Text: Christian Schmacht
Illustration: Xueh Magrini Troll

CN: In dieser Kolumne setze ich mich mit dem Thema sexualisierte Gewalt auseinander. Bitte gib acht auf dich, während du den Text liest, oder speicher dir die Kolumne ab, um sie an einem anderen Zeitpunkt, der für dich besser geeignet ist, zu lesen.

 

Tamara gießt mir grüne Limonade ins Glas, sie passt zu dem blauen Himmel vor dem Fenster und den roten, herzförmigen Nachttischlampen hier drin. Seit Stunden hängen wir nur rum. Alle paar Minuten klingelt es an der Tür, wir schrecken auf, schlüpfen in unsere Puffstiefel und rennen los. Es kommt aber keine Kundschaft. Fehlalarm. Das Bimmeln rührt daher, dass der Bewegungsmelder draußen falsch eingestellt ist.

Christian Schmacht

Christian Schmacht, geboren 1989, ist queerer Autor und Sexarbeiter. Seine Novelle „Fleisch mit weißer Soße" erschien 2017 bei der Edition Assemblage. Er mag Geld und Sex, aber am liebsten beides zusammen. Er mag es außerdem sehr, das hart verdiente Geld für Luxusartikel auszugeben. Auf Twitter schreibt er unter @hurentheorie.

Wir sehen fern, es kommt „Zwischen Tüll und Tränen“, eine Sendung über Frauen, die ein Brautkleid kaufen wollen. Ich denke an die Schwesta-Ewa-Line „Meine Läufer / bringen Huren Weiß rein, wie Brautkleidverkäufer“. Damit meint sie, dass Dealer Kokain an Prostituierte verkaufen. Ich versuche immer wieder, Tamara von dieser Line zu erzählen, aber mein Gehirn ist voller Blasen, wie die grüne Limo, die wir trinken.

Das ist das Puffsyndrom.

Menschen, die sich um Säuglinge kümmern, kennen ein ähnliches Gefühl unter dem Namen Stilldemenz: Das Gedächtnis wird lückenhaft, die Konzentration schwindet, die Tage fließen dahin. Ein Baby oder ein Freier, sie wollen an deine Brust, Tag und Nacht – und du wirst so schrecklich müde.

Das Puffsyndrom setzt ein, sobald ich einen Ort betrete, an dem ich Sexarbeit machen will. Das gedimmte Licht, die aus jeder Zeit gefallene Einrichtung, die Schminke, die nach Stunden des Wartens wie ein Gipsabdruck auf meinem Gesicht liegt. Mein Kreislauf fährt runter, ich nappe einmal pro Stunde und vergesse nach ein paar Wörtern, was ich sagen wollte. Tamara geht es genauso. Wir starren uns an und suchen nach dem Gesprächsfaden. Dazu der Sound von Frauen, die weinen, als sie sich zum ersten Mal in einem weißen Kleid im Spiegel sehen. Ich habe einen einzigen Kunden in acht Stunden, er zahlt für zwanzig Minuten und kommt nach drei. Nach insgesamt fünf Minuten ist er geduscht und wieder auf dem Weg. Ob bei denen auch eine solche Flaute herrscht wie bei uns?

Wir grübeln: Warum ist das so? Letztes Jahr um diese Zeit war das Business Bombe. Tamara sagt, der Lockdown war so lang, viel länger als letztes Mal, daran liegt es vielleicht.
Ich sage, meinst du echt?
Sie sagt, die Leute haben keine Knete mehr, die sind in Kurzarbeit.
Ich sage, meinst du echt?
Sie sagt, die sind im Homeoffice, die haben keine Ausreden mehr, die können nicht von zu Hause weg.
Ich sage, meinst du echt?
Sie sagt, die haben jetzt monatelang in den Medien gehört, dass wir alle dreckig, eklig und unterdrückt sind, das hat vielleicht Wirkung gezeigt.
Ich sage, meinst du echt?

Wenn sie sagen würde, Aliens sind auf die Erde gekommen und haben alle Freier entführt, würde ich auch sagen: Meinst du echt? An diesem Punkt unserer Unterhaltung will ich nicht mehr zwischen Sinn und Unsinn unterscheiden.

Wir überlegen, wie wir trotz der Flaute Geld verdienen könnten. Uns fällt nichts ein. Zum Spaß machen wir Fotos, ich habe eine Perücke auf und sehe aus wie Courtney Love.

Was mache ich, wenn die Sexarbeit weiterhin so schlecht läuft?

 

Am nächsten Tag will ich meine Haare färben, so grün wie Tamaras Limonade. Der Laden, in dem ich die Farbe kaufe, ist ein Headshop. Groß, steril, überall Bongs. Außer dem Verkäufer, der schlaff und nett ist, habe ich dort noch nie einen anderen Menschen gesehen. Beim Rausgehen sehe ich einen Zettel: Verkäufer*in gesucht. Ich habe mir nicht gemerkt, ob da stand Verkäufer*in oder VerkäuferIn oder Verkäufer (m/w/d). Jedenfalls suchen sie eine Unterstützung auf 450 Euro Basis. Vielleicht der einzige Normalojob, den ich mir zumuten könnte: untätig hinter dem Verkaufstresen sitzen und ab und zu mal eine Bong an schlaffe, nette Kiffer*innen verkaufen. Aber was soll ich mit 450 Euro? Das ist gerade mal meine Miete.

Neben dem Kifferladen hängt ein Plakat, das informiert: In dem Imbiss ein paar Häuser weiter arbeitet ein Typ, der oft Menschen, die er auch nur vage für Frauen hält, anmacht. Also „anmacht“ im Sinne von „einen Übergriff verübt“. Ich habe dort auch schon einen sexualisierten Übergriff erlebt und als ich Bekannten davon erzählte, sagten die: Ja klar, weiß doch jede*r. Ich freue mich, dass es jetzt eine offizielle Warnung gibt. Auf dem Plakat steht, der Chef des Imbisses hatte keine Lust, den übergriffigen Mitarbeiter rauszuwerfen. Außerdem hat der Täter auch Leute gefragt, ob sie für Geld mit ihm Sex haben würden. Das hat nichts mit Sexwork zu tun, in einer solchen Situation weiß der Täter genau, dass sich die Betroffenen mit dieser Frage unwohl fühlen. Er arbeitet schließlich in einem Imbiss und nicht in einem Puff. Die Plakate werden zügig abgerissen, aber genauso zügig wieder aufgehängt. Einige Tage später verkündet der Chef, dass er den übergriffigen Mitarbeiter dann doch rausgeschmissen hat.

In meiner Stadt ist seit ein paar Jahren Outingphase. Regelmäßig werden Täter*innen geoutet, im Internet, auf Plakaten, in Texten, per Mund-zu-Mund-Propaganda. Mensch könnte denken, hier ist ein Sündenpfuhl aus sexualisierter Gewalt, eine Stadt der Täter*innen. Aber ich glaube, hier ist es so wie überall. Nur haben in diesem Moment und an diesem Ort mehr und mehr Betroffene die Möglichkeit, die Taten und Strukturen öffentlich zu machen. Manche sagen, es ändert sich trotzdem nichts. Und das stimmt irgendwie, denn die Gewalt ist weder beendet noch aufgearbeitet.

Vor einem Jahr habe ich zuletzt über sexualisierte Gewalt geschrieben. Ein paar Leute waren unzufrieden. Sie sehnen sich zwar nach kollektiven Umgängen mit sexualisierter Gewalt, aber meine Ideen fanden sie nicht gut. Ich hatte die Situation von Personen in romantischen Zweierbeziehungen mit der Situation von Sexarbeiter*innen verglichen. Wir Sexworker*innen wissen, dass eine intime Begegnung unser Gegenüber auf komische Gedanken bringen kann. Deshalb versuchen wir, uns zu schützen. Meine Kritiker*innen sagten, ich betreibe Victim-Blaming und gäbe Menschen die Schuld dafür, dass sie in ihrer Kindheit Gewalt erfahren hätten. Das habe ich nicht geschrieben. Mein Text sprach an, dass wir als Huren Wissen und Erfahrungen mit anderen Feminist*innen teilen können, die ihnen dabei helfen, ihre heteronormativen Beziehungen zu hinterfragen und zu verändern. Vielleicht fühlt es sich unangenehm an, sich mit Sexarbeiter*innen zu identifizieren. Doch ein Nuttenmindset kann uns alle weiterbringen. Weil wir ja sowieso wie Nutten behandelt werden. Die einen mehr, die anderen weniger. Also besser akzeptieren, dass wir Nutten sind, und gucken, was wir daraus machen können.

Die sexualisierte Gewalt ist nichts, was nur dem Individuum angetan wird. Und diese Gewalt sollten wir als etwas sehen, das uns kollektiv einschränkt, zurückhält und uns spaltet.

Das hab ich schon 2017 erwähnt, in meinem Buch „Fleisch mit weißer Soße“, als ich beschrieb, wie wir uns im Puff gegenseitig unterstützen, wenn eine Person etwas Unangenehmes mit einem Kunden erlebt hat. Die Kolleg*innen halten sich nicht mit Victim-Blaming auf, nicht mit Schuldfragen, sondern sehen zu, dass die betroffene Person wieder klarkommt.

Auch Schwesta Ewa erzählt etwas Ähnliches in der Dokureihe „Schwesta Ewa. Rapperin. Häftling. Mutter“. Egal, wie sehr sich Sexarbeiter*innen im Laufhaus oder auf dem Strich untereinander hassen, wenn ein Freier eine von ihnen angreift, dann prügeln sie den alle gemeinsam weg. Weil, was die eine Nutte betrifft, das betrifft auch ganz schnell alle anderen.

Und das ist der Schlüssel: Wie sollen wir kollektivistisch damit umgehen, dass Einzelne betroffen sind? Wir müssen verstehen, dass es niemals Einzelne sind. Dass zwar eine Person die sexualisierte Gewalt abbekommt, aber ein ganzer Kreis, eine ganze Community darunter leiden wird. Es ist ein kollektives Problem.

Jedes Outing ist ein Sandkorn. Mehr und mehr Sandkörner bilden einen Boden, der irgendwann zu Erde wird. In diese Erde bohren sich Wurzeln, daraus wachsen Pflanzen, ein Wald, eine veränderte Stadt. Ein unsichtbares Myzel durchdringt vielleicht schon bald die Straßen. Menschen, die einander als Betroffene oder Unterstützer*innen wiedererkennen, nicken sich zu. Niemand fühlt sich zu cool, um zu supporten. Informationen gehen von Hand zu Hand. Wie wir Sexarbeiter*innen es mit gewalttätigen Freiern machen, so schreiben auch sie die Täter*innen, die sich nicht ändern wollen, auf Listen. Über Cliquen, Gruppen, Grabenkämpfe hinweg vernetzen sich die Betroffenen. Ihre Macht ist wie ein schmelzender Gletscher: erst Tropfen, erst Sandkörner. Später eine Lawine, ein Wald.