Staus und Behinderungen von Marie Minkov

Vom Pride Month beflügelt war ich im Juni zum ersten Mal auf Tinder-Dates. Bereits in der App fällt mir auf, dass viele Personen sich in ihren Kurzbeschreibungen politisch positionieren, sie schreiben z. B.: „Ich bin gegen Rassismus, Sexismus, Homofeindlichkeit etc.“ Was hinter diesem „etc.“ steckt, bleibt unklar, und ich bin mal wieder in der Position, sie vor dem Date vorzuwarnen, dass ich eine Behinderung habe, um mich vor verletzenden Reaktionen vor Ort zu schützen.

Jetzt, im Juli, feiern wir den Disability Pride Month. Auch wenn „feiern“ es bei mir nicht ganz trifft, denn ich bekomme sehr wenig davon mit. Weder mein Instagram-Feed wird von ästhetischen Posts in weißer Schrift mit rosa Hintergrund durchspült, in denen Begriffe der Disability Studies erklärt werden, noch versuchen Firmen, daraus Profit zu schlagen, indem sie wie im Pride Month ihre Logos mit Regenbogenfarben versehen oder Merch verkaufen. Und auch sonst – überhaupt nichts zur Besserung der Situation beisteuern.

Ich erwische mich dabei, mir auch in diesem Monat ein paar kapitalistisch angehauchte, als Aktivismus getarnte Werbeaktionen zu wünschen, so durstig bin ich nach Sichtbarkeit von Disability Pride, und sei es in Form eines geschmacklosen Jutebeutels, bedruckt mit einem Rollstuhl. Dass Ableismus in unserer Gesellschaft – wie in den Tinder-Bios – immer noch oft nicht mehr als ein „etc.“ ist, spüre ich deutlich.

Marie Minkov

Marie Minkov arbeitet als freie Autorin und Illustratorin und studiert Literarisches Schreiben in Hildesheim. In ihren Texten befasst sie sich mit Behinderung, Norm und Scham und untersucht das Inklusionspotential autobiografischer Texte.

Pride war viele Jahre für mich etwas, das andere Menschen feierten, aber nicht ich. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen sind Pride Parades auf den Straßen voll von Barrieren und waren für mich immer etwas Unzugängliches, etwas, das ich höchstens von der Sicherheit eines Fensters aus beobachtet habe. Meine queeren Freund*innen würden später aufgeregt davon erzählen, und ich würde mich vielleicht zugehörig fühlen wollen, es aber nicht können.

Zum anderen konnte ich mit dem Begriff „Pride“ nie etwas anfangen, weil die Scham in meinem Kopf schon immer lauter war als der Stolz – insbesondere bezogen auf Behinderung. Dass vor mir ein Weg der Selbstakzeptanz lag, konnte ich vermuten, doch worauf sollte ich stolz sein? Darauf, eine Behinderung zu haben? Darauf, gut mit einer Behinderung zu leben? Und was heißt das überhaupt, „gut“ mit einer Behinderung zu leben in einem System, das so viel dafür tut, eben genau das zu verhindern?

 

© El Boum

Andere Menschen benutzen das Wort „stolz“ oft, wenn sie mit mir oder über mich reden. Bereits als Achtjährige saß ich in den Behandlungszimmern von Ärzt*innen und hörte still zu, während sie sagten: „Du bist ein tapferes Mädchen, du kannst stolz auf dich sein.“ Und ich dachte: Was habe ich Tolles gemacht, auf das ihr stolz seid? Klar, ich stehe morgens auf, ich ziehe mich an und ich mache die Sachen, die ich mache. Aber was wäre die Alternative?

Wenn uns von außen solche Worte zugeschrieben werden – wir seien inspirierend, tapfer, könnten stolz auf uns sein –, dann hat das immer einen bitteren Beigeschmack. Denn in diesen Worten steckt bereits die Vermutung, unsere Leben seien schrecklich und nur schwer zu bewältigen. Abgesehen davon hört sich so etwas auch immer wie ein schlechter Witz an: „Ich bin stolz auf dich, weil du trotz deiner Behinderung studierst!“ Ja, danke, die ganzen Treppen in der Uni geben mir nicht das Gefühl, willkommen zu sein.

„Wie gut, dass du trotz deiner Behinderung arbeitest!“ Krass, oder? Aber vielleicht sollten wir lieber darüber reden, warum du denkst, dass ich nicht arbeiten kann.

Eben das – die Systemkritik und der strukturelle Ableismus – wird bei solchen Aussagen nur selten beachtet. Stattdessen geht es meistens darum, dass mein Körper, und das Leben in meinem Körper allein schon eine große Schwierigkeit darstelle. Nicht die Barriere wird bemängelt, sondern der Körper, der mit der Barriere konfrontiert wird.

Den Disability Pride Month gibt es in dieser Form erst seit 2015. In Anlehnung an den Queer Pride Month soll er Menschen mit Behinderung sichtbar machen und empowern, als Community stärken und Scham bekämpfen. So far so good. Aber Stolz?

Meine Antwort heute: ja und nein.

Ich bin stolz auf mich und meine Community, aber nicht so, wie man es aus den Dokumentationen über behinderte Menschen auf RTL kennt. Es kommt keine rührende Klaviermusik im Hintergrund, nur weil ich es schaffe, aus dem Bett zu steigen. Ich bin nicht stolz, weil ich einkaufe oder an den See fahre oder date oder studiere.

Ich bin stolz, weil ich mir mühselig die Scham abtrainiere, die mir von allen Seiten angehaftet wird. Ich bin stolz, weil ich darüber rede, weil ich diese Texte schreibe, weil ich gestern in einem Kleid vor der Tür war und meine Beine gezeigt habe. Und ich bin stolz auf die Community, weil sie, obwohl kaum jemand zuhört und sich in rechtlichen Belangen nur sehr mühselig etwas ändert, weiterkämpft.

Deshalb feiere ich den Disability Pride Month, wenn auch nicht so bunt, nicht so laut und oft allein, für mich selbst.