrücken, wird er Max gegenüber aggressiv. Der Regisseur Xavier Dolan spielt selbst die Rolle von Max, dessen Feuermal im Gesicht ebenfalls eine wichtige Rolle hat. Es stellt sich die Frage, ob die Besetzung mit einem Darsteller, der tatsächlich ein Feuermal hat (Dolan wurde es aufgemalt), authentischer gewesen wäre. Trotzdem gelingt Dolan ein Film über Freundschaft, über das Zueinanderstehen und Im-Stich-Lassen, über das Zusammenfließen von Homoerotik und toxischer Männlichkeit. Katrin Börsch

„Matthias & Maxime“ CAN 2019 ( Regie: Xavier Dolan. Mit: Gabriel d’Almeida Freitas, Xavier Dolan, Pier-Luc Funk, Samuel Gauthier u. a., 119 Min., Start: 29.07. )

 

 

Missy Magazine 04/21, Filmrezis, ROAMERS
© Camino / Royal Film Company GmbH

Roamers
In ihrem neuen Dokumentarfilm folgt Lena Leonhardt digitalen Nomad*innen um die Welt: einem Software-Ingenieur, der nun Facebook- Videos dreht; einem Immobilienmakler, der einen Podcast produziert; einer Schweizerin, die mit ihrem Hund den Atlantik überqueren will; einem argentinischen Paar, das Camsex verkauft. Alle sind gleichzeitig Influencer*innen. Alle haben sie privilegierte, aber wenig erfüllende Leben hinter sich gelassen und präsentieren der Filmemacherin ihren neuen Lifestyle. Dabei schwankt die (Selbst-)Darstellung zwischen Verkaufspitch und Offenbarung, Zweifeln und Triumphen. Die ehemaligen Leben der Protagonist*innen werden mit ihrem jetzigen kontrastiert. Neben perfekt inszenierten Postkartenmotiven erscheinen sie darin manchmal als fehlplatzierte Statist*innen: gebeugt über einen Laptop, mit einem Smartphone filmend. Das Geschäftsmodell einer ehemaligen Pflegekraft verzichtet auf Social Media. Die Geschichte der migrantisierten Kenianerin könnte eine andere Perspektive aufzeigen, doch im Film bleibt sie eine Randfigur. Leonhardt zeigt Digital Nomads als Expert*innen der Selbstvermarktung, deren Aussteigen meist keine Abkehr von kapitalistischen Strukturen ist, sondern oftmals deren Überbietung zur Folge hat. Holle Barbara Zoz

„Roamers – Follow Your Likes“ DE 2021 ( Regie: Lena Leonhardt. 97 Min., Start: 22.07.)

 

 

Missy Magazine 04/21, Filmrezis, MITGEFüHL
© Per Fredrik Skiläd

Mitgefühl
Als sie ihre Eltern im idyllisch gelegenen Pflegeheim für Demenzkranke abgeliefert hat, bricht es aus der Tochter heraus: „Ich wollte sie nicht ins Heim geben, wo man sie mit Gift vollpumpt.“ Eine Pflegerin kann sie beruhigen: „Wir verwenden nur Paracetamol. Und Kuchen!“ In Dagmarsminde wird maximal ein Medikament verabreicht, der Durchschnitt in „normalen“ Heimen läge bei zehn. Tatsächlich hat sich die Leiterin May Bjerre Eiby ein besonderes Konzept ausgedacht, nachdem sie als Krankenschwester erlebte, dass in herkömmlichen Heimen die Stimmung mies war und die Bewohner*innen vereinsamten. Statt sie ruhigzustellen, knuddeln die Pfleger*innen die alten Leutchen, machen Ausflüge, kredenzen Sekt, es laufen Katzen, Hunde und Hühner herum. Das kleine dänische Heim will „kein Zuhause für Reiche“ sein, sondern normale Rentner*innen beherbergen. Den Bewohner*innen mangelt es an nichts – wie es den Pfleger*innen geht, die offenbar rund um die Uhr schuften, kann man an knietiefen Augenringen nur erahnen. Die berührende Doku der dänischen Regisseurin und Drehbuchautorin Louise Detlefsen offenbart intime Einblicke und wartet mit Protagonist*innen auf, die einem flugs ans Herz wachsen. Und sie zeigt, wie gut das Leben von Demenzkranken dank Zuwendung funktionieren kann. Barbara Schulz

„Mitgefühl“ DK 2021 ( Regie: Louise Detlefsen. 95 Min., Start: 23.09. )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/21.