Missy 04/21 - Musikrezis

Lucy Dacus
„Home Video“
( Matador Records )

Im Dreiergestirn der Supergroup Boygenius nimmt Lucy Dacus die zugänglichste Rolle ein. Dafür sorgt die unverwechselbare Symbiose aus ihrer starken Affinität zu melodischem Folk und der kaminwarmen Stimmfarbe. Eine Dacus-Platte vermittelt so vor allem ein Gefühl von Zuhause. Fast schon plakativ also, dass die Künstlerin ihre dritte Soloplatte nun „Home Video“ tauft. Gleichzeitig rahmt dieser Titel auch die inhaltliche Reise, die autobiografisch die Retrospektive auf Dacus’ Coming-of-Age-Jahre in ihrer Heimatstadt Richmond aufgreift. Wer die triefende Melancholie ihres Songwritings schätzt, ahnt bereits: Hier ist mehr Herzschmerz denn Ekstase angesagt. Zwischen überraschend kantigen Riffs („VBS“), eingängigem Mid-Tempo („Brando“) und malerischem Folk („Going Going Gone“) umkreisen die Lyrics mal blutige Rache an furchtbaren Vaterfiguren, mal queeres Begehren in einer Heterowelt und immer wieder (Teenage-)Angst. Um die dichte Storytelling-Erfahrung noch zu intensivieren, brechen die Songs nach hinten immer wieder auf, bleiben dabei aber beim klassischen Songwriting-Repertoire. Ausnahme: Wenn sich im Hit „Partner In Crime“ plötzlich Autotune dazugesellt. Ein unerwarteter Volltreffer! Boygenius-Fans haben außerdem Grund zur Freude: Auf zwei Songs mischen Phoebe Bridgers und Julien Baker im Background mit. Großartig! Julia Köhler

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Hysterese
„Hysterese“
( This Charming Man Records )

Hysterese, Hysterese, Hysterese und nun noch mal: Hysterese – so heißen die vier Alben von, nun ja, Hysterese. Man könnte den vier Tübinger*innen jetzt vorwerfen, in den letzten zehn Jahren nicht sonderlich kreativ gewesen zu sein. Das wäre aber schlicht falsch. Unprätentiös trifft es eher, jedenfalls, was die Namensgebung ihrer LPs angeht. Ansonsten dürfte der Anspruch über die letzten Veröffentlichungen hinweg eher noch gestiegen sein. Ja, das ist immer noch Punk, aber er hat sich ein wenig Richtung größere Bühne geöffnet. Es geht inzwischen weniger angsty, weniger
getrieben, aber immer
noch düster zu. Die
Songs breiten sich aus,
nehmen sich Zeit. Hier
wird nicht mehr rotzig
vor den Latz geknallt,
sondern ausgehandelt:
„True love is compromise.“ Wenn es für Punks nicht die ultimative Beleidigung wäre, müsste man sagen: Die sind erwachsen geworden. Bei den ganzen Aushandlungen hat sich einiges verschoben. Der charakteristische Wechselgesang etwa tritt eher in den Hintergrund. Hin und wieder erahnt man die dreckigen Kanons und das Spiel mit den Ebenen noch, ansonsten hat sich der gesangliche Fokus aber noch mal deutlicher bei Gitarristin Helen eingepegelt – aber ihr zuzuhören war ohnehin immer schon ein Genuss! Anna Seidel

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Loraine James
„Reflection“
( Hyperdub )

Loraine James’ hochgelobtes Hyperdub-Debüt „For You And I“ sollte ihr Ende 2019 zum internationalen Durchbruch verhelfen. Statt einer erfolgreichen Tour hagelte es pandemiebedingte Festivalabsagen. Aus der Not machte James eine Tugend und veröffentlichte letztes Jahr gleich zwei EPs. Mit „Reflection“ legt sie nun ihr drittes Album vor, das mit den Kontrasten ihres Soundspektrums spielt und diese geschickt vereint. Das Album eröffnet sie mit leichtfüßigen Ambient-Tönen, um im nächsten Moment die soulige Stimme von Xzavier Stone mit Autotune von tiefen in überhöhte Klanghöhen zu verzerren, ohne dabei den sanften Popcharakter zu verlieren. Doch bereits der zweite Track „Let’s Go“ bricht mit der Idee eines Popalbums und leitet in ihre gewohnt schroffe, fragmentarische Produktion über. Eine dissonante Synthesizer-Melodie wird ohne Gesang von aggressiven Drums begleitet, die zwischen treibenden, abrupten Schlägen rotieren. „Reflection“ ist im hybriden London zu Hause: Loraine James verarbeitet UK-Drill-Beats in „Black Thing“, murmelt gewollt spröde über eine verzerrte UK-Garage-Melodie in „Simple Stuff“, verbindet den geschmeidigen Gesang von Eden Samara mit einem zerhackten Footwork-Rhythmus in „Running Like That“, und Rapper Iceboy Violet zitiert Londons Grime-Star Stormzy in „We’re Building Something New“.James schafft es auf all ihren Alben, UK-Pop und experimentelle Musik mit persönlichen, witzigen und politischen Texten in ein Spannungsverhältnis zu setzen. Das ist zeitlos und das ist zeitgenössisch und damit wahrscheinlich eine der wegweisenden Veröffentlichungen 2021. Nadine Schildhauer

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Red Ribbon
„Planet X“
( Danger Collective )

Mit „Planet X“ debütiert das Projekt Red Ribbon der Singer-Songwriterin Emma Danner. Die Wahlkalifornierin klingt bereits im zweiten Song nicht nur wie von einem anderen Planeten, sondern wie aus einer ganz anderen Ära. Kaum klimpert das Klavier des Openers „Weight Of Man“ aus, wird Emmas verträumte Stimme („If I gave you my last cigarette/would you be my friend?“) unterlegt mit einer schweren Rockgangart. Vom Monstrum „Way“ wechselt es aber wieder ins ruhige „High“. Und dieses Spiel mit den Multiinstrumentalist*innen ihrer Band und verschiedensten Genres ist, was „Planet X“ zu einem solchen Hörgenuss macht. Textlich geht es um Liebe, Vergnügen, Drama und Klimawandel. So wartet „Human Copy“ gar mit einem fast countrymäßigen Duett mit Danner selbst auf, das sich nach „Mad Max: Fury Road“ anfühlt. Von dieser Energie der Wüstenfahrt (neben Brooklyn und Seattle wurde auch im texanischen Tornillo aufgenommen) lässt man sich gerne anstecken. „Planet X“ kann aber genauso gut hypnotisch, gar spiritistisch sein, wie auf „Hold“. Danner sieht jedes ihrer Songexperimente als einmalige Performance. „Und so kann ich auch meine Traumata verstehen“, erklärt sie. Die Musik hilft ihr, diese zu verarbeiten und einen Sinn im Leben zu finden – das soll auch ihre Zuhörer*innenschaft. Simone Bauer

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Charlotte Day Wilson
„Alpha“
( Stone Woman Music )


Ihre Stimme mutet an, als hätte Charlotte Day Wilson mehr erlebt, als man mit ihren 28 Jahren erlebt haben kann. Mit anderen Worten: Sie klingt erfahren und selbstsicher und trifft so den richtigen Ton für ein Werk wie „Alpha“, das sich mit Kampf, Wachstum und Zerbrechen beschäftigt.
Gleichzeitig gelingt der kanadischen Musikerin der Wechsel in die Kopfstimme so mühelos, dass er einer*m beim ersten Hören nicht aufzufallen vermag. Auch inhaltlich ist das Album rund, weil persönlich. Die Lyrics sprechen häufig ein lyrisches Du an, die Titel verweisen auf den Wunsch nach Veränderung. Obwohl „Alpha“ Charlotte Day Wilsons Debütalbum ist, kann man sie kaum als Newcomerin verstehen. Dem Werk gingen nicht nur zwei gefeierte EPs voraus, einige ihrer Songs sind aus Serien und Werbung bekannt, sie selbst war in den Late-Night-Shows von James Corden und Stephen Colbert zu Gast. Zu guter Letzt huldigte niemand geringeres als Rap-Legende Drake, der ebenfalls aus Toronto stammt, der Musik der Sängerin, indem er den „Alpha“-Song „Mountains“ kürzlich in einem seiner Videos sampelte. Wilson ist keine Beginnerin. Sie ist Alpha! Laura Patz

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Torres
„Thirstier“
( Merge Records, VÖ: 30.07. )

Pandemiebedingter Angst und Langeweile etwas entgegensetzen: Das will Mackenzie Scott alias Torres mit ihrem fünften Album. Und ziemlich sicher wird man in diesem Jahr kaum eine auf- und empowerndere Platte hören als „Thirstier“, die
nur anderthalb Jahre nach „Silver Tongue“ erscheint und kein einziges schwaches Stück offensichtlich: Der Sound ist überschwänglich, bombastisch, mit überbordenden Emotionen, die absolut und unmittelbar rüberkommen – Musik als Rettung aus Dunkelheit und Einsamkeit. Songs wie „Hug From A Dinosaur“ oder „Are You Sleepwalking?“ sind wie gemacht für Festival-Stagediving, mit aufgedrehtem Gitarrenverzerrer und mitreißenden Refrains, während „Kiss The Corners“ auf elektronischen Dancebeats und Synthieflächen aufgebaut ist. „Don’t Go Puttin’ Wishes in my Head“ erinnert an große Rockhymnen von Starship oder Journey, „Constant Tomorrowland“ spielt mit hippieeskem Sixties-Folk, „Drive Me“ klingt offensiv und provokant. Die Lyrics drehen sich ausschließlich um Liebe und sind ebenso intensiv und kontrastreich wie die Musik: „Big Leap“ z. B. handelt vom Unfall einer geliebten Person, im Titelsong thematisiert Torres queeres Verlangen („The more of you I drink / the thirstier I get“). Scott wagt viel mit diesem Album – und rettet uns alle mit ihrem unbändigen Lebenshunger. Christina Mohr

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Zoee
„Flaw Flower“
( Illegal Data )

Zu viele Treppenstufen im Badezimmer und rotierende Mikrowellen sind für Zoee der Weg zu sich selbst. Die Londoner Musikerin singt auf ihrer Single „Microwave“ eigentlich von bedrückender Häuslichkeit und schwierigen Familienverhältnissen – und landet letztendlich bei der eigenen Verletzlichkeit. Sie flüchtet sich in ihre Gedanken und enthüllt die Agründe ihres Seelenlebens gleichzeitig ganz großzügig vor ihrem Publikum. Ungeahnter Tiefgang dürfte genau das sein, was Zoee aka Harriet Zoe Pittard ausmacht. Die Musikerin baut blubbernd-zuckersüßen Synthiesound, verträumte Streicher und flockigen Rhythmus zu komplexem Avantgarde-Pop, in dem das „Ping“ einer Mikrowelle oder die Gabel am Rand eines Glases so überraschend gut zur Komposition gehören wie das jazzige Xylophon. Mit heller und zierlicher Stimme, mal vorgetragen in straightem Sprechgesang, mal als hypnotisierende Choräle eingesetzt, führt Zoee sich und uns durch teils ehrliche, teils undurchdringliche Lyrics. Letztere sind Collagen aus Notizen eigener Telefonate, gepaart
mit Gedankensträngen,
deren kreativer Input
seinen Ursprung in der
Literatur hat: Sylvia
Plaths Gedicht „A Winter Ship“ oder Maggie
Nelsons Roman „Bluets“ sind im Dickicht von Zoees Kompositionen zu finden. Mit ihrem Debüt „Flaw Flower“ hat Zoee ein persönliches und spannendes Stück Musik geschaffen, das an eine ganz frühe Madonna oder eine noch entrücktere Kate Bush erinnert, verbunden zu musikalischem Surrealismus, der den Makel sucht, findet und feiert. Silvia Silko

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Pan Daijing
„Jade“
(PAN)

Pan Daijings surreale Musiktraumwelt, unterlegt mit Klängen aus der Umwelt, bringt große Ausstellungsräume im Gropius Bau in Berlin oder in der Tate Modern in London zum Vibrieren. Doch selbst im heimischen Wohnzimmer rufen die eindringlichen elektronischen Klänge augenblicklich Bilder hervor. Sie passen aber nicht in ein Fotoalbum, sondern fühlen sich allumfassend an. Die chinesische Performancekünstlerin, die durch das Noise-Album „Lack“ (2017) sehr viel Bekanntheit erlangt hat, präsentiert auch auf ihrem neuesten Werk „Jade“ aufregende und zugleich dunkle musikalische Zustände, weniger kausale Erzählungen. Kein Zustand hält jedoch ewig. Die metallischen und auffordernden Echos von „Ran“ klingen wie direkt aus „Mad Max: Fury Road“, doch wenn diese in unangenehme Höhen schnellen, wandelt sich vor dem inneren Auge die Straße zu einem Labor. Noch extremer wird es auf „Let“, wenn sie uns mit wohligen Regentropfen und weichem Sprechgesang an ihrem Strand begrüßt, der wenig später zu einem engen Gefängnis wird. Tropische Klänge werden dabei von unheimlichen Möwenschreien umspielt.
Die 29-jährige Wahlberlinerin schafft auf
den neuen neun Songs
eine bemerkenswerte
Bandbreite von beinah
lieblicher Melancholie
(„Dust“) bis sofortigen Gänsehautmomenten („Metal“), die den Körper kaum verlassen wollen. Yuki Schubert

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Mykki Blanco
„Broken Hearts & Beauty Sleep“
( Transgressive Records )

Fast ein Jahrzehnt begleitet Mykki Blanco nun schon das Rap-Game und beweist, dass es nach wie vor Protagonist*innen im Genre gibt, die Konventionen brechen und die Grenzen des Hip Hop weiten. So auch auf der Mini-LP „Broken Hearts & Beauty Sleep“. Auffällig ist der häufige Einsatz von cleanem Gesang und Chören, der Blancos Rap begleitet und auch dann und wann von Blanco kommt. Zwar tauchen die heute omnipräsenten Trap-Elemente auf, sie stehen allerdings nicht im Vordergrund. Blanco wagt sich mit dem Album musikalisch weit heraus, es dominieren Midtempo-Nummern und überall lugt Eighties-Pop hervor, wie im Track „It’s Not My Choice“, mit Feature von Devonté Hynes aka Blood Orange, das stilistisch an das Werk des Sängers erinnert. Das Album hat viele Gäst*innen, u. a. auch Kari Faux und Big Freedia, die im letzten Track „That’s Folks“ einen nach vorne gehenden, aggresiven Verse beisteuert (auch wenn man sich einen Bounce-Track
gewünscht hätte). Es dominieren Elektrobeats,
das Album gestaltet sich
jedoch instrumentell
sehr variantenreich. Banger wie einst „Wish You Would“ mit Princess Nokia finden sich ebenfalls wie „Summer Fling“, das diesen Sommer zum Soundtrack queerer Hook-ups werden könnte, oder „F*ck Your Choices“, welches sehr experimentell und forsch mit Breakbeats im Refrain daherkommt. Renée Grothkopf

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Laura Mvula
„Pink Noise“
( Warner )

Laura Mvulas drittes Album „Pink Noise“ passt perfekt zur sommerlichen Aufbruchsstimmung. Teils sphärisch, teils treibend, mal mit härteren Beats, mal mit kitschigen Melodien – Laura Mvulas volle Stimme kann beides. Nach den souligen und jazzigen Alben „Sing To The Moon“ (2013) und „The Dreaming Room“ (2016), für die die Sängerin aus Birmingham (UK) mit zahlreichen Preisen wie etwa dem Jazz FM Award ausgezeichnet wurde, experimentiert die 35-Jährige in „Pink Noise“ vermehrt mit Eighties-Beats, Synthie und Discosounds. Ihre Texte sind gefühlsbetont und ehrlich, aber auch politisch und emanzipativ − die Stimme nahbar und vertraut. Sie hört sich an, als gehöre sie zur Familie, egal von wem. Es ist ein Appell gegen Allüren und Arroganz. In ihren Worten: „Another blow to the ego / a victim of conditional love“. Zuhörenden ist nie ganz klar, ob Laura Mvula als starke Retterin herbeieilt – oder selbst gerettet werden muss. Gospel-Prägung und Jazzeinflüsse wechseln sich ab mit klassischem Radiopop. Charakteristisch ist ihr Stimmspiel zwischen starken, lang gezogenen Melodiepassagen und abgehackten Akzenten. Wie ein Wechsel zwischen der harten äußeren Realität und zerbrechlicher innerlicher Emotion. Laura Helene May

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

Pom Pom Squad
„Death Of A Cheerleader“
( City Slang )

Pom Pom Squads Debüt erinnert an einen verträumten und etwas schrägen Coming-of- Age-Film. Mastermind der Band, Mia Berrin, stellt dabei das festgefahrene System von Coolness infrage und bewegt sich gekonnt zwischen Romantisierung und Aufbrechen von US-amerikanischen Klischees der Adoleszenz. Wo vormals Cheerleader und Quarterbacks die coolen Kids der Highschool waren, nehmen sich Pom Pom Squad – im besten Sinne ihres Namens – den Raum und besetzen ihn für alle Außenseiter*innen neu. All jene vermeintlich wesentlichen Erfahrungen der Jugend inszeniert Berrin in der Visualisierung und Vertonung dieses Albums mit einer Zielstrebigkeit neu, die fasziniert. Heraus kommt eine glamouröse und düstere Hommage. Auf „Death Of A Cheerleader“ verhandelt sie so Themen wie Herzschmerz, das Entdecken der eigenen queeren Identität und auch die großen Ungerechtigkeiten dieser Welt. Dies geschieht mal in verträumten Popsequenzen wie in „This Couldn’t Happen“ und „Be Good“ und mal in grungiger Garage- Rock-Manier wie etwa
in „Head Cheerleader“
und „Lux“. Alles in allem dürfen wir uns so
über ein facettenreiches und kurzweiliges
Debüt freuen, das Genregrenzen überwinden möchte. „Death Of A Cheerleader“ ist der perfekte Soundtrack dafür, die ganz persönliche Coolness zu feiern. Nicole Dannheisig

 

 

Missy 04/21 - Musikrezis

LoneLady
„Former Things“
( Warp Records )

Als Julie Campbell, die seit gut zwanzig Jahren als LoneLady unterwegs ist, vor fünf Jahren eine Residency in den Somerset House Studios in London antrat, ließ sie ihre Heimatstadt Manchester, ihr altes Leben und die letzten Reste eines Rockinstrumentariums zurück, das ihr immer weniger geeignet erschien für den Sound, den sie kreieren wollte. Stattdessen richtete sie sich in einem langen, schmalen Betonraum mit einem Set-up ein, das auf andere Weise oldschool ist: ein Analog-Sequencer von Doepfer, analoge Synthesizer wie den ARP Odyssey und einen Korg MS-10. Darum gruppieren sich etliche Drum-Machines, Sampler und Percussion-Pads. Kein Wunder, dass die dritte Platte von LoneLady nach dem Elektro- Dance-Sound der 1980er-Jahre klingt, nach Liedern von damals – kantig, trocken und tanzbar wie Minimal Techno. Dass „Former Things“ dennoch so gar nicht retro, sondern gegenwärtig wirkt, mag an der Stimme von Julie Campbell liegen, die weder skandiert noch lamentiert. Vielmehr wird tänzelnd nachgedacht, durchaus über Vergangenes: über das Ich, das einmal ein anderes war, über Erinnerungen, die sich einschrieben. Aber dies alles in unprätentiöser, unpathetischer Weise, nicht anklagend, sondern fragend. Alleine wird LoneLady damit nicht bleiben, zu sehr lädt „Former Things“ zum Mittanzen ein. Lene Zade

Lxandra
“Careful What I Dream Of”
Universal

 Sie ist auf einer kleinen finnischen Insel aufgewachsen, Einwohner*innen: üppige 800. So „viele“ Personen leben immerhin auf Suomenlinna. Dennoch klingt die Musik der Sängerin Lxandra nach großstädtischem Hussle. Nach Glam, nach Drama, nach Party. Mag daran liegen, dass die 24-Jährige mittlerweile in Berlin lebt und musikalisch ziemlich herumjettet. So wurde die Single „Careful What I Dream Of“, die genauso heißt wie ihr neues Album, in Los Angeles, USA aufgenommen. 

Lxandra macht emotionalen Pop, der viel Raum für ihre große Stimme lässt. Immer wieder hörte sie in der Vergangenheit Vergleiche mit Adele. Doch Lxandras Stimme hat ihr ganz eigenes Timbre. Sie klingt rougher als der große Name aus England. 

Mittlerweile lässt sie auf dem neuen Album auch schrägere und elektronischere Klänge zu. So spielt die Uptempo-Single „Sideways“ gekonnt mit Elektro-Pop der 1970er. Spaß macht sie in jedem Fall: Im Video gibt es auch fürs Auge eine wilde Party mit schrägen Vögeln einer Disco-Nacht in einer finnischen Blockhütte. Auch der Rest des Albums oszilliert zwischen tiefen Emotionen und fetzigen Beat-Nummern. Manchmal droht der Sound etwas austauschbar zu klingen, zu sehr nach globaler Produktion – aber dann kommt wieder Lxandras besondere Stimme hinzu und hält die Hörer*in einfach dabei. Michaela Drenovaković

Tuvaband
“Growing Pains & Pleasures”
Passion Flames

Das international gefeierte Debütalbum der norwegischen Folk-Pop-Band war minimalistisch und ätherisch, der Nachfolger kam gewaltiger, (post)rockiger daher – und wurde für einen Norwegischen Grammy nominiert. Nach zwei Single-Auskopplungen zu Beginn des Jahres hat Singer-Songwriterin Tuva Hellum Marschhäuser nun mit ihrer Tuvaband ein drittes Studio-Album veröffentlicht. „Growing Pains & Pleasures“ ist weniger melancholisch als seine Vorgänger, jedoch monumental, üppig und cineastisch. Dabei vollführt es das Kunststück, weiterhin spröde und zart zu sein. Es ist ein Album der Ambivalenzen. Der Gesang ist warm und gleichzeitig fast rau. Dann berührt er aus kristallenen Höhen bis ins Mark. Sphäre trifft Rhythmus, Hall begleitet das Schlagzeug. Oft stellt sich ein ohrwurmmäßiges Vertrautheitsgefühl ein, gleichzeitig ist alles neu und scheinbar ungehört. Folgt man einem Song zweimal hintereinander, wandelt er seine Gestalt. Einmal stehen Stimme und Lyrics im Vordergrund, dann wieder versinkt beides in der Melodie. Beim nächsten Hören noch einmal umgekehrt. Marschhäuser hat ein sinnliches und kluges Album geschaffen, das man alleine und mit geschlossenen Augen hören und dann wieder als Soundtrack mit sich durch volle Großstadtstraßen tragen möchte: The world is still changing. Now, so am I. Yala Pierenkemper

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/21.