Missy 04/21 - Literaturrezis

Und jetzt bin ich hier
Wie weh Erwachsenwerden tut, schildert Jessica Andrews derart innig, blutig und sinnlich,
dass es erschüttert. „Im Rosa sind wir sicher“, beginnt der Roman – in der Gebärmutter; beginnt mit der Geburt der Erzählerin und dem Sterben des Großvaters. Es ist eine Familiengeschichte mit Zigaretten, Fisch, Alkohol und Lippenstift, einem verlorenen Vater, einer Kindheit in den 1990er-Jahren, Postern von David und Angie Bowie, Hamsterherzen und Punk, einem gehörlosen Bruder. Es ist eine Suche nach Worten, Sprache, Ausdruck und nach dem Selbst. Aber vor allem ist es eine Hommage an die Mutter: melancholisch, froh, liebend und ehrlich. „Und jetzt bin ich hier“ handelt von Scham über die Herkunft und Schwindel vor lauter Wollen, von Brüchen, Sehnsüchten, Scherben, von Dekonstruktion und Neuaufbau des Ich. Andrews strukturiert ihre Erzählung geschickt in Fragmente, schillernd wie Pailletten, die im Disco-Outfit ein Ganzes ergeben. Der englische Originaltitel ist „Saltwater“, und Schwimmen ist eine Metapher. Andrews erzählt ihr Coming-of-Age so körperlich, eindringlich, verletzlich, poetisch, brutal und tröstlich, wie man es kaum je gelesen hat. Daniela Chmelik

Jessica Andrews „Und jetzt bin ich hier“ ( Aus dem Englischen von Anke Burger. Hoffmann und Campe, 336 S., 23 Euro )

 

 

Missy 04/21 - Literaturrezis

Das Unwohlsein der modernen Mutter
Mütter sollen alles gleichzeitig sein: sich um das Kind sorgend, berufstätig, sexy, gesund und niemals klagend. Dass es ihnen bei dieser Vielzahl an Erwartungen nicht immer gut geht, hat Mareice Kaiser bereits 2018 in ihrem gleichnamigen Essay auf ze.tt gezeigt. Nun beleuchtet sie genauer, welche Auswirkungen die Ansprüche auf Mütter haben, und analysiert, wie es um die Arbeit, die Psyche, den Sex, das Geld, den Körper, die Liebe und die Kunst von Müttern steht. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass das Wohlbefinden von Müttern enorm unter der Vielzahl von Ansprüchen und Bewertungen leidet und dass das, was heute als Selbstverwirklichung gilt, oft nicht mehr ist als die Folgen von Kapitalismus – und freie Entscheidungen so nahezu unmöglich sind. Mareice Kaisers Buch bewegt sich stilistisch zwischen Sachbuch, Interview und journalistischem Text und ist daher besonders gut zugänglich – auch für alle Nicht-Eltern. Große Stärke des Werks ist zudem, dass nicht nur biologische Mütter in den Blick genommen werden, sondern ganz unterschiedliche Familienkonstellationen, Kinder und Bedürfnisse ihren Platz bekommen. Lisa-Marie Davies

Mareice Kaiser „Das Unwohlsein der modernen Mutter“ ( Rowohlt, 256 S.,16 Euro )

 

 

 

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Wir Gotteskinder
Die ghanaische Filmemacherin und Kunsthistorikerin Nana Oforiatta Ayim wuchs wie die Ich-Erzählerin ihres Romandebüts zunächst in den 1980er-Jahren in Deutschland und dann in England auf. Sie ist die Enkelin des Königs der Region Akyem Abuakwa in Ghana, teilt auch die herrschaftliche Herkunft mit ihrer Figur Maya, die, wenn sie davon erzählt, ausgelacht wird – sind sie und ihre Familie doch in den Augen der meisten „Wirtschaftsflüchtlinge“. Von Mayas Mutter, Königstochter und strahlender Mittelpunkt aller Begegnungen, und vom stillen Vater, einem Arzt, erzählt die Autorin in lebendigen Szenen. Sie berichtet vom Zwischen- den-Welten-Stehen und davon, wie Mayas Cousin Kojo ihr die Augen für die Kultur und Geschichte Ghanas öffnet und so eine Verbindung zwischen den Welten schafft. Oforiatta Ayim proklamiert auf literarische Weise die Gleichwertigkeit afrikanischer Kunst und Kultur, führt die europäische Arroganz ironisch-bissig vor. Sie nimmt die Leser*innen aber auch mit nach Ghana, so dass sich auch ihnen neue Sichtweisen eröffnen. Etwa das Erzählen mit Trommeln, bei dem die Geschichten „neu geboren werden“. Politisch-historische Hintergründe bleiben fragmentarisch – das entspricht dem Erzählen der Trommeln, das die Autorin somit in ihre Form aufnimmt. So weckt sie die schöne Neugier, mehr zu erfahren. Carola Ebeling

Nana Oforiatta Ayim „Wir Gotteskinder“ ( Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Penguin, 272 S., 22 Euro )

 

 

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Haare
Was hat der Bubikopf mit Emanzipation zu tun? Warum ist der Afro politisch? Können auch Frauen Bärte haben?
Diesen und vielen anderen Fragen rund um das Thema Haare geht Katja Spitzer (sie hat zuletzt die Vorlesegeschichten in Saša Stanišićs Kinderbuchdebüt „Hey, hey, hey, Taxi“ grandios und knallbunt bebildert) in ihrem gleichnamigen Kindersachbuch auf den Grund. Auf einer Doppelseite widmet sie sich mit jeweils einer leuchtfarbenen, coolen Illustration und einem kurzen Sachtext, der wissenswerte, spannende und skurrile Infos bereithält, einem haarigen Thema: Es geht z. B. um „prachtvolle Turmfrisuren“, „Haare im alten Ägypten“ „magische rote Haare“ oder „Schnurrhaare und Hundefrisuren“. Es gibt Geschichten über lange, kurze, rote und braune Haare, Perücken, Hijabs, Glatzen, Punkfrisuren, Zöpfe, Locken und Man Buns zu lesen – und ebenjene auch in all ihrer Vielfalt zu betrachten. Schnieke: Auf der letzten Seite werden die Leser*innen eingeladen, ihre eigene Lieblingsfrisur zu zeichnen. Das Einzige, was inhaltlich fehlt, ist ein kleiner Exkurs zu doofen Namen von Friseur*innenläden. Dennoch: „Haare. Geschichten über Frisuren“ ist eine hairliche, unterhaarltsame Kulturgeschichte des Kopfschmucks. Carla Heher

Katja Spitzer „Haare. Geschichten über Frisuren“ ( Ab 7 Jahren. Prestel, 40 S.,
16 Euro)

 

 

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Die jüngste Tochter
Fatima Daas: Der Name ist ein Pseudonym und die junge Autorin scheint genau zu wissen, welche Macht im Nennen und Benanntwerden liegt. Auch die Protagonistin ihres in Frankreich gefeierten Debütromans heißt so, auch sie ist Tochter algerischer Einwanderer*innen, auch sie ist gläubige Muslima, auch sie queer. Diese Fatima erzählt in „Die jüngste Tochter“ aus ihrer Kindheit und Jugend in einem Pariser Vorort, von ihrem Erwachsenendasein in einer lesbischen Community, von der Auseinandersetzung mit ihrem Glauben. Dabei beginnt jeder längere Abschnitt des Romans mit „Ich heiße Fatima“. Der Name, den ihr natürlich andere gegeben haben, wird dabei zum Prüfstein für all die komplexen Positionierungen, Umstände und Erfahrungen, die Fatimas Identität ausmachen. Fatima steht für all das – und mehr. Fatima Daas, die Autorin, nutzt ganz bewusst die Vieldeutigkeit und Unbestimmbarkeit des Ichs in der Literatur und macht dabei etwas sehr Kluges mit dem Genre der Autofiktion.
Gleichzeitig macht der Roman auch formal deutlich, wie ein intersektionales Verständnis von Identität gelebt werden kann: Vor allem
auch in den Widersprüchen, die jede Person in sich trägt. Daas gelingt die literarische Übertragung dieser Erkenntnis in eine beeindruckend klare und dennoch poetische Sprache – direkt, aber nicht unverblümt. Dominique Haensell

Fatima Daas „Die jüngste Tochter“( Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Claassen, 192 S., 20 Euro )

 

 

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Die Unsterblichen
Als die US-amerikanische Lyrikerin und Essayistin Anne Boyer 2014, kurz nach ihrem 41. Geburtstag, die Diagnose einer besonders aggressiven Form von Brustkrebs erhält, ist das der Beginn einer absolut entfremdenden Erfahrung.
Sie will davon erzählen –
aber keinesfalls ein weiteres
Zeugnis individuellen Leidens, Kämpfens und Überlebens ablegen. Diese in ihren
Augen ideologische „Brustkrebserzählung“ schreibe
die Verantwortung den Betroffenen zu, „ganz im Sinne des neoliberalen Selbstmanagements“. In ihrem 2020 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Buch geht es Boyer um den gesellschaftlichen Kontext der Krankheit, so benennt sie etwa misogyne, rassistische Strukturen in der Medizingeschichte und -praxis, kritisiert das profitorientierte Gesundheitssystem der USA und die „rosa Landschaft des Brustkrebsbewusstseins“. Von sehr persönlichen Szenen ausgehend öffnet sich der Text für die vielen Facetten der Krankheit und ihres Erlebens, setzt der Vereinzelung ein „Wir“ entgegen. (Susan Sontag, Audre Lorde, Kathy Acker sind einige der aufgerufenen Gewährsfrauen.) Dezidiert auch mit literarischen Mitteln, der Verdichtung der Sprache bis hin zu einem manifestartigen Prosagedicht. „Die Unsterblichen“ ist ein literarisches Memoir, ein kluger, manchmal poetischer Essay, getragen von Wut und Empathie. Carola Ebeling

Anne Boyer „Die Unsterblichen. Krankheit, Körper, Kapitalismus“( Aus dem Englischen von Daniela Seel. Matthes & Seitz, 279 S., 25 Euro )

 

 

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Die große Familie
Es hat alles so wunderbar angefangen: Camille und ihre Mutter sind im Paris der 1970er- und 1980er-Jahre eine Einheit. Evelyne, wie ihre kleine Camillou sie nennen soll, ist eine der ersten Professorinnen für Öffentliches Recht an der Sorbonne, Exgeliebte von Fidel Castro, militante Feministin und glühender Fixstern im Universum ihrer Tochter. Sie interessiert sich für alles aus dem Leben Camilles und will ihr nie Vorschriften machen, nur Selbstvertrauen für kluge Entscheidungen vermitteln. Die französische Linke ist im Freudentaumel, als mit François Mitterand 1981 der erste sozialistische Präsident der Fünften Republik gewählt wird. Doch wenig später liegt für Camille die Welt in Trümmern, während die Mutter weiter mit ihren einflussreichen Freund*innen aus der Gauche caviar feiert. Denn Kouchner, die mit ihrem Debüt eine auf wahren Tatsachen beruhende Autofiktion geschrieben hat, findet als Teenager heraus, dass der zweite Ehemann ihrer Mutter, der Jurist und Politiker Olivier Duhamel, ihren Zwillingsbruder sexuell missbraucht. Die Mutter weigert sich, sich von Duhamel zu distanzieren, und auch Kouchners leiblicher Vater, der berühmte Arzt und spätere Außenminister Bernard Kouchner, ist keine Hilfe. Mit großer sprachlicher Präzision beschreibt die Rechtsanwältin, wie sich familiäre Wärme in Eiseskälte verwandelt. War die
Atmosphäre der kommunenartigen Sommerferien im Côte-d’Azur-Feriensitz
Duhamels in Sanary tatsächlich so paradiesisch – oder war sie eher geprägt von ständigen Grenzübertretungen privilegierter Erwachsener? Kouchner gelingt es mit ihrem Buch, die Arroganz einer macht-besoffenen Linken, die schon lange nicht mehr links war, zu kritisieren, ohne 68er-Bashing zu betreiben. Und sich von ihrer 2017 an Krebs verstorbenen, einst so idealistischen Mutter trotz allem auf berührende Weise zu verabschieden. Sonja Eismann

Camille Kouchner „Die große Familie“( Aus dem Französischen von Hanna van Laak, Blessing, 192 S., 20 Euro )

 

 

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Was wir haben
Besitz besitzt. Und zwar den Menschen, der ihn hat. Davon wusste schon Friedrich Nietzsche zu erzählen. Und US-Autorin Eula Biss beleuchtet in ihrem episodischen Essay „Was wir haben“ diese These nun ganz aktuell auch aus gesellschaftlichen, historischen und sehr persönlichen Winkeln. Sie legt die Mechanismen eines Systems frei, in dem viel niemals genug ist – man immer mehr haben will, als man hat. So verwundert es nicht, dass der „Kapitalismus den Menschen dazu bringt,Beziehungen zu Dingen statt zu anderen Menschen zu haben“, wie auch Eula Biss den
alten Marx in ihrem Werk zitiert. Und man fühlt sich bei der Lektüre ertappt, weil einer*m die Autorin den Spiegel vorhält. Schließlich ist man ja versucht, Kapitalismus per se schlecht zu finden. Aber man merkt dann doch, dass es nicht so übel ist, im Leben die Wahl zu haben – ermöglicht durch Besitz. Und wenn es nur um die Frage geht, ob man zur billigen oder teuren Wandfarbe im Baumarkt greift, so ein Beispiel im Buch. „Having And Being Had“ – also „Haben und gehabt werden“ – so lautet der konsequente englische Originaltitel des Buches von Eula Biss. Wie recht sie hat. Diese großartige Autorin, die so lässig und humorvoll, dann wieder sachlich und nüchtern über dieses komplexe Thema schreibt. Fazit: Der Besitz wird zum Herrn, der Besitzer zum Sklaven. Das wird klar. Nietzsche hatte recht. Antje Raupach

Eula Biss „Was wir haben – Über Besitz, Kapitalismus und den Wert der Dinge“( Aus dem Englischen von Stephanie Singh. Hanser, 320 S., 24 Euro )

 

 

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Das Land der Anderen
Mathilde ist Elsässerin, Amine Marokkaner. Die beiden lernen sich kennen, als er als Offizier der französischen Armee in ihr Dorf kommt und die Wehrmacht vertreibt. Direkt nach dem Krieg ziehen sie nach Marokko. Dort wird Amine von vielen wegen seiner eigensinnigen Frau und seines Militärdiensts für die Kolonialmacht verachtet. Manchmal trumpft er als traditionelles Familienoberhaupt auf, schlägt seine Schwester und auch Mathilde. Die kämpft um ihre Freiheit in der Ehe, sieht aber gleichzeitig ihre Privilegien als weiße Französin und den Rassismus gegenüber ihrem Mann. Die Tochter der beiden wird in der Schule gemobbt, beim beginnenden Befreiungskampf Marokkos sitzt die Familie zwischen allen Stühlen. Slimani wuchs in Marokko auf, lebt als Schriftstellerin in Paris. Ihr größter Erfolg „Dann schlaf auch du“ schildert eine Nanny, die die ihr anvertrauten Kinder tötet – und zwar so, dass diese Tat verstehbar wird. Auch ihr neuer Roman widmet sich einer von Hierarchien durchzogenen Situation, ohne einfache Antworten zu geben. Vorbild ist, so Slimani, das Leben ihrer Großeltern. Das Buch ist der erste Band einer Trilogie, die bis in die Gegenwart reichen soll. Slimani widmet es ihrer Mutter, ihm sind außerdem zwei Zitate vorangestellt: eines stammt vom karibischen Dichter und Theoretiker Édouard Glissant, das andere vom Südstaatenautor William Faulkner, in ihm taucht das N-Wort auf. Das irritiert und ist diskussionswürdig, wie auch die Verwendung des Z-Wortes oder des Begriffs „Päderast“ für Homosexuelle weiter hinten im Roman. Aber es passt in einen literarischen Text, der vom kolonialen Alltag im Marokko der 1940er-Jahre, einschließlich dessen verbaler Gewalt, erzählt. Sabine Rohlf

Leïla Slimani „Das Land der Anderen“ ( Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand, 379 S., 22 Euro )

 

 

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Daheim
Sommer vor fast dreißig Jahren in einer Einraumwohnung im Neubaugebiet einer Stadt. Die Protagonistin sitzt auf ihrem Balkon und raucht Zigaretten, die sie aus der Fabrik, in der sie arbeitet, gestohlen hat. Sie beobachtet die Tankstelle gegenüber und träumt von einem anderen Leben. Judith Hermann ist Meisterin der Atmosphäre, schafft filmreife Bilder. „Heute“ ist unsere Romanheldin 47, wohnt allein in einem Haus an der Küste, arbeitet in der Kneipe ihres Bruders. Von „Daheim“
kann aber nicht die Rede sein: Sie ist entwurzelt, weiß nicht, wie lange sie bleiben oder wohin sie als Nächstes gehen wird. Eine Geschichte über Natur, Leiden und Lieben. In Anlehnung an Walter Benjamins „Eingedenken“ ist die Vergangenheit nicht abgeschlossen, sondern lebt in der Gegenwart weiter. Ein Trauma hört nicht einfach auf zu existieren, sondern manifestiert sich im Hier und Jetzt. Zeitsprünge, Selbsttäuschung und Verdrängen verschmelzen zu einem Kaleidoskop von Erinnerungen. Klingt mysteriös? Ist es auch. Die Romanheldin ist namenlos, denn sie repräsentiert die Realität unzähliger Frauen. Was am Ende bleibt, ist ein offener Mund, aber auch ein klein wenig Hoffnung auf das so lang ersehnte bessere Leben. Und die Frage: Wie wahr sind unsere Erinnerungen? Ein lesenswerter Roman voller Symbolik und Tiefe. Carina Scherer

Judith Hermann „Daheim“( S. Fischer, 192 S., 21 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/21.